In welchen Zusammenhängen ist das Thema von Bedeutung für den Betriebsmediziner?
Die rechtlichen Grundlagen der innerbetrieb-lichen betriebsärztlichen Aufgaben ergeben sich aus dem Arbeitssicherheitsgesetz von 1973–2013. Der Betriebsarzt hat demnach den Arbeitgeber zu beraten, z. B. hinsichtlich arbeitsphysiologischer, arbeitspsychologischer und sonstiger ergonomischer und arbeitsmedizinischer Fragestellungen, insbesondere zu Themen des Arbeitsrhythmus, der Arbeitszeit, der Pausenregelung, der Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsab-laufs und der Arbeitsumgebung (ASIG § 3 (1), 1d). Auch bei Fragen des Arbeitsplatzwechsels sowie bei der Eingliederung und Wiedereingliederung Behinderter in den Arbeitsprozess besteht eine Beratungspflicht für den Betriebsarzt gegenüber dem Arbeitgeber nach ASIG (ASIG § 3 (1), 1f). Wird der Betriebsarzt an der betrieblichen Eingliederung (BEM) nach Sozialgesetzbuch beteiligt, werden besondere Anforderungen, ggf. auch hinsichtlich der Messung und Beurtei-lung psychischer Leistungsfähig an ihn gestellt (detaillierte Ausführungen dazu s. unten). Nach ASIG haben Betriebsärzte weiterhin die Verpflichtung, die Arbeitsstätten in regelmäßigen Abständen zu begehen und festgestellte Mängel dem Arbeitgeber mitzuteilen, Maßnahmen zur Beseitigung dieser Mängel vorzuschlagen und auf deren Durchführung hinzuwirken (ASIG § 3 (1) 3a). Be-triebsärzte sollen nach ASIG die Ursachen arbeitsmedizinischer Erkrankungen untersuchen, die Ergebnisse erfassen und auswerten und dem Arbeitgeber Maßnahmen zur Verhütung dieser Erkrankungen vorschlagen (ASIG § 3 (1), 3c). Aus dem gesetzlichen betriebsärztlichen Pflichtenkatalog ergibt sich die Verpflichtung zur Beratung des Arbeitgebers hinsichtlich der Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, nicht des Arbeitsverhal-tens. Das bedeutet, dass eine psychische Leistungsfähigkeitsmessung oder Beurtei-lung, die sich auf das Arbeitsverhalten bezieht, nicht Teil des betriebsärztlichen Beratungsauftrags nach ASIG gegenüber dem Arbeitgeber ist. Gleichwohl ergibt sich aus dem Arbeitssicherheitsgesetz, dem Arbeitsschutzgesetz und der DGUV-2 eine Mitwirkungspflicht des Betriebsarztes bei der Gefährdungs- und Belastungsanalyse der psychischen Belastungen. Auch hier ist das Ziel der Beratung des Arbeitgebers nicht die Veränderung des Arbeitsverhaltens, son-dern die Optimierung der Arbeitsverhältnisse (Minimierungsgebot psychischer Gefährdungen: ArbSchG § 4, 1). An dieser Stelle sei nur am Rande erwähnt, dass, wie auch bei der Erfassung der psychischen Leistungs-fähigkeit (s. unten), auf der Seite der Belas-tungsmessung methodisch alles andere als triviale Verhältnisse vorliegen, wie es jedoch manche Kurzempfehlungen für Betriebe und Betriebsärzte glauben lassen (BAUA 2014; Peschke et al. 2013).
Die Beratungspflicht des Betriebsarztes gegenüber dem Beschäftigten ergibt sich aus dem ASIG § 3. Dort heißt es: Der Betriebs-arzt soll die Arbeitnehmer untersuchen, ar-beitsmedizinisch beurteilen und beraten. Eine besondere Beratungsverpflichtung des Betriebsarztes gegenüber den Beschäftigten ergibt sich zusätzlich aus der ArbmedVV in der es in § 2 heißt: Die arbeitsmedizinische Vorsorge im Sinne dieser Verordnung bein-haltet ein ärztliches Beratungsgespräch mit Anamnese einschließlich der Arbeitsanamnese sowie körperliche und klinische Untersuchungen, soweit diese für die individuelle Aufklärung und Beratung erforderlich sind und der Beschäftigte diese Untersuchungen nicht ablehnt. Ziel dieser betriebsärztlichen Untersuchung und Beratung ist laut ArbmedVV „die Beurteilung der individuellen Wechselwirkung von Arbeit und physischer und psychischer Gesundheit“. Der Verordnungsgeber weist in § 2 (1), 5 der ArbMedVV ausdrücklich darauf hin, dass die arbeitsmedizinische Vorsorge nicht den Nachweis der gesundheitlichen Eignung für berufliche Anforderungen nach sonstigen Rechtsvorschriften oder individual- oder kollektivrechtlichen Vereinbarungen beinhaltet.
