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Umfrage zur Digitalisierung in der Arbeitsmedizin

Survey on Digitalization in Occupational Medicine

Entwicklung der Digitalisierung in der Arbeitsmedizin

Die Digitalisierung beeinflusst die Arbeitswelt auf allen Ebenen. Sie verändert Arbeitsprozesse, -inhalte und die Formen der Zusammenarbeit. Auch der arbeitsmedizinische Alltag passt sich zunehmend an die digitalen Möglichkeiten an. Befunde werden digital übermittelt und per Videokonferenz besprochen. Betriebsbegehungen können ohne dauerhafte Anwesenheit der arbeitsmedizinischen Kolleginnen und Kollegen durchgeführt werden.

Dieses Vorgehen wurde durch die entsprechenden Rahmenbedingungen ermöglicht, die im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung geschaffen wurden: Die ärztliche Musterberufsordnung erlaubt seit 2015 die Verwendung telemedizinischer Methoden in der medizinischen Versorgung nach bereits erfolgtem Erstkontakt. Die aktuelle Beschlussfassung der Bundesärztekammer von Mai 2021 setzt die Schwelle zur Telemedizin niedriger und erlaubt eine „ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien“ unter Beachtung der ärztlichen Abwägung und Sorgfalt sowie Dokumentation und Aufklärung (Bundesärztekammer 2021). So gibt es einerseits zunehmend arbeitsmedizinische Dienstleister, die eine rein digitale Zusammenarbeit mit den Betrieben anbieten oder zumindest Telearbeitsmedizin in ihr Angebot aufnehmen. Diese Aspekte der Digitalisierung erhielten durch die Corona-Pandemie und die damit verbundene Notwendigkeit, die physischen Kontakte zu minimieren, einen erheblichen Auftrieb.

Die Schaffung der gesetzlichen Rahmenbedingungen bedeutet nicht, dass digitale Strukturen und Anwendungen in der Arbeitsmedizin bereits flächendeckend umgesetzt werden. Da für deren erfolgreichen Einsatz auf Seiten aller Beteiligten (Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner, Betriebe, Beschäftigte, ggf. arbeitsmedizinische Dienste) die Bereitschaft für Veränderungsprozesse erforderlich ist, kann der Digitalisierungsgrad des arbeitsmedizinischen Alltags stark variieren.

Aufbau der Umfrage

Um einen Eindruck über den Status der Digitalisierung im arbeitsmedizinischen Alltag zu gewinnen, wurde eine deutschlandweite Befragung von Arbeitsmedizinerinnen/Arbeitsmedizinern und Betriebsärztinnen/Betriebsärzten durchgeführt. Unabhängig von den geltenden juristischen Rahmenbedingungen oder den Herausforderungen der technischen Standardisierung der Digitalisierung ergibt sich somit ein Eindruck der Umsetzung digitaler Möglichkeiten in der Arbeitsmedizin in Deutschland.

Die Kernfragen waren:

  • Wo liegen Chancen und Risiken digitaler Strukturen und Anwendungen?
  • Inwieweit werden digitale Strukturen und Anwendungen bereits genutzt?
  • Wo sehen die Befragten weiteres Potenzial für digitale Strukturen und Anwendungen in der Arbeitsmedizin?
  • Aufbauend auf einer im Jahr 2017 durchgeführten Befragung im Rahmen des Modellvorhabens „Gesund arbeiten in Thüringen“ (Sedlaczek et al. 2017) wurde in Zusammenarbeit mit der DGAUM-Fachgesellschaft ein neuer Fragebogen unter anderem mit Fragen zum Themenkreis Digitalisierung erarbeitet.

    Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden die Ergebnisse zu Fragen über individuelle Einstellungen und Einschätzungen zur Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen im arbeitsmedizinischen Alltag berichtet.

