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Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 10.02.2022 – 17 Sa 57/21

Kündigungszustimmung des ­Integrationsamtes ersetzt kein BEM

Consent to Termination of the Office of Integration Does not Replace BEM (Occupational Integration Management)

Recht  Bisher wird in Literatur und Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet, unter welchen Bedingungen ein neuerliches betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) erforderlich ist und ob es durch die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeit­nehmers1 ersetzt werden könne. Dies verneint die Kammer und fordert bei erneutem Vorliegen der Bedingungen des § 167 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IV auch unterjährig ein erneutes BEM. Reinhard Holtstraeter

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung und einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin war ab dem 1. Januar 1999 bei der Beklagten als Versicherungssachbearbeiterin in Teilzeit mit 20 Wochenstunden zu einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von zuletzt 2105,75 Euro beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in S. weit mehr als zehn Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung sind im Betrieb gebildet.

Die Klägerin war vom 12. Dezember 2014 an bis zum 27. Mai 2020 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Am 21. Februar 2019 stellte die Klägerin sich auf Aufforderung der Beklagten beim Betriebsarzt vor, der keine eigene Untersuchung durchführte, sondern zunächst die Vorlage sämtlicher Arztberichte und Befunde forderte, keine Auskunft zu den von ihm vorgesehenen Untersuchungen und hierfür benötigten Informationen gab und den Vorschlag der Klägerin, dass er Kontakt mit der behandelnden Ärztin aufnehme, ablehnte.

Am 24. Mai 2019 fand auf Initiative der Klägerin ein Präventionsgespräch statt, an dem auch Mitarbeiterinnen des Integrations­amts teilnahmen. Mit Schreiben vom 24. Mai 2019 lud die Beklagte die Klägerin zu einem BEM ein. Die Klägerin teilte mit, dass sie teilnehmen wolle, sie unterzeichnete aber die ihr diesbezüglich übermittelte datenschutzrechtliche Einwilligung nicht, sondern stellte Rückfragen und wählte eigene Formulierungen. Hierauf erhielt die Klägerin mit Schreiben vom 25. Juni 2019 eine Einladung zu einem Gespräch am 24. Juli 2019. In diesem Gespräch wurde die Klägerin von der Beklagten darauf hingewiesen, dass ohne Unterschrift der von der Beklagten formulierten Datenschutzerklärung ein BEM-Verfahren nicht durchgeführt werden könne. Das BEM-Verfahren wurde in der Folge nicht fortgesetzt, ein weiteres BEM wurde nicht mehr angeboten.

Auch danach wies die Beklagte die Klägerin mehrfach, zuletzt in einem Gespräch vom 27. August 2019, darauf hin, dass eine Durchführung eines BEM ohne die datenschutzrechtliche Einwilligung nicht möglich sei. Zwischen dem 28. November 2018 und dem 16. Dezember 2019 stellte die Klägerin sechs Wiedereingliederungsanträge. Hiervon kam nur aus dem Plan vom 13. September 2019 eine Wiedereingliederung zustande, die vom 17. September 2019 bis zum 29. Oktober 2019 dauerte. In dieser Zeit wurde der Klägerin ein höhenverstellbarer Schreibtisch,
nicht aber ein Einzelbüro oder ein sogenanntes Active Noise Cancelling Headset zur Verfügung gestellt.

Mit Schreiben vom 22. November 2019 (Blatt 114 bis 126 ArbG-Akte) hörte die Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung der Klägerin an. Mit Schreiben vom 25. November 2019 teilte der Betriebsrat der Beklagten mit, dass er den Vortrag der Beklagten zur beabsichtigten Kündigung der Klägerin zur Kenntnis genommen und sich nicht weiter zum Kündigungsvortrag äußern werde. Mit Antrag vom 10. Dezember 2019 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung der Klägerin, die mit Bescheid vom 18. Mai 2020 erteilt wurde.

Im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt wurde eine Stellungnahme der die Klägerin behandelnden Ärztin vom 4. März 2020 eingeholt, die auszugsweise lautete:

„Wie bei jeder chronischen Erkrankung ist aus ärztlicher Sicht keine Verlaufsprognose voraussagbar. Chronische Erkrankungen sind von multiplen Faktoren abhängig. Es wird, wie bei vielen Arbeitnehmern mit chronischen Erkrankungen, auf das Arbeitsumfeld und die Arbeitsplatzfaktoren, welche, aus ärztlichen Erfahrungen, auf die Stabilisierung und den Verlauf, einen entscheidenden Einfluss haben, hingewiesen (…). Die erwartete Leistungsfähigkeit wäre durch eine gute Zusammenarbeit und Unterstützung sicherlich zu erzielen. Bei der Teilzeitbeschäftigung und in Anbetracht der Langzeiterkrankung und Einschränkungen werden Möglichkeiten für Schulungen und Qualifizierungen empfohlen (…). Für die Rückführung, stufenweise Erlangung der Arbeitsfähigkeit, wurden Wiedereingliederungen und Verlängerungen ausgestellt (…). Allgemeine, weitere Faktoren, welche berücksichtigt, vermindert, auszuschließen wären: Psychische Belastungsfaktoren, Anpassung der Aufgabenbereich, regelmäßige, kurze Pausen, ausreichende Zeitfenster für Übungen und praktische Routine, die wöchentliche Teilzeitarbeit auf 2–3 Tage zu verlagern und die Wiedereingliederung auf täglich 4 h durchzuführen.“

Mit Schreiben vom 26. Mai 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. Dezember 2020. Mit der am 9. Juni 2020 bei Gericht eingegangenen Kündigungsschutzklage machte die Klägerin geltend, die Kündigung sei unwirksam und verlangt Weiterbeschäftigung. Das Arbeitsgericht (ArbG) hat die Klage abgewiesen, weil es sich von einer negativen Prognose überzeugt zeigte und erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen annahm.

Gegen das Urteil des ArbG hat die Klägerin am 17. Juni 2021 Berufung eingelegt und im Rahmen der Berufungsbegründung die der Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegenden Diagnosen offengelegt. Danach lagen bei ihr insbesondere folgende Beeinträchtigungen vor: Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Schulter-Arm-Syndrom, Depression, psychovegetative Störungen, chronisches Schmerzsyndrom, Kopfschmerzsyndrom, Bronchialasthma, Gebrauchseinschränkung beider Beine, Ohrgeräusche beidseitig (Tinnitus), Schwindel. Von einer dauernden Leistungsunfähigkeit sei nicht auszugehen. Daher meint sie, die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt. Eine negative Zukunftsprognose habe ebenso wenig vorgelegen wie eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Es hätte das mildere Mittel der leidensgerechten Beschäftigung zur Verfügung gestanden und ein weiteres BEM hätte angeboten werden müssen. Dem hat das Landesarbeitsgericht (LAG) im Ergebnis zugestimmt und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Dreistufige Prüfung sozialer ­Rechtfertigung

Die Kündigung sei nicht aus personenbedingten (krankheitsbedingten) Gründen sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG. Dies sei nur der Fall, wenn eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliege (erste Stufe), eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen sei (zweite Stufe) und eine Interessenabwägung ergäbe, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen (dritte Stufe).

Unter Anwendung dieser Grundsätze sei die Kündigung der Beklagten nicht sozial gerechtfertigt. Offenbleiben könne dabei, ob der Klägerin eine negative Gesundheitsprognose zu stellen sei und ob die zu prognostizierenden arbeitsunfähigkeitsbedingten Fehlzeiten zu erheblichen betrieblichen Auswirkungen führten. Jedenfalls erweise sich die Kündigung als unverhältnismäßig. Die Beklagte hätte vor Ausspruch der Kündigung nochmals den Versuch eines BEM unternehmen müssen. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass das BEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Unverhältnismäßigkeit der ­Kündigung

Eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung sei unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich sei. Eine Kündigung sei durch Krankheit nicht i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gäbe. Solche Maßnahmen könnten insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus könne sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, gegebenenfalls spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern.

Darlegungs- und Beweispflicht

Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines BEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein BEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Vorliegend wurde die Klägerin von der Beklagten zuletzt mit Schreiben vom 24. Mai 2019 zu einem BEM eingeladen. Selbst wenn zugunsten der Beklagten angenommen würde, dass die Einladung ordnungsgemäß war und die Antwort der Klägerin hierauf als Ablehnung zu verstehen sei, hätte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung keine vorherige ordnungsgemäße Durchführung eines BEM versucht. Denn die Beklagte wäre dann verpflichtet gewesen, wegen erneuten Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX noch vor Einleitung des Verfahrens vor dem Integrationsamt ein erneutes BEM einzuleiten.

Erneutes BEM bei erneuten ­Fehlzeiten

In der Rechtsprechung der LAGs und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sei bereits mehrfach bejaht worden, dass ein Arbeitgeber verpflichtet sei, dem Arbeitnehmer nach Beendigung eines vorangegangenen BEM ein erneutes BEM anzubieten, wenn innerhalb des der Kündigung vorausgegangenen Jahres erneut Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen aufgetreten sind, seit der Beendigung des letzten BEM aber noch kein Jahr vergangen ist. Hierfür spräche der Gesetzeswortlaut und der Sinn und Zweck des BEM, durch eine geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern. War der Suchprozess in einem vorherigen BEM zunächst abgeschlossen, entstehe eine erneute Verpflichtung des Arbeitgebers, ein BEM zu initiieren, grundsätzlich auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen BEM hinaus ununterbrochen weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat; selbst bei einer ununterbrochen andauernden Arbeitsunfähigkeit könnten sich, nachdem sie weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat, neue Erkenntnismöglichkeiten für zielführende Präventionsmaßnahmen ergeben.

Habe der Arbeitgeber seiner Initiativlast zur Durchführung eines BEM genügt, der Arbeitnehmer einem solchen jedoch zunächst seine Zustimmung nicht erteilt, sei der Arbeitgeber dennoch grundsätzlich gehalten, den weiteren Versuch eines BEM zu unternehmen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres, nachdem er die Durchführung eines BEM abgelehnt hat, erneut mehr als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig gewesen ist, selbst wenn seit der nicht erteilten Zustimmung nicht bereits wieder ein Jahr vergangen ist.

Die erkennende Kammer hielt diese Auffassung für überzeugend und schloss sich dieser Rechtsprechung vollinhaltlich an. Eine erneute Einladung beziehungsweise eine konkrete Nachfrage des Arbeitgebers, ob sich etwas an der Bereitschaft des Arbeitnehmers zur Durchführung eines BEM geändert habe, stelle entgegen der Auffassung der Beklagten insbesondere auch keinen unzumutbaren bürokratischen Aufwand dar.

Unter Zugrundelegung der Rechtsansicht der Beklagten wäre das am 24. Mai 2019 angebotene BEM entweder schon mit dem von der Beklagten als Ablehnung gewerteten Schreiben der Klägerin vom 3. Juni 2019, spätestens jedoch am 24. Juli 2019 beendet gewesen. Zwischen diesen Tagen und dem Antrag der Beklagten vom 10. Dezember 2019 an das Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung lagen jeweils erneut mehr als sechs Wochen, in denen die Klägerin weiterhin durchgehend arbeitsunfähig krank war. Die Beklagte wäre also verpflichtet gewesen, schon vor der Antragstellung beim Integrationsamt erneut ein BEM einzuleiten. Die in der Vergangenheit ablehnende Haltung der Arbeitnehmerin könne sich allein durch die zusätzlich aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten geändert haben.

Darlegung der Nutzlosigkeit

Nachdem ein BEM erforderlich war, sei grundsätzlich davon auszugehen, dass es dazu
hätte beitragen können, neuerliche Krankheitszeiten bezogen auf den maßgeblichen Prognosezeitpunkt des Zugangs der Kündigung zumindest zu vermindern und so das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Der Arbeitgeber könne aber unabhängig davon, ob bereits ein zuvor durchgeführtes BEM Rückschlüsse auf die Nutzlosigkeit eines weiteren erlaube, geltend machen, dass die Durchführung eines (weiteren) BEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können. Für die objektive Nutzlosigkeit trage er die Darlegungs- und
Beweislast. Dazu müsse er umfassend und konkret vortragen, weshalb weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. Darüber hinaus müsse er dartun, dass künftige Fehlzeiten auch nicht durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können. Es ist nicht erforderlich, dass sich der Arbeitnehmer im Verfahren auf eine bestimmte Umgestaltungsmaßnahme, Beschäftigungsalternative oder Hilfe beziehungsweise Leistung des Rehabilitationsträgers berufe. Da der Arbeitgeber die primäre Darlegungslast für die Nutzlosigkeit eines BEM trage, müsse vielmehr er von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. Allerdings gelte dies nur im Rahmen des ihm Möglichen und des nach den Umständen des Streitfalls Veranlassten. Das heißt, der Arbeitgeber habe von sich aus alle vernünftigerweise in Betracht kommenden – und vom Arbeitnehmer gegebenenfalls bereits außergerichtlich genannten Alternativen – zu würdigen und, soweit ihm aufgrund seines Kenntnisstands möglich, im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes an dem Arbeitnehmer zuträgliche Arbeitsbedingungen noch die Beschäftigung auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz noch eine Maßnahme des Rehabilitationsträgers in Betracht komme. Dabei sei eine Abstufung seiner Darlegungslast vorzunehmen, falls ihm die Krankheitsursachen unbekannt sind.

Zeitlich reduzierte Tätigkeit

Die in § 167 Abs. 2 SGB IX vorgesehene Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann, erfordere bei schwerbehinderten Arbeitnehmern und ihnen gleichgestellten Beschäftigten die Prüfung, ob die Arbeitsunfähigkeit durch eine i. S. v. § 164 SGB IX leidensgerechte Beschäftigung überwunden werden kann. Hierunter falle auch die – in § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX als Anspruch ausgestaltete – Möglichkeit einer Beschäftigung in zeitlich reduziertem Umfang. Eine Abstufung dieser Darlegungslast wegen fehlender Kenntnis der Beklagten von den Krankheitsursachen war nicht vorzunehmen, da die Klägerin im Rahmen der Berufungsbegründung die den Zeiten ihrer Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegenden ärztlichen Diagnosen offengelegt habe. Dieser Vortrag wäre nicht als verspätet zurückzuweisen (wird ausgeführt).

Keine Vermutungswirkung der ­Zustimmung

Es könne nicht festgestellt werden, dass das BEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Insbesondere entfalte die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung der Klägerin keine Vermutungswirkung dahingehend, dass ein BEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können. Das BAG habe zwar erkannt, dass, wenn das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Zustimmung zu einer verhaltensbedingten Kündigung zu erteilen sei, nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden könne, dass ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX die Kündigung hätte verhindern können. Ob diese Rechtsprechung auch im Fall der Unterlassung eines gebotenen BEM übertragen werden könne, habe das BAG hingegen ausdrücklich offengelassen.

Dafür spräche zwar zunächst, dass auch insoweit gilt, dass das Verwaltungsverfahren der Prüfung der Rechte des schwerbehinderten Arbeitnehmers diene und die Entscheidung des Integrationsamts durch mehrere Instanzen nachprüfbar sei. Dieses habe grundsätzlich auch zu prüfen, ob die gesetzlich gebotenen Möglichkeiten zur Vermeidung der Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Beschäftigten ausgeschöpft worden seien. Ist ein BEM als eine solche Möglichkeit nicht durchgeführt worden, habe das Integrationsamt auch die Möglichkeit, das Zustimmungsverfahren gegebenenfalls auszusetzen und den Arbeitgeber zur Nachholung des BEM aufzufordern. Eine solche Übertragung der Rechtsprechung auf das BEM sei jedoch abzulehnen. Die damit begründete Vermutungswirkung würde nämlich zu einer Schlechterstellung schwerbehinderter Menschen führen gegenüber nicht schwerbehinderten Beschäftigten, bei denen mangels Erfordernis eines Zustimmungsverfahrens eine solche Vermutungswirkung nicht greifen könnte. § 167 Abs. 1 SGB IX gelte nach seinem Anwendungsbereich nur für schwerbehinderte Menschen, während das Erfordernis des BEM nach § 167 Abs. 2 SGB IX für alle Arbeitnehmer, auch für nicht schwerbehinderte Menschen, bestehe. Würde es auf die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamts ankommen, so führe dies dazu, dass nicht behinderte Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess bessergestellt wären als schwerbehinderte Arbeitnehmer.

Auch das LAG Düsseldorf habe mit Urteil vom 30. Januar 2009 (–9 Sa 699/08 – Rn. 45) schon erkannt, dass aus diesem Grund die Zustimmung des Integrationsamts nicht zu der Vermutung führe, dass das BEM die Kündigung nicht hätte verhindern können. Insbesondere die Möglichkeit der Integra­tionsämter, gegebenenfalls das Zustimmungsverfahren zum Zwecke der Durchführung eines BEM auszusetzen, spräche außerdem dafür, dass die dialogische und kooperative Suche nach betrieblichen Beschäftigungsmöglichkeiten im Rahmen eines BEM nicht regelmäßig durch die Einholung von Stellungnahmen und die Prüfungsmöglichkeit in einem mündlichen Anhörungs­termin im Rahmen des Zustimmungsverfahrens ersetzt werden könne.

Keine objektive Nutzlosigkeit

Es könne auch nicht festgestellt werden, dass ein BEM objektiv nutzlos gewesen wäre, wenn es durchgeführt worden wäre. Im Rahmen der durchgeführten Wiedereingliederung wäre schon ersichtlich gewesen, dass es die Verwendung eines höhenverstellbaren Schreibtischs der Klägerin erlaube, trotz ihrer vorhandenen Rückenbeschwerden jedenfalls die reduzierte Arbeitszeit von drei Stunden täglich körperlich abzuleisten. Dies decke sich auch mit der im Zustimmungsbescheid des Integrationsamts zusammengefassten Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 3. März 2020. Entgegen der Auffassung der Beklagten erscheine danach nicht ausgeschlossen, dass im Hinblick auf die der Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegenden Diagnosen „Sonstige näher bezeichnete Bandscheibenverlagerung“ und „Spondylose, nicht näher bezeichnet: Nicht näher bezeichnete Lokalisation“ im Rahmen eines BEM eine Lösung, zum Beispiel durch eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf weniger als vier Stunden in Verbindung mit der Verwendung eines höhenverstellbaren Schreibtischs, hätte gefunden werden können, die die hierdurch verursachten Fehlzeiten maßgeblich reduziert hätten.

In einem BEM hätten zudem weitere Maßnahmen geprüft und gegebenenfalls erprobt werden können, bei denen nicht ausgeschlossen erscheine, dass diese zu einer Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und damit auch zu einer für den Erhalt des Arbeitsplatzes hinreichenden Erhöhung der Leistungen der Klägerin in qualitativer und quantitativer Hinsicht hätten führen können. Hier erscheine beispielsweise ein Einsatz nicht im Großraumbüro, sondern in einem Einzelzimmer und/oder die Verwendung eines Active Noise Cancelling Headsets denkbar. Im Hinblick auf eine gegebenenfalls dann (nur) noch verbleibende Leistungsminderung sei deshalb auch nicht feststellbar, dass diese nicht durch gezielte Schulungsmaßnahmen, die in ihrer Ausgestaltung auf die Einschränkungen der Klägerin Rücksicht nehmen, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von Leistungen der Rehabilitationsträger soweit hätte beseitigt werden können (wird weiter ausgeführt).

Die Revision wurde gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

doi:10.17147/asu-1-245704

Kernaussagen

  • Die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeit­nehmers hat keine Vermutungswirkung dahingehend, dass ein BEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.
  • Für die objektive Nutzlosigkeit des BEM trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast. Er muss von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen nach den Umständen des Streitfalls und im Rahmen des ihm Möglichen vortragen.
  • Der Arbeitgeber hat ein neuerliches BEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines BEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war.
  • Eine neuerliche Angebotsverpflichtung für das BEM entsteht, wenn nach dem durch Verweigerung der Zustimmung oder anderweitig beendeten BEM die Arbeitsunfähigkeit – gegebenenfalls ohne Unterbrechung – nochmals mehr als sechs Wochen angedauert hat. Dies gilt selbst dann, wenn seit der nicht erteilten Zustimmung noch kein Jahr vergangen ist.
  • Die Prüfung der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung erfolgt in drei Stufen:
    1. Bestehen einer negativen Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustands beziehungsweise der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit, 2. eine darauf beruhende ­erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen und 3. eine Interessenabwägung, die ­ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

    Foto: privat

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