Diese Rechtslage bedeutet, dass erst im Rahmen einer individuellen präventiven Beratung das Thema der Diagnostik der psy-chischen Leistungsfähigkeit relevant werden kann. Dazu bedarf es der Zustimmung des Beschäftigten, die er erfahrungsgemäß erst dann erteilt, wenn er sich von der Beratung und Untersuchung des Betriebsarztes einen persönlichen Vorteil verspricht und annimmt, dass der Betriebsarzt hinsichtlich der Untersuchung und Beratung kompetent und vertrauenswürdig ist.
Der Vollständigkeit halber seien hier zu-dem noch die arbeitsmedizinisch-verkehrsmedizinischen Aufgaben und Settings im Rahmen der Führerscheinverordnung (FeV) und der Triebfahrzeugführerscheinverordnung (TfV) erwähnt. Untersuchungen nach FeV verlangen den kompetenten Einsatz verkehrspsychologischer Testverfahren. Hier-zu bedarf es einer besonderen verkehrs-psychologischen Qualifikation der Arbeitsmediziner. Auch bei den sog. Nachuntersuchungen nach TfV ist diese Qualifikation angezeigt. Für die Erstuntersuchung zum Erwerb des Triebfahrzeugführerscheins hat der Verordnungsgeber ausschließlich den Verkehrspsychologen die Kompetenz zur testpsychologischen Untersuchung und Be-urteilung der geforderten psychischen Leistungskriterien zugewiesen.
Zusammenfassend lassen sich für die Thematik der Diagnostik / Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit in der betriebsärztlichen Praxis verschiedene Aspekte hervorheben. Zum einen erfordern unter-schiedliche Beratungsanlässe ggf. unterschiedliche Methoden und Ziele der Diagnostik und zum anderen geht es darum zu klären, welche Kompetenzen der Betriebsmediziner zur Abklärung der jeweiligen dia-gnostischen Problemstellungen benötigt bzw. für welche Fragestellungen der Betriebsarzt Unterstützung durch Experten für spezielle diagnostische Methoden benötigt.
Welche methodischen Zugänge hat der Betriebsarzt?
Für den Betriebsarzt stellt das diagnostische Gespräch den zentralen Zugang zur Beurtei-lung der psychischen Verfassung und des Leistungsniveaus des Mitarbeiters (s. dazu ausführlich Schneider u. Parpart 2013) dar. Von Bedeutung dabei sind die psychischen Funktionen, Kompetenzen, aber auch die Hemmnisse des Mitarbeiters. Die Informa-tionsquellen umfassen zum einen die Angaben des Mitarbeiters hinsichtlich seiner Befindlichkeit und Symptome, aber auch Kompetenzen, die in der Anamnese erho-ben werden. Die Prinzipien des (diagnostischen) Gesprächs reichen von einer offenen Gesprächsführung im Sinne eines psychosomatischen Interviews bis hin zu einer eher explorativen Gesprächsführung zur systematischen Erhebung eines psychischen / psychopathologischen Befundes, bei der spezifische Merkmale oder Probleme gezielt und direkt erfragt werden. Mit Hilfe der offenen Gesprächsführung, soll der Mit-arbeiter die Gelegenheit erhalten, seine Befindlichkeit und etwaigen Probleme wie auch Bedürfnisse frei darzustellen und so seine subjektive Sicht über die relevanten Themen und Probleme sowie seine diesbezügliche Bewertung darzulegen. Darüber hinaus soll er bei dieser Gesprächsform lernen, dass seine individuelle Sicht seiner Problematik für den Betriebsarzt von Interesse ist. Dabei sollte der Betriebsarzt nicht nur die verbalen Angaben / Berichte des Mitarbeiters beach-ten, sondern auch etwaige nonverbale (Mimik, Gestik) und szenische Informationen bei der Urteilsbildung berücksichtigen. Letz-tere resultieren aus der Art der Interaktion zwischen beiden Protagonisten. Wie stellt sich die Szene zwischen dem Arzt und dem Mitarbeiter dar? Kommt der Mitarbeiter aus „freien“ Stücken oder wird er z. B. durch einen Vorgesetzten geschickt? Sitzt er ruhig im Gespräch auf dem Stuhl und schaut den Arzt an; unterbricht er diesen häufiger oder läuft aufgeregt im Raum herum? Alle diese Informationen können Hinweise auf unterschiedliche psychische oder psychosoziale Aspekte geben.
So zeigen sich im offenen Gespräch be-reits Hinweise auf das Niveau relevanter psychischer Funktionen ( Abb. 1), die dann im Weiteren systematisch exploriert werden können. Dies bedeutet, dass der Betriebsarzt den Mitarbeiter in Bezug auf sein emo-tionales Erleben, seine kognitiven Funktionen, seinen Antrieb oder etwaige interaktionelle Kompetenzen oder Schwierigkeiten befragt. Die Eindrücke, die der Arzt bezüglich der unterschiedlichen psychischen Funktionen im offenen Gespräch gewonnen hat, können dabei durchaus leitend für die Inhalte der Exploration sein, wobei die in Abb. 1 angeführten Merkmale berücksichtigt werden sollten. Die im Folgenden dargestellte Beurteilungsrationale hat eine Arbeitsgruppe um Pouget-Schors et al. (2004) anfangs des neuen Jahrtausends für den Be-reich der Psychoonkologie mit dem Ziel ent-wickelt, den onkologischen Behandlern Be-urteilungskriterien zur Verfügung zu stellen, die geeignet sind, das psychische Funktions-niveau von Patienten zu bewerten und ggf. Hinweise dafür zu erhalten, ob eine vertiefende psychosomatische Diagnostik und Therapie indiziert ist ( Abb. 2). In der Folge hat der Erstautor diesen diagnostischen Ansatz gekürzt und leicht modifiziert und in der Weiterbildung zur psychosomatischen Grundversorgung für Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen eingesetzt. Nachdem genügend praktische Erfahrungen in der Arbeit mit diesem diagnostischen Ansatz im Rahmen von Weiterbildungskursen gesammelt worden sind, haben wir dieses diagnostische Modell in der alltäglichen klinischen Praxis von 30 Weiterbildungsteilnehmern erprobt, die jeweils 10 ihrer Patienten auf der Basis dieses Modells beurteilt haben. Das Ziel dieses Untersuchungsansatzes (Schmiedeberg 2014) bestand da-rin, die relevanten testpsychologischen Pa-rameter (z. B. Itemschwierigkeit und Trennschärfe, die entsprechenden Ergebnisse waren gut) herauszuarbeiten. Auf der Basis einer Faktorenanalyse wurde dann die in-haltliche Struktur des Instrumentes exploriert. Diese umfasst 3 Faktoren:
- 1. psychischer Bereich,
- 2. somatische Funktionseinschränkungen und
- 3. Hemmnisse in Bezug auf psychothera-peutische-psychosomatische Maßnah-men.
Wie sich sowohl auf der Ebene der testana-lytischen Bewertung des Instrumente wie auch in der alltäglichen diagnostischen Praxis gezeigt hat, eignet es sich in einer hand-habbaren und angemessenen Weise, um das psychische Funktionsniveau und etwaige Einschränkungen auf einzelnen oder mehreren psychischen Funktionen zu erheben. Diese Beurteilung stellt im Folgenden die Grundlage für die Bewertung dar, ob eine Indikation für eine vertiefende Diagnostik oder Therapie vorliegt. Für diese Entscheidung sind jedoch nicht nur etwaige Beeinträchtigungen auf der Ebene psychischer oder psychosomatischer Funktionen bedeut-sam. Die psychischen Funktionen im engeren Sinn sind unter A7–A12 aufgeführt; aber auch die weiteren A-Kriterien können ggf. für die betriebsärztliche Praxis von Interesse sein. Bedeutsam für die Indikation zu einer weiterführenden Diagnostik und ggf. Therapie durch Experten aus den Bereichen der Psychiatrie, Psychosomatik oder Psychologie sind Aspekte der Krankheitsverarbeitung, der sozialen Unterstützung und vor allem der Motivation des Patienten für die Teilnahme an derartigen Interventio-nen. Soweit ein Patient / ein Mitarbeiter in der betriebsärztlichen Praxis keine Motivation für die Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen aufweist, muss im Rahmen von Beratungsgesprächen an dessen Motivation gearbeitet werden. Wir führen dieses dia-gnostische Instrument im Rahmen dieses Aufsatzes ein, weil es unserer Ansicht nach gut geeignet ist, das psychische Leistungsniveau sowie dessen etwaige Beeinträchtigungen auch im Rahmen der betriebsärztli-chen Praxis abzubilden und auf dieser Basis die Frage der Indikationsstellung zu einer vertiefenden Diagnostik und Therapie zu be-antworten.
Bei der Bewertung der Beurteilungsrationale haben wir uns aus inhaltlichen Gründen darauf festgelegt, dass eine Indikation zu einer psychosomatisch-psychotherapeu-tischen Vertiefung auf den Ebenen der Dia-gnostik und/oder Therapie angezeigt ist, wenn von den Items des Blocks A bei mehr als 3 Items mindestens ein Wert von 3 an-gegeben worden ist. Dabei weisen die Items A6–A14 (psychosoziale Merkmale im enge-ren Sinn) für diese Fragestellung eine besondere Relevanz auf. Aber auch wenn die Merkmale des Blocks B zumindest als mittel-gradig eingestuft werden, sollte die entsprechende Indikation vorgenommen werden. Soweit der Mitarbeiter jedoch erst einmal nicht oder nur ungenügend für die entsprechenden Maßnahmen motiviert ist, sollte der Arzt erst einmal mit diesem an der Förde-rung der Motivation zur Teilnahme an einer entsprechenden Maßnahme motiviert werden (s. dazu Schneider u. Parpart 2013).
Die längsschnittliche Perspektive eröff-net einen Blick auf die dem Mitarbeiter in der Vergangenheit zur Verfügung stehenden Kompetenzen im psychischen Bereich. Weiterhin sind im Interview, neben den verbalen Angaben des Mitarbeiters in Bezug auf seine Probleme, aber auch ggf. seiner längs-schnittliche Entwicklung, nonverbale Infor-mationen (Mimik und Gestik) von Interesse. Diese enthalten Informationen über seine emotionale Verfassung, etwaige kognitive Kompetenzen oder Einschränkungen, seines Antriebs, aber auch seines Interaktionsverhaltens. Diese Informationen sind aber grundsätzlich auch geeignet, die Angaben des Mitarbeiters über etwaige Probleme im emotionalen Bereich (z. B. Depressivität, Affektlabilität) oder kognitive Funktionsstörungen (z. B. Konzentration oder Aufmerksamkeitslenkung), dem Antrieb etc. zu validieren. Dies bedeutet, dass, soweit ein Mitarbeiter über gravierende emotionale Probleme im Sinne von Niedergedrücktheit spricht, zu erwarten wäre, dass sich diese mimisch und gestisch, aber auch im Interaktionsverhalten ausdrücken würden. Das bedeutet, er würde im Affekt wenig schwingungsfähig und starr wirken. Auch Konzen-trationsstörungen oder Störungen der Aufmerksamkeitslenkungen würden sich im Interview darstellen, soweit diese ein relevantes Ausmaß aufweisen. Die Angaben des Mitarbeiters über etwaige Probleme und Schwierigkeiten sowie die Hinweise in Bezug auf etwaige Probleme, die wir direkt sehen können, müssten also zueinander abgeglichen werden. Diese Trennung zwischen dem psychopathologischen Befund (das was wir sehen können) und den anamnestischen Angaben des Mitarbeiter stellt ein wichtiges diagnostisches Kriterium dar bzw. eine wichtige Kompetenz, die vom Diagnostiker gefordert ist. Sie gründet neben dem theoretischen Wissen insbesondere auch auf einer reichhaltigen Erfahrung bezüglich der Wahrnehmung und des Erkennens entspre-chender Merkmale. Evident ist, dass die Bewertung etwaiger Abweichungen auf den hier diskutierten Merkmalen umso leichter und klarer wird, je größer die Auffälligkei-ten sind. Der Mitarbeiter, der über ein hohes Ausmaß an emotionaler Labilität berichtet und während des Interviews immer wieder unruhig auf dem Stuhl hin und her rutscht, mit zittriger Stimme spricht, vegetative Stig-mata im Bericht entwickelt (rot oder schwei-ßig wird) und immer wieder stark emotional verunsichert wirkt, bietet passend zu der von ihm angesprochenen Problemkonstellation auf der Verhaltensebene angemessene Hinweise.
Bei der Beurteilung der „psychischen Leistungsfähigkeit“ ist von Bedeutung, die Relation zwischen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen des Mitarbeiters und den kon-kreten Anforderungen des Arbeitsplatzes zu bestimmen. Was kann der Mitarbeiter und welchen Arbeitsplatz braucht er bzw. wie sind die Anforderungen des Arbeitsplatzes und inwieweit passen diese auf den konkreten Mitarbeiter? Hier ist von Bedeutung, dass der Betriebsarzt beide Perspektiven beurteilen kann.
Soweit die Angaben mit dem klinischen Eindruck im Interview nicht korrespondieren, ist die Frage berechtigt, inwieweit der Mitarbeiter seine Probleme und Einschränkungen aggraviert. Allerdings wird sich auch eine andere Konstellation finden, bei der bestehende psychische Probleme auf den unterschiedlichen Ebenen dissimuliert werden, um z. B. zu erreichen, dass ihm bestimmte Aufgaben oder Funktionen im Arbeitsprozess nicht entzogen werden. So werden be-stehende Probleme im emotionalen, kogni-tiven oder verhaltensbezogenen Bereich ne-giert. Demgegenüber finden sich im Interview Hinweise (z. B. Verhaltensauffälligkeiten), aber auch ggf. Mitteilungen und Berichte von Vorgesetzten oder Kollegen, die dem widersprechen. Soweit relevante Widersprüche zwischen den Angaben des Mitarbeiters und den klinischen Eindrücken bzw. externen Bewertungen vorliegen, ist eine Beurteilung der psychischen Funktio-nen – dies gilt auch für die Aktivitäten (s. un-ten) – durch den Betriebsarzt kaum verläss-lich vorzunehmen. In solchen Fällen ist zu prüfen, inwieweit eine ergänzende psychologische Untersuchung zur Herausarbeitung möglicher emotionaler, kognitiver und verhaltensbezogener Hemmnisse oder Kompetenzen angezeigt ist (s. unten). Auch bei der Klärung der Frage des Vorliegens von systematisch verfälschenden Tendenzen auf Seiten des Mitarbeiters in Bezug auf seine Beschwerden oder seine Leistungsfähig-keit eignen sich grundsätzlich psychologi-sche und neuropsychologische Testverfah-ren (siehe z. B. Merten u. Dohrenbusch 2010, 2012).
Die berufliche Eingliederungs-maßnahme (BEM)
Beim betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) kommt dem Betriebsarzt unter Umständen die Aufgabe zu, die psychische Leistungsfähigkeit bei beruflichen Rehabilitanden beurteilen zu müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit nicht nur bei Mitarbeitern zu beurteilen ist, die eine psychische oder psychosomatische Erkran-kung aufgewiesen haben oder aufweisen, sondern auch bei Mitarbeitern, die eine so-matische Erkrankung gehabt haben oder aufweisen. Auch Letztere können unter Um-ständen infolge ihrer Krankheit Leistungseinbußen auf der psychischen Ebene haben, z. B. infolge der Krankheitsverarbeitung. Sie können etwa Gefühle der Niedergedrücktheit, einen Antriebsmangel oder auch motivationale Probleme aufzeigen oder in ihrem Selbstwertgefühl erheblich beeinträchtigt sein. Alle diese Faktoren können so auch direkte Auswirkungen auf die Leistungsfähig-keit im emotionalen, kognitiven oder verhal-tensbezogenen Bereich zur Folge haben.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Diagnose – und dies gilt für die meisten Erkrankungen, sowohl auf dem psychischen als auch psychosomatischen Gebiet, aber auch bei vielen Organerkrankungen – erst einmal wenig Aussagen in Bezug auf die psychomentale Leistungsfähigkeit erlaubt. Im Mittelpunkt der Beurteilung der Leistungsfähigkeit steht das psychische/psychosomatische Funktionsniveau des Mitarbei-ters. Dieses ist im Fall eines beruflichen Re-habilitanden das Resultat einer komplexen Wechselwirkung zwischen seinen emotionalen, kognitiven und verhaltensbezogenen Entwicklungsparametern und seinen durch die Erkrankung verursachten psychischen oder somatischen Symptomen und den dar-aus resultierenden Funktionseinschränkungen. Die Art und das Ausmaß an Funktionseinschränkungen ist durch die individuelle Krankheitsverarbeitung beeinflusst. So können unflexible und beispielsweise angstbesetzte Formen der Krankheitsbewältigung zu unwirksamen Therapiemaßnahmen und zu größeren Funktionseinschränkungen führen. Bei einer günstigen Krankheitsverarbeitung liegen zumeist adaptive Persönlichkeitszüge auf Seiten des Mitarbeiters vor sowie günstige soziale und therapeutische Unterstützungsmaßnahmen. Wir orientieren uns bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit (Schneider et al. 2012) am Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health der Weltgesundheitsorganisation (ICF 2001, deutschsprachig 2005, s. Abb. 1), das neben der Ebene der Funktionen auch die Ebenen Aktivität und Partizipation umfasst.
Wir haben mit diesem diagnostischen An-satz sehr gute Erfahrung in unseren Weiterbildungsveranstaltungen zur Psychosomatischen Grundversorgung von Betriebsärzten gemacht, die dieses Vorgehen als ausgesprochen praktikabel für ihre Tätigkeit vor allem bei Maßnahmen im Rahmen der BEM angesehen haben. Bei der Beurteilung der unterschiedlichen diagnostischen Ebenen stehen dem Betriebsarzt grundsätzlich ver-schiedene Informationsquellen zur Verfü-gung, z. B. Vorbefunde ambulanter oder stationärer Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen, die Befunde, die der Betriebsarzt selbst während der diagnostischen oder beratenden Gespräche erheben kann, und ggf. zusätzliche testpsychologische Befunde, die während einer Rehabilitationsmaßnahme oder im Rahmen der BEM-Maßnahme im Be-trieb von entsprechend qualifizierten Fachleuten erhoben worden sind.
Die relevanten psychischen und psycho-somatischen Funktionsbereiche werden in Tabelle 1 dargestellt (Schneider et al. 2012). Beurteilt werden – nach den Regeln der Leitliniengruppe – die neun hier aufgeführten Funktionsbereiche. Abschließend besteht die Möglichkeit, das Ausmaß an Gesamtbeeinträchtigung zu bewerten.
Bei der Beurteilung der psychischen und körperlichen Funktionen wie auch der Aktivitäten und Partizipation müssen sowohl die Hemmnisse als auch die Ressourcen berücksichtigt werden! Zu bedenken ist auch, dass Prozesse der Krankheitsverarbeitung alle drei Ebenen (Funktionen, Aktivität und Partizipation) beeinflussen. Relevante Aspekte der Krankheitsverarbeitung sind z. B. der Leidensdruck, das Krankheitskonzept, das subjektive Leistungskonzept sowie die Leistungs- und Veränderungsmotivation.
Beurteilung der Aktivitäten
In der an der ICF orientierten Leitlinie zur Be-gutachtung der Leistungsfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen wird unter Aktivitäten alles erfasst, was ein Individuum sowohl auf der Ebene der körperlichen Aktivität als auch auf der psychosozialen Ebene tut oder tun könnte. Etwaige Einschränkungen auf der Ebene der Aktivität sind neben dem Ausmaß an psychischen Funktionsstörungen zentral für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Etwaige Aktivitätenbegrenzungen resultieren aus den Einschränkungen der psychischen und so-matischen Funktionen. Für die betriebsärzt-liche Beurteilung sind insbesondere die Ak-tivitäten von Interesse, die für die konkrete berufliche Tätigkeit von Bedeutung sind. Dies bedeutet, dass der Betriebsarzt in einem ersten Schritt das Repertoire an Aktivitäten, die dem zu rehabilitierenden Mitarbeiter zur Verfügung stehen, erheben und etwaige Einschränkungen herausarbeiten muss. Diese Aktivitäten können entweder systematisch exploriert werden oder auch mit Aktivitätslisten erhoben werden. Die in Tabelle 2 aufgelisteten Aktivitätsdimensionen orientieren sich an Linden et al. (2009)
Wir haben uns Dokumentationslisten erstellt, auf denen die zu Begutachtenden über drei Tage ihre unterschiedlichen Aktivitäten eintragen sollen und eine Liste zusammengestellt, in denen eine Vielzahl von Aktivitäten angeführt werden, für die der Proband angeben soll, wie oft er diese im Zeitraum der letzten 14 Tage durchgeführt hat. Diese Vorgehensweise ist sicherlich auch bei der betriebsärztlichen Diagnostik im Rahmen der Betrieblichen Eingliederungsmaßnahme anwendbar.
Bei der Betrieblichen Eingliederung beruflicher Rehabilitanden sollte zum einen ein enger Bezug zwischen den dem Individuum verfügbaren Ressourcen oder Einschränkungen auf der Ebene der Aktivitäten und zum anderen auf konkret verfügbare Arbeitsplätze oder Aufgaben genommen werden, die diesem zugeordnet werden könn-ten. Dafür muss der Betriebsarzt Kenntnis über die spezifischen körperlichen und auch die psychosozialen Leistungsanforderungen eventueller in Frage kommender Arbeits-plätze aufweisen – eine Kompetenz, die der Betriebsarzt aufweisen sollte. Diese konkreten berufsbezogenen Aufgaben und Anforderungen müssen in die unterschiedlichen Aktivitätskategorien übersetzt bzw. sollten durch diese beschrieben werden. Dies bedeutet z. B., dass ein Arbeitsplatz an einem Bankschalter durch die Aktivitätskategorien Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeit, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit sowie die Kenntnis über die spezifischen Aufgaben und die Fähigkeit zur Strukturierung dieser Aufgaben, der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit sowie das Konzentrationsvermögen charakterisiert ist. Die abschließende Beurteilung, inwieweit der Mitarbeiter spezielle berufliche Anfor-derungsprofile erfüllen kann, resultiert dann aus der Bewertung der Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters in Bezug auf die unterschiedlichen Anforderungen, die mit dem konkreten Arbeitsplatz verbunden sind.
Indikation zur vertiefenden Diagnostik und Therapie
Soweit die dem Betriebsarzt verfügbaren diagnostischen Kompetenzen nicht zu einer angemessenen Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit im konkreten Fall bzw. der konkreten Problemstellung ausreichen, ist ggf. eine zusätzliche testpsychologische Untersuchung indiziert. Diese kann z. B. Symptomskalen (allgemeine oder spezifische wie z. B. Depressions-, Angstskalen oder Schmerzskalen) umfassen, ggf. auch Persönlichkeitstests. Sicherlich sind häufiger auch spezielle neuropsychologische Tests angezeigt, um eventuelle Begrenzun-gen auf der kognitiven Ebene zu überprüfen, wie dies z. B. bei fraglichen demenziellen Erkrankungen oder beruflichen Rehabilitanden nach Schlaganfall indiziert sein kann. Aber auch hier besteht die besondere Anforderung darin, die Testergebnisse in ihrer Aussagekraft für die Fähigkeit des Mitarbeiters für einen konkreten Arbeitsplatz zu bewerten. So sollten die mit der Testung verbundenen Fragestellungen so detailliert wie möglich bereits vorab zwischen dem Betriebsarzt und dem untersuchenden Psy-chologen sowie auch die Schlussfolgerun-gen, die sich aus den Untersuchungsbefun-den ergeben, diskutiert werden. Erfahrungsgemäß benötigt es eine gewisse gemeinsame Erfahrung zwischen den Beteiligten, um die Beurteilung der Eignung eines Rehabilitanden für einen konkreten Arbeitsplatz vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist natürlich die Frage von Bedeutung, inwieweit in einem Betrieb entsprechende Experten zur Verfügung stehen, um die hier diskutierte Testpsychologie angemessen um-zusetzen. Soweit dies der Fall ist, sollte der Betriebsarzt wie z. B. die Psychologen eine gute Grundlage haben, die entsprechenden Problemstellungen inhaltlich angemessen umzusetzen. Schwieriger wird es bei dem Einsatz von externen Experten, da mit die-sen eine Verständigung über die inhaltliche Fragestellung, die zu verwendenden Tests, deren Aussagekraft für die konkret zu planende beruflichen Rehabilitationsziele und -möglichkeiten (ist der Rehabilitand für ei-nen konkreten Arbeitsplatz geeignet?) sicherlich problematischer ist, da die Arbeits-platzanforderungen für den externen Psychologen weniger bekannt sind. Allerdings muss aus unserer Sicht auch darauf hingewiesen werden, dass die Übertragung von Testergebnissen auf die Leistungsfähigkeit für bestimmte Arbeitsplätze als problema-tisch anzusehen ist. Ein besonderes Problem ergibt sich daraus, dass wir eine Prognose über die zukünftige Entwicklung der Leistungsfähigkeit auf den unterschiedlichen psychischen Ebenen (Emotionalität, Kognition und Verhalten) abgeben sollten. Dies ist vor allem bei chronischen und ggf. progredienten Erkrankungen problematisch.
Weiterhin wird beim Vorliegen von relevanten psychischen Erkrankungen häufig eine weiterführende spezifische psychotherapeutische oder auch psychosomatisch-psychiatrische Behandlung indiziert sein. Hier wird in der arbeitsmedizinischen Empfehlung des Ausschusses für Arbeitsmedizin zum Thema „Psychische Gesundheit im Be-trieb“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013) formuliert, dass der Betriebs-arzt durch seine unmittelbare Präsenz in den Betrieben und als ärztliche Anlaufstelle für Beschäftigte mit psychischen Erkrankungen grundsätzlich in der Lage sei, die Betroffe-nen schnell und kompetent in Behandler-netzwerke zu integrieren. Als elementare Voraussetzung dafür wird eine enge Kooperation zwischen Arbeitsmedizinern, nieder-gelassenen Therapeuten und Fachkliniken bei der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen angesehen. Entsprechende Kooperationen finden sich zunehmend, wie z. B. aus entsprechenden Veröffentlichungen (siehe z. B. Preiser et al. 2015), aber auch aus den Berichten unserer Weiterbildungsteilnehmer zur psychosomatischen Grundversorgung hervorgeht.
