Epidemiologische Aspekte
Psychische Erkrankungen sind inzwischen mit Abstand die häufigste Ursache für Frühberentungen und stehen an zweiter Stelle der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage, s. unten) Daher ist es von eminenter Bedeutung, dass Betriebsärzte hinsichtlich psychischer Erkrankungen Grundkenntnisse haben, beraten können und hilfreiche Netzwerke für eine zügige Behandlung kennen.
Nach den Zahlen des Gesundheitssurveys entwickeln 43 % aller Deutschen im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung und jeweils 31 % in einem 12-Monats-Zeitraum (Wittchen 2011).
Krankschreibungen aufgrund psychiatrischer Diagnosen haben sich in den letzten 15 Jahren etwa verdreifacht und stehen inzwischen mit 16 % des gesamten Krankheitsgeschehens hinter orthopädischen Erkrankungen (25 %) und vor den Atemwegserkrankungen (14 %) sowie unfallbedingten Erkrankