Gesetzesentwicklung
Der zunächst nur im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung normierte Vorrang der „Rehabilitation vor Rente“ fand mit dem Rehabilitationsangleichungsgesetz vom 07. 08. 1974 Eingang in das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Hier wurden erstmals gemeinsame Rehabilitationsgrund-sätze für die Träger der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, der Kriegsopferversor-gung sowie der Bundesanstalt für Arbeit ge-setzgeberisch benannt. Da im Leistungsrecht der Deutschen Rentenversicherung (DRV), anders als bei der gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung, keine konkreten Prä-ventionsmaßnahmen normiert waren, konnte der Gesetzgeber den Vorrang der Prävention nur über eine spezielle Prüfpflicht der Renten-versicherungsträger gestalten.
Mit § 7 Rehabilitationsangleichungsgesetz wurde der Rentenversicherungsträger angehalten vorzeitige Verrentungen nur vornehmen, wenn gesichert war, dass diese durch Rehamaßnahmen nicht abzuwenden oder hinauszuschieben waren: „Renten wegen Erwerbsminderung oder wegen Berufsunfähigkeit sollen erst dann bewilligt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind oder wenn … ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten ist.“ Die Prüf- und Leistungsverpflichtung des Rentenversicherungsträgers in der Rehabilitation war damit zunächst noch eng gebunden an das Verfahren der vorzeitigen Verrentung. Die Vorrangklausel umschrieb Ruland (SDSRV 1993, 105 ff.) mit der Formel: „Möglichst Prävention – notfalls Rehabilitation – als ultima ratio die Rente“.
Trägerübergreifende Nahtlosigkeit der Leistungserbringung
Seit Inkrafttreten des SGBIX im Jahre 2001 sind die bis dahin als spezialisierte „Branchenleistungen“ auf die jeweiligen Stammgesetzbücher aufgeteilten Rehabilitationsansprüche weitgehend vereinheitlicht. Im trägerübergreifenden SGBIX, dem Buch der Rehabilitation und Teilhabe, werden nunmehr allgemeingültige Leistungs- und Ver-fahrensgrundsätze zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation, beim Übergangs-geld sowie den ergänzenden Leistungen formuliert und für Beschleunigung der Zuständigkeitsklärung Sorge getragen.
Ausgehend von der in § 3 SGBIX statuierten allgemeinen Präventionsverpflichtung der Versicherungsträger, konkretisiert § 8 I SGBIX verbindliche Handlungsanweisungen für sämtliche Rehabilitationsträger. Sobald dort Sozialleistungen wegen oder unter Berücksichtigung einer ggf. nur drohenden Behinderung beantragt oder erbracht werden, sind die Träger unabhängig von ihrer Entscheidung über diese Leistungen aufgefordert, aktiv zu ermitteln, ob trägerüber-greifend Leistungen zur Teilhabe voraussichtlich erfolgreich sind. § 8 II und III SGBIX verstärken die Prüfpflicht v.a. für den Fall der Beantragung von Renten- oder Pflegeleis-tungen zur verbindlichen Vorrangklausel.
Als typische Schwachstelle der Rehabilitation in unserem gegliederten Sozialversicherungssystem ist die Gefahr von Zuständigkeitsblockaden oder zumindest von Verzögerungen beim Übergang zwischen den grundsätzlich autark finanzierten und entscheidenden Leistungsträgern bekannt. Zur Begrenzung von Systembrüchen und Förderung einer nahtlosen, allein dem Ziel zugewandten Leistungserbringung verpflichtet § 10 SGBIX die Träger zur konkreten Zusammenarbeit im Einzelfall.Der nach § 14 SGBIX zuständige Rehabilitations-träger ist dafür verantwortlich, dass sich die Rehabilitationsträger ins Benehmen mitein-ander setzen und in Abstimmung mit den Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich erforderlichen Leistungen funktionsbezogen feststellen.
In einem trägerübergreifenden Rehabilitationsplan sind die Leistungen schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos ineinander greifen. Gemäß § 11 SGBIX ist bei Einleitung medizinischer Rehabilitation, während der Erbringung und nach ihrem Abschluss stets ergänzend zu prüfen, ob durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Erwerbsfähigkeit des be-hinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Bei Bedarf ist der Rehabilitationsplan entsprechend fortzu-schreiben und die Bundesagentur für Arbeit oder das Integrationsamt zu beteiligen.
Als Ausfluss der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung kann der Leistungsberechtigte gem. § 14 SGBI umfassende Beratung beanspruchen und bedürfen die Leistungen seiner Zustimmung. Seinen berechtigten Wünschen hinsichtlich Art und Ort der Leistung ist bei Entscheidung und Ausführung zu entsprechen, § 9 SGBIX. Die Finanzierung des Lebensunterhaltes während einer Rehabilitationsmaßnahme wird durch das Übergangsgeld des § 45 SGBIX iVm § 20 SGBVI gesichert.
Leistungen der Teilhabe in der DRV
Nach Maßgabe dieses rechtlichen Verfah-rensrahmens des SGBIX sind auch die Antragsverfahren der Rentenversicherung zur Teilhabesicherung zu organisieren. Unter nahezu wörtlicher Wiederholung des Vorranggebotes sind die Leistungsziele dieser Verfahren in § 9 SGBVI festgeschrieben. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, können danach aus der Rentenversicherung beansprucht werden, um
- den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbs-fähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden so-wie
- dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbs-fähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.
Gemäß dem ganzheitlichen Konzept des SGBIX sind hiernach ungeachtet des gegliederten Systems alle Leistungen zu ge-währen, die zur Erreichung des Rehabilitationszieles geeignet sind. Zugriff besteht unabhängig von der Kernzuständigkeit der Rentenversicherung potenziell auf den gesamten Maßnahmenkatalog des allgemeinen Rehabilitationsrechts. Erforderlich, aber auch genügend, ist hierfür die Erfolgsprognose, an den der vorrangige Bezug dieser Leistungen geknüpft ist. Mindestens sollten die Maßnahmen folglich erwarten lassen, dass den Auswirkungen einer Krankheit und Behinderung entgegengewirkt wird und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit vermieden oder hinausgeschoben werden.
Entsprechend § 4 II SGBIX sind nach Lage des Einzelfalls die Leistungen so vollständig und umfassend zu erbringen, dass Leistungen eines anderen Trägers möglichst nicht erforderlich werden. Jedoch auch im Falle der Überschreitung des Leistungsrahmens der für die Rentenversicherung geltenden besonderen Vorschriften ist die Leistungserbringung aus einer Hand ge-sichert. Die DRV bleibt nach § 10 SGBIX zur Koordinierung, mithin zur Erstellung und Durchführung des trägerübergreifenden Rehabilitationsplanes, verantwortlich.
Insbesondere verlangt das Ziel umfassender Rehabilitation, dass sich der Träger nicht auf die Ablehnung einer konkret beantragten Maßnahme beschränken darf, sondern stets zu erwägen hat, ob das Rehabilitationsziel noch mit anderen Mitteln zu erreichen ist.
Persönliche und versicherungs-rechtliche Voraussetzungen
Trotz der „kann“-Formulierung des § 9 II SGBVI zieht das Bundessozialgericht aus der engen Bindung von Anspruchsvoraussetzungen und möglichem Rehabilitations-erfolg die Schlussfolgerung, dass bei Vorliegen der persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ein Grundanspruch auf Leistungen der Teilhabe besteht. Ein Entschließungsermessen der Rentenversicherung wird verneint, weil andernfalls der Nachrang des vorzeitigen Rentenbezugs leerlaufen würde. Ermessen hat der Rentenversicherungsträger demnach nur bei der konkreten Auswahl der Maßnahme(n) unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts des Versicherten.
Die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGBVI definieren den Grad der leistungsauslösenden Funktionseinschränken des Kranken oder Behinderten. Sie fordern eine erhebliche Gefährdung oder Minde-rung der Erwerbsfähigkeit auf Grund Krank-heit bzw. körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung. Erheblichkeit ist anzunehmen, wenn in einem Zeitraum von bis zu drei Jahren (vgl. § 102 II S. 2 SGBVI) mit einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu rechnen ist. Klargestellt wird zudem, dass bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit für die Erfolgsprognose ausreichend ist, falls durch die Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Die versicherungsrechtlichen Voraus-setzungen des § 11 SGBVI machen Renten-versicherungsleistungen zur Teilhabe grund-sätzlich von Wartezeiten abhängig, entschärfen diese Hürde indes durch erleichterte Zugangsvoraussetzungen in besonderen Bedarfssituation.
Wichtig ist zu beachten, dass auch im Fall materieller Unzuständigkeit des Renten-versicherungsträgers – beispielsweise wegen Fehlens der persönlichen oder versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bzw. bei Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 12 SGBVI – im Außenverhältnis zum Antragsteller dessen Zuständigkeit zur Erbringung eines festgestellten Teilhabebedarfes fortbestehen kann. Nach § 14 SGBIX ist das immer dann der Fall, wenn der Renten-versicherungsträger den Antrag nicht inner-halb von zwei Wochen nach Eingang entschieden oder an den nach seiner Auffas-sung zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet hat. Als sog. Erstangegangener wird der Rentenversicherungsträger im Verhältnis zum Leistungsberechtigten nach Fristablauf endgültig zuständig. Seine Leistungspflicht erstreckt sich in diesem Fall unabhängig von den formalen Voraussetzungen auf alle Rechtsgrundlagen des Sozialgesetzbuchs, die überhaupt in dieser Bedarfssituation als Rehabilitationsleistung für behinderte Menschen vorgesehen sind. Als finanziellen Ausgleich erwirbt der Rentenversicherungsträger einen Erstattungsanspruch gegen den im Innenverhältnis der Versicherungsträger materiell zuständigen Träger.
Mitwirkungspflichten versus Rentenanspruch
Aus der Vorrangklausel folgt keine Verpflichtung des Versicherten zur Rehabilitation. Im Hinblick auf Erwerbsminderungsrenten kommt ihr deshalb kein anspruchsversa-gender Charakter zu. Der Grundsatz „Reha vor Rente“ begründet für den Versicherten vielmehr eine Obliegenheit, in zumutba-rem Umfang an der Verhinderung eines vorzeitigen Rentenfalles mitzuwirken und sich insbesondere medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen zu unterziehen. Erst nach sachgerechter Anwendung der Mitwirkungsvorschriften (§§ 63, 66 SGBI) und schriftlichem Hinweis auf die konkreten Folgen einer Weigerung darf eine Rente ganz oder teilweise versagt werden. Dies setzt zunächst ein im Sinne der Erfolgsprognose konkret geeignetes und verbindliches Rehabilitationsangebot durch den Rentenversicherungsträger voraus. Die Versagung kann jederzeit durch Nachholung der Mitwirkung geheilt werden.
Zwangsverrentung?
Allerdings kann auch die Krankenkasse ihre Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, nach § 51 I SGBV auffordern, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Wird der Antrag innerhalb Frist einer Frist von 10 Wochen nicht gestellt, entfällt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist, kann aber mit späterer Antragstellung wieder aufleben.
Eine solche Aufforderung der Kranken-kasse schränkt den Versicherten erheblich in seiner Selbstbestimmung und Disposi-tionsfreiheit ein. Unter Beachtung der Ren-tenantragsfiktion des § 116 II SGBVI kann ein von der Krankenkasse erzwungener Teil-habeantrag unter bestimmten Bedingungen zur Zwangsverrentung des Teilhabeberech-tigten gegen seinen Willen führen. Der zu-ständigkeitshalber an den Rentenversicherungsträger weitergeleitete Rehabilitations-antrag würde im Falle einer negativen Erfolgsprognose als Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente gelten. Obgleich grundsätzlich Reha- oder Rentenanträge bis zur Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung zurückgenommen werden könnten, ist dem Versicherten im Rahmen des § 51 SGBV dieses Gestaltungsrecht genommen. Denn ohne Zustimmung der Krankenkasse, die ggf. gerichtlich erzwungen werden müsste, darf nach gefestigter Rechtsprechung dieser (fiktive) Rentenantrag nicht mehr zurückgenommen werden.
Bedenkt man die Folgen eines solchen leistungsrechtlichen Schlusspunktes, der geeignet ist, entgegen aller Teilhabevorstellungen ein unfreiwilliges Ende der beruflichen Laufbahn zu setzen, sollte man Betroffenen zur gründlichen Überprüfung der Aufforderung nach § 51 SGBV raten. Ein Widerspruch gegen diesen belastenden Verwaltungsakt ermöglicht dem Betroffenen die gutachtlichen Aussagen des medizinischen Dienstes der Krankenkasse zur Gefährdung der Erwerbsfähigkeit zu prüfen. Aus rechtlicher Sicht ist abzuwägen, ob die Krankenkasse von ihrem Ermessen in sachgerechter Form Gebrauch gemacht hat.
Das wäre nur dann zu bejahen, falls die Krankenkasse sich zuvor eindeutige Klarheit darüber verschafft hat, welche Konse-quenzen für ihren Versicherten mit der geforderten Beantragung von Leistungen zur Rehabilitation verbunden sind. Nachteile, die das berechtigte Interesse der Krankenkasse an einer solchen Maßnahme ausschließen, liegen nach der Rechtsprechung4 u. A. dann vor, wenn
- nach den tarifvertraglichen Regelungen der Rentenantrag automatisch zum Arbeitsplatzverlust führen würde,
- der Anspruch auf Betriebsrente durch ei-nen frühzeitigen Rentenbeginn verloren ginge,
- eine qualifizierte Wartezeit (§ 50 SGBVI) noch erreicht werden kann oder
- die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner noch erfüllbar sind.
„Abusus non tolit usum!“ Die wertvollen Werkzeuge der Teilhabe dienen im Regelfall gleichermaßen den legitimen Interessen der Solidargemeinschaft zur Stärkung der Teilhabefähigkeit des Individuums wie sie die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung des Leistungsberechtigten fördern.
Fußnoten
1 std. Rspr, vgl. Urteil des BSG vom 21.03.2001 – B 5 RJ 8/00 R – mwN
2 std. Rspr., vgl. BSG Urteile vom 30.11.2011 – B 11 AL 7/10 R –, vom 12.12.2013 – B 4 AS 14/13 R – oder vom 14.5.2014 – B 11 AL 6/13 R
3 LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.03.2003, L 2 RI 230,47
4 vgl. Urteil des BSG vom 07.12.2004 – B 1 KR 6/03 R und vom 16.12.2014 – B 1 KR 32/13 R –
5 Bewirkt keine Fristverlängerung, s. Urteil des BSG vom 16.12.2014, B 1 KR 32/13 R. Zur Vermeidung des Anspruchsverlustes beim Krankengeld sollten daher ggf. Widerspruch und Antrag parallel erfolgen.
6 Regel des römischen Rechts, frei übersetzt: Eine Möglichkeit des Missbrauchs darf den sachgerechten Gebrauch nicht hindern.