Abschließend soll noch explizit darauf hingewiesen werden, dass häufig nicht allein berufliche Problemkonstellationen zu psychischen Schwierigkeiten bei Mitarbeitern führen, sondern auch Konflikte im Privatleben oder biografische Einflüsse, wie z. B. spezielle konflikthafte Entwicklungen oder auch persönlichkeitsstrukturelle Defizite, die zu einer erhöhten Vulnerabilität für die Herausbildung von psychischen Erkrankungen führen. Etwaige arbeitsbezogene Probleme sind dann oftmals weniger als ur-sächlich für die Entstehung von psychischen Fehlentwicklungen anzusehen; sie stellen vielleicht einen Auslöser für die psychische Dekompensation dar oder sind kaum von Relevanz für die „kritische“ Entwicklung. In diesen Fällen ist eine grundlegende psychotherapeutische Behandlung indiziert, die Bezug auf entwicklungs- und verhaltenspsychologische Faktoren nimmt. In diesem Kontext stellen sich vor allem zwei Probleme. Zum einen ist es aktuell – und dies vor allem für die Betroffenen „en vogue“ oder hoch attraktiv –, etwaige psychische Probleme oder Erkrankungen als durch die Arbeitswelt verursacht zu attribuieren, da diese Bewertung den Betroffenen potenziell entlastet. Nicht er ist „schuld“ an seinen psychischen Problemen, sondern die Überforderung durch Arbeitsbedingungen, die ein hohes psychosoziales Risiko aufweisen würden (s. Gefährdungsbeurteilung). Auf der anderen Seite neigen ärztliche und psychologische Psychotherapeuten dazu, die Probleme ihrer „Patienten“ zu oft als Ausdruck einer psychischen Erkrankung zu werten, für die eine Psychotherapie angezeigt ist. Dadurch werden unserer Sicht nach allzu oft „Pathologisierungsprozesse“ in Fällen ausgelöst, in denen eine kompetente Beratung zu den spezifischen beruflichen Problemen, die häufig ein Resultat aus den konkreten Arbeitsbedingungen und den damit verbundenen Problemen oder Konflikten sowie den persönlichen Haltungen und Motiven des Mitarbeiter darstellt, hinreichen würde. Auch in Bezug auf diese Fragestellung kommt dem Betriebsarzt eine wichtige Funktion zu. Er sollte ein Gespür für das Bedingungsgefüge der psychosozialen und psychischen Probleme der von ihm beratenden Mitarbeiter aufweisen und entsprechende Empfehlungen oder Wertungen an die von ihm empfohlenen psychotherapeutischen Experten geben.
Literatur
Merten T, Dohrenbusch R: Psychologische Methoden der Beschwerdenvalidierung. In: Schneider W, Hen-ningsen P, Dohrenbusch R, Freyberger HJ, Irle H, Köllner V, Widder B: Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Autorisierte Leitlinien und Kommentare. Bern: Hans Huber, 2012, S. 186–222.
Pouget-Schors D, Schneider W, Birke K, Sellschopp A, Dahlbender RW: Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen. In: Dahlbender RW, Buchheim P, Schüßler G (Hrsg.): OPD – Lernen an der Praxis. Bern: Hans Huber, 2004, S. 69–82.
Preiser C, Wittich A, Rieger MA: Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb Gestaltungsformen des An-gebots. Stuttgart: Thieme, 2015.
Schneider W, Dohrenbusch R, Freyberger HJ et al.: Manual zum Leitfaden „Begutachtung der berufli-chen Leistungsfähigkeit bei psychischen und psycho-somatischen Erkrankungen. In: Schneider W, Hen-ningsen P, Dohrenbusch R et al. (Hrsg.): Begutach-tung bei psychischen und psychosomatischen Erkran-kungen. Autorisierte Leitlinien und Kommentare. Bern: Hans Huber, 2012, S. 423–498.
Schneider W, Parpart J: Grundprinzipien der Ge-sprächsführung und Beratung. In: Schneider W, Gerecke U, Kastner M, Parpart J, Peschke M (Hrsg.): Psychosoziales Gesundheitsmanagement im Betrieb. Ein Praxisbuch für Betriebsmediziner und Personal-management. Bern: Hans Huber, 2013, S. 143–160.
Die vollständige Literaturliste kann bei Bedarf per E-Mail über das ASU-Redaktionsbüro angefordert werden (asu@hvs-heidelberg.de).
Autorin
Lara Sherman
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Pflüger Rechtsanwälte GmbH
Kaiserstraße 44
60329 Frankfurt