    Umsetzung und Teilnehmende

    Die Querschnittsstudie wurde im November und Dezember 2021 durchgeführt und richtete sich an alle im arbeitsmedizinischen Bereich tätigen Ärztinnen und Ärzte. Der Fragebogen wurde mittels eines Online-Umfrage-Tools umgesetzt und über die Fachgesellschaften, den E-Mail-Verteiler des „ArbMedNet“, so­ziale Medien und die ASU beworben und verbreitet. Die entstandenen Daten wurden mit SPSS 29 deskriptiv ausgewertet.

    Nach Bereinigung der Daten wurden die Datensätze von 265 Befragten in die Auswertung aufgenommen. Das Durchschnittsalter lag bei 51,3 Jahren und 57 % der Befragten waren weiblich (42 % männlich; 1 % divers). Die Qualifikation in der Arbeitsmedizin befand sich bei über 70 % der Befragten auf Facharztniveau (➥ Tabelle 1). Eine zweite Facharzt­ausbildung besaßen über 60 % der Befragten, diese bestand überwiegend in den Bereichen Allgemeinmedizin oder Innere Medizin.

    Die Beschäftigungsform der arbeitsmedizinischen Tätigkeit umfasste zu jeweils einem knappen Drittel das Angestelltenverhältnis im überbetrieblichen Dienst (34,3 %), einer werksärztlichen Tätigkeit innerhalb eines Unternehmens (31,7 %) sowie die selbstständige Niederlassung (30,9 %). Die übrigen 7,4 % waren in Behörden, bei Unfallversicherungsträgern oder in wissenschaftlichen Instituten tätig. Die Gesamtdauer der arbeitsmedizinischen Tätigkeit umfasste im Schnitt 14,3 Jahre. Dabei arbeiteten 64,2 % in Vollzeit (≥ 35 Wochenstunden), 31,2 % in Teilzeit (15–34 Wochenstunden) und 3,4 % stundenweise (≤ 14 Wochenstunden).

    Technikbereitschaft

    Um einen Eindruck über die Einstellung zum Umgang mit digitaler Technik im Allgemeinen zu gewinnen, wurde zunächst die Technikbereitschaft der Befragten nach Neyer et al. (2012) ermittelt. Die Skala zur Technikbereitschaft umfasst 12 Items, die drei Dimensionen abbilden. Die Dimension Technikakzeptanz erreichte auf einer 5-stufigen Zustimmungsskala einen Mittelwert von 3,34 (SD = 0,91), Technikkompetenzüberzeugungen einen Mittelwert von 4,31 (SD = 0,71) und die Dimension Technikkontrollüberzeugungen einen Mittelwert von 3,6 (SD = 0,86). Insgesamt weichen die Werte der drei Dimensionen kaum von denen einer Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (2022) unter (tendenziell technikaffinen) niedergelassenen Ärztinnen/Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten ab. Ebenso unterscheiden sie sich kaum von denen in den Validierungsstichproben (Neyer et al. 2012). Dies spricht dafür, dass es zumindest in diesem Kollektiv kein auffälliges Profil hinsichtlich der Einstellung zum Einsatz von Technologien gab, das sich auf den Einsatz der digitalen Strukturen und Anwendungen auswirken könnte.

    Abb. 1:  Chancen durch die Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Abb. 1: Chancen durch die Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Chancen durch digitale Strukturen und Anwendungen

    Zu den Chancen durch die Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen wurden 15 verschiedene Aspekte bewertet, die in der Auswertung ebenfalls drei Dimensionen zugeordnet wurden: Verbesserung bei der Qualität der Prozesse, der Ergebnisse und der Strukturen. In ➥ Abb. 1 ist zu sehen, dass die größten Chancen der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen im Bereich der Prozessoptimierung gesehen wurden: Jeweils über zwei Drittel der Befragten stimmten zu, dass Fahr- und Wartezeiten reduziert und Befunde einfacher übermittelt werden könnten. Im Bereich der Ergebnisqualität sahen knapp die Hälfte der Befragten die Chance auf effizientere Behandlungsabläufe, direkt gefolgt von einer höheren eigenen Arbeitszufriedenheit. Die Qualität der Strukturen wurde über einen Aspekt abgebildet, der die Bewertung der Chance auf einen geringeren Personalbedarf beinhaltete. Diesem stimmten 31,2 % der Befragten zu.

    Kritische Aspekte digitaler ­Strukturen und Anwendungen

    In diesem Bereich wurden 13 kritische Aspekte der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen bewertet, die in vier Dimensionen unterteilt wurden: rechtliche Aspekte, Aufwand, Rahmenbedingungen und Akzeptanz und Beziehungen (➥ Abb. 2). Hierbei stimmte jeweils über die Hälfte der Befragten zu, rechtliche Aspekte (Datenschutz, Schweigepflicht und Haftungsrecht) kritisch zu sehen. Ebenfalls über die Hälfte der Befragten sah den Aufwand bei der Einführung digitaler Strukturen als negativen Faktor an. Die Rahmenbedingungen im Sinne der Benutzerfreundlichkeit der Software und der technischen Ausstattung und Möglichkeiten sahen über 40 % kritisch, zu geringeren Anteilen die eigene technische Ausstattung und die eigenen Kenntnisse. Die Akzeptanz bei den Betrieben und deren Beschäftigten sowie die Verschlechterung der Arzt-Patienten-Beziehung wurde mit je einem knappen Drittel relativ gesehen als weniger kritisch betrachtet.

    Ergänzend gab es zu dieser Thematik eine Frage nach dem Haupthindernis für die Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen. Hierzu gab es vier Auswahlmöglichkeiten, unter denen sich kein einheitliches Bild ergab: Als größtes Hindernis nannten 32 % der Befragten die Betriebe, 30 % die Beschäftigten, 22 % sich selbst und 16 % den arbeitsmedizinischen Dienst, für den sie tätig waren.

    Abb. 2:  Kritische Aspekte der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Abb. 2: Kritische Aspekte der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Aktuelle Nutzung und Perspektiven der Digitalisierung

    Der abschließende Fragenkomplex umfasste die Bewertung von neun Anwendungsfällen digitaler Strukturen und Anwendungen im arbeitsmedizinischen Alltag. Die Befragten gaben dabei an, inwiefern verschiedene digitale Strukturen und Anwendungen bereits genutzt wurden und welche dieser Bereiche Potenzial zur zukünftigen Nutzung hätten (➥ Abb. 3). Die Anwendungsfälle gliedern sich in die Bereiche Arbeitsorganisation, Interaktion und inhaltliche Nutzung. Bei der Abfrage nach der aktuellen Nutzung zeigte sich, dass über drei Viertel der Befragten digitale Strukturen und Anwendungen in der eigenen Arbeitsorganisation oder im Betrieb einsetzen. Der überwiegende Teil der Befragten gab weiterhin an, digitale Strukturen und Anwendungen in der Interaktion mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen (71,8 %) und Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern (58,8 %) zu verwenden. In der Interaktion mit Akteuren des Arbeits- und Gesundheitsschutzes oder Beschäftigten kamen digitale Strukturen und Anwendungen weniger zum Einsatz (30 %). Die inhaltliche Nutzung im Sinne von speziellen webbasierten Anwendungen oder Apps durch Beschäftigte oder Beteiligte in der Arbeitsmedizin erfolgte am wenigsten.

    Die gleichen Anwendungsfälle in den Bereichen Arbeitsorganisation, Interaktion und inhaltliche Nutzung wurden daraufhin erneut abgefragt, diesmal hinsichtlich einer perspektivischen Nutzung. Hierbei wurde deutlich, dass die Befragten in allen Bereichen weiteres Potenzial für die Zukunft sahen. Den Angaben zufolge bestehen die größten Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich der Interaktion, mit anteilig jeweils über 60 %. Diese bezogen sich vor allem auf die bisher wenig genutzten Bereiche der Kommunikation mit den Akteuren des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der Interaktion mit den Beschäftigten. Am deutlichsten zeigte sich die Diskrepanz zwischen bisheriger und perspektivischer Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen im Bereich der inhaltlichen Nutzung. Der Anteil der Befragten, der sich eine Verwendung arbeitsmedizinischer Anwendungen beziehungsweise Apps für das betriebliche Gesundheitsmanagement vorstellen konnte, war jeweils etwa fünfmal so hoch ist wie der Anteil derer, die dies schon taten.

    Zusammenfassung und Diskussion

    In der Umfrage ließ sich in Bezug auf die Digitalisierung in der Arbeitsmedizin ein interessantes Stimmungsbild bezüglich der Chancen und kritischen Aspekte sowie der aktuellen und perspektivischen Nutzung gewinnen. Nicht zuletzt durch die Maßnahmen während der Pandemie hat die Digitalisierung in der Arbeitsmedizin einen Aufschwung erfahren und hatte sich zum Zeitpunkt der Befragung (Ende 2021) in verschiedenen Bereichen unterschiedlich stark etabliert. Hinsichtlich der Interpretation der Ergebnisse ist einschränkend anzumerken, dass sich aufgrund der Stichprobengröße und -zusammensetzung keine repräsentativen Angaben über den Status der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen in der Arbeitsmedizin ableiten lassen. Es ist davon ausgehen, dass sich bevorzugt diejenigen an der Umfrage beteiligt haben, die sich bereits mit dem Thema Digitalisierung auseinandergesetzt haben und zusätzlich bereit sind, eine Online-Befragung auszufüllen. Insofern lassen sich lediglich Aussagen über diese „Early Adopters“ in der Arbeitsmedizin treffen. Bei der Bewertung der Ergebnisse ist weiterhin zu berücksichtigen, dass der Zeitpunkt der Befragung bereits 1,5 Jahre zurückliegt und sich Angebot und Nutzungsverhalten digitaler Strukturen und Anwendungen seitdem weiterentwickelt haben.

    Die Chancen der Digitalisierung werden vor allem in verbesserten Prozessabläufen gesehen. Dies deckt sich mit den Angaben zur bisherigen Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen, die hauptsächlich im thematisch verwandten Bereich der Arbeitsorganisation stattfindet. Von den kritischen Aspekten der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen führten vor allem die sich ergebenden rechtlichen Fragen zu Bedenken bei den Teilnehmenden der Befragung. Da Gesundheitsdaten sehr sensitiv sind, zumal im betrieblichen Umfeld, ist dieser Aspekt höchst relevant. Es gibt jedoch zunehmend technische und organisatorische Möglichkeiten, um der rechtlichen Problematik Rechnung zu tragen, zum Beispiel sowohl über die Vergabe eines individuellen Berechtigungs- und Zugangsstatus als auch durch die Entscheidung durch den zu Untersuchenden selbst, wer welche seiner Daten einsehen darf. Passend zu unserer Umfrage werden die Abwägungen der Chancen und Risiken, Fragen der juristischen Rahmenbedingungen, der technischen Anbindung (Konnektivität, Anbindung an die Telematik­infrastruktur) sowie der Evidenz der Maßnahmen und damit der wissenschaftlichen Begleitung in aktuellen Stellungnahmen als wichtig diskutiert (Nesseler 2022).

    Die kritische Bewertung des Aufwands bei der Einführung digitaler Strukturen und Anwendungen erscheint plausibel, da diese die Bereitschaft und das Zusammenspiel aller Beteiligten (Arbeitsmedizinerinnen/-mediziner, Betriebe, Beschäftigte, ggf. arbeitsmedizinische Dienste) erfordert. In diesem Zuge müssen gegebenenfalls eine Einarbeitung und eine Anpassung an neue Systeme und Bedingungen erfolgen sowie (vorübergehend) Doppelstrukturen von analogen und digitalen Daten gepflegt werden. Die genannten kritischen Aspekte bei der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen sind somit auf verschiedenen Ebenen nachvollziehbar und werden im arbeitsmedizinischen Alltag weiterhin eine Herausforderung darstellen. Ergänzend ist hier anzuführen, dass auch die weniger häufig genannten Aspekte, etwa die fehlende Akzeptanz oder verschlechterte Beziehungen im Arzt-Patienten-Verhältnis, nicht ignoriert werden sollten.

    Hinsichtlich der bisherigen Nutzung werden digitale Strukturen und Anwendungen überwiegend in der Arbeitsorganisation und in der Interaktion mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eingesetzt. Dies ist insofern nachvollziehbar, als die einfache Kommunikation einen niederschwelligen und rechtlich wahrscheinlich als weniger kritisch angesehenen Einsatz digitaler Anwendungen darstellt. Der geringe inhaltliche Einsatz ist vergleichsweise mit höheren Hürden verbunden, da sich hier viel mehr und weiter zunehmende Nutzungsmöglichkeiten mit mehr Abstimmungsbedarf ergeben, die Vorgehensweisen bisher weniger standardisiert sind und die Gewährung der Rechtssicherheit nicht immer klar ist. Da sich die „Landschaft“ digitaler Gesundheitsanwendungen zudem insgesamt gerade sehr schnell entwickelt und ausdifferenziert, lässt sich sowohl die bisher geringe Nutzung zum Zeitpunkt der Befragung Ende 2021 als auch das hohe Potenzial der zukünftigen erweiterten Anwendungen erklären. In der eingangs genannten Umfrage zur Telemedizin in der Arbeitsmedizin von 2017 (Sedlaczek et al. 2017) gaben bereits 80 % der Befragten an, dass die Bedeutung von telemedizinischen Kommunikationsverfahren in der Arbeitsmedizin (sehr stark oder etwas) zunehmen würde. Nur 28 % der Befragten schätzen, dass Telemedizin von den Kundinnen und Kunden bzw. Klientinnen und Klienten akzeptiert werden würde. In der aktuellen Befragung wurden diese Befürchtungen nicht mehr so stark gesehen. Wahrscheinlich haben die Erfahrungen im Zuge der Corona-Pandemie dazu beigetragen, die diese Wahrnehmung klar zum Positiven zu verändern. Damals stimmten 40 % der Befragten zu, dass spe­zielle Gesundheits-Apps die Prävention verbessern könnten.

    Ausblick

    Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass die Digitalisierung ihre eigene Zufriedenheit erhöhen könnte, was sicher im Zusammenhang mit der Erwartung einer höheren Effizienz der Prozesse steht. Ein gut funktionierendes, anwenderfreundliches System spart Zeit und weitere Ressourcen. Gleichwohl gibt es in diesem Bereich ein erhebliches Entwicklungspotenzial, das beispielsweise in der Anwenderfreundlichkeit besteht. Einerseits wird dies deutlich, da 45% der Befragten die schlechte Usability der digitalen Strukturen und Anwendungen als kritisch betrachten, andererseits dadurch, dass nur ein knappes Drittel der Befragten in der Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen die Chance auf einen verringerten Personalbedarf sieht. Weitere vorstellbare Problemstellungen bestehen in ungenügendem Wissen der Anwendenden sowie dem Mangel an ausreichender Schulung und Training. Mit der DIN EN ISO 9241 Teil 11 wird mittlerweile bei Software-Qualität daher auch der Begriff Gebrauchstauglichkeit oder auch Usability verwendet. Jede/jeder arbeitsmedizinische Anwendendende sollte sich genau überlegen, welche Prozesse in seinem System abgebildet werden sollen und was er genau benötigt, um in einen konstruktiven Dialog mit den Anbietern zu gehen. So findet er das für sein Umfeld passende System. Auch ein Digitalverantwortlicher im Team kann helfen, die Strukturen aufzubauen und Wissen weiterzugeben.

    Für die inhaltliche Nutzung von digitalen Anwendungen wurde das Potenzial von den Befragten durchaus gesehen, aber wenig eingesetzt. Insbesondere im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements ließen sich auch in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen digitale Gesundheitsangebote entwickeln und erweitern. Ergänzend könnte hier ein weiterer Mehrwert entstehen, indem die Möglichkeit genutzt wird, anonymisierte Daten zu analysieren und so den Erfolg oder Verlauf bestimmter Gesundheitsmaßnahmen zu betrachten. Um die digitalen Möglichkeiten umfassend ausschöpfen zu können, bedarf es der Zusammenarbeit und einer sich zunehmend entwickelnden Digitalkompetenz in der deutschen Gesundheitsgesellschaft. Ein idea­lerweise gemeinsamer Wissensstand dieser Akteure bedeutet einen gewissen Aufwand und benötigt eine proaktive Haltung, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und zu lernen. Dazu müssen auch Training und Ausbildungen angepasst werden. Gleichzeitig ist das Gesamtbild im Auge zu behalten, um durch die Bildung von sogenannten „Datensilos“ keinen weiteren, unnötigen Aufwand in den Prozessabläufen zu generieren. „Datensilo“ bedeutet, dass Daten einzelner Parteien nicht mit denen anderer Akteure verbunden sind, der Datenaustausch somit gestört ist und der Datenfluss immer wieder unterbrochen wird. Ein Beispiel in der Arbeitsmedizin wären digital erhobene Daten aus der Arbeitssicherheit, wie Gefährdungsbeurteilungen: Oft haben Ärztinnen und Ärzte keinen direkten Zugang zu den hinterlegten Dokumenten, gerade in kleineren Betrieben, wenn Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin nicht das gleiche digitale System nutzen. Traditionell sind diese Datensilos durch parallel geführten Papierakten entstanden, durch deren Digitalisierung deren Zusammenführung jedoch verhältnismäßig einfach und gewinnbringend wäre. Die Interoperabilität – die Fähigkeit, zum funktionierenden Zusammen- und Wechselspiel der verschiedenen Systeme und Akteure – wird durch die Schaffung beziehungsweise Aufrechterhaltung von Datensilos stark beeinträchtigt. Es bedarf verstärkter Zusammenarbeit und des Einführens technischer Möglichkeiten über Schnittstellen, Berechtigungen oder sichere Kommunikationsstrukturen, um die Daten auszutauschen. In Bezug auf die Einbindung der Arbeitsmedizin in die Telematik-Infrastruktur, sicher ein großer Fortschritt in Bezug auf Datensparsamkeit und Ressourcenschonung, eröffnet sich eine weitere Herausforderung der Anschlussfähigkeit arbeitsmedizinischer Systeme an kurativ arbeitende medizinische Strukturen.

    Fazit

    Insgesamt zeigt sich eine positive Bereitschaft der „Arbeitsmedizin“, Digitalisierung konstruktiv im Arbeitsalltag um- und einzusetzen. Durch Ausräumen der Unsicherheiten und Ausschöpfen der weiteren Potenziale könnten digitale Strukturen und Anwendungen die arbeitsmedizinische Tätigkeit weiter unterstützen.

    Interessenkonflikt: Die Autorinnen und der Autor geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

    Literatur

    Bundesärztekammer: (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997, in der Fassung des Beschlusses des 124. Deutschen Ärztetages vom 5. Mai 2021 in Berlin. Deutsches Ärzteblatt 2021; 118 (23): §7 Absatz 4.

    DIN e.V. (Hrsg.): DIN EN ISO 9241-11: Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 11: Gebrauchstauglichkeit: Begriffe und Konzepte. Berlin: Beuth Verlag, 2018.

    Nesseler T: Wie sieht die Arbeitsmedizin der Zukunft aus? ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 678–682.

    Neyer FJ, Felber J, Gebhardt C: Entwicklung und Validierung einer Kurzskala zur Erfassung von Technikbereitschaft. Diagnostica 2012, 58: 87–99.

    Sedlaczek S, Schöne K, Rose DM, Letzel S: Umfrage: Telemedizin in der Arbeitsmedizin. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 439–445.

    doi:10.17147/asu-1-273032

    Weitere Infos

    Kassenärztliche Bundesvereinigung: KBV-Zukunftspraxis: Projektbericht „Digitale Innovationen im Praxistest“ – die Ergebnisse, 2022
    https://www.kbv.de/media/sp/KBV-Zukunftspraxis_Bericht_WEB.pdf

    Abb. 3:  Aktuelle und perspektivische Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Abb. 3: Aktuelle und perspektivische Nutzung digitaler Strukturen und Anwendungen

    Kernaussagen

  • Auf Basis der Befragungsdaten von 265 betriebsärztlich tätigen Personen lässt sich festhalten, dass sich der Einsatz digitaler Strukturen und Anwendungen in der Arbeitsmedizin noch nicht umfassend etabliert hat.
  • Die Chancen der Digitalisierung werden vor allem in verbesserten Prozessabläufen gesehen, kritische Aspekte bestehen hauptsächlich in rechtlichen Fragen.
  • Digitale Strukturen und Anwendungen werden überwiegend in der Arbeitsorganisation und in der Interaktion mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eingesetzt.
  • Themenübergreifend wird weiteres Nutzungspotential digitaler Strukturen und Anwendungen gesehen, vor allem aber in der Interaktion mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz und ­Beschäftigten sowie der inhaltlichen Nutzung mittels digitaler Anwendungen.
  • Demzufolge sind die Möglichkeiten der Digitalisierung, die arbeitsmedizinische Tätigkeit zu unterstützen, noch längst nicht ausgeschöpft.
  • Info

    Die AG Next Generation der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin e.V. (DGAUM)

    Alle Autorinnen und der Autor sind Mitglieder der AG Next Generation der DGAUM. Diese Arbeitsgruppe befasst sich mit zukunftsweisenden Themen innerhalb der Arbeitsmedizin. Dabei schließt der Begriff „Next Generation“ den arbeitsmedizinischen Nachwuchs ebenso mit ein wie Personen aus angrenzenden Disziplinen sowie Medizinerinnen und Mediziner, die sich erst im späteren Verlauf ihrer Biografie für die Arbeitsmedizin entschieden. Im weiteren Sinn bezieht sich die „Next Generation“ auch auf die Disziplin der Arbeitsmedizin, die sich zum Beispiel durch politische und gesellschaftliche Veränderungen neuen Herausforderungen stellen und sich gegebenenfalls an diese anpassen muss. In diesem Kontext ist der vorliegende Beitrag erschienen.

    Für diejenigen, die in der Arbeitsmedizin Fuß fassen möchten, bietet die AG Next Generation ein Mentoring-Programm an, in dem kontinuierlich Mentees und Mentorinnen/Mentoren aufgenommen werden. Interessierte finden weitere Informationen unter https://www.dgaum.de/themen/arbeitsgruppen/.

    Koautorinnen und Koautor

    Priv.-Doz. Dr. med. Rüdiger Stephan Görtz
    MHBA, B·A·D GmbH, Erlangen

    Dr. med. Stefanie Brümmer-Smith
    Oracle Cerner GmbH, Berlin

    Dr. med. Anna Wolfschmidt
    Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen

    Dr. med. Eva Dahlke
    B·A·D GmbH, Bonn

    Kontakt

    Amanda Sophie Voss, M.A.
    Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Henkestraße 9–11; 91054 Erlangen

    Foto: privat

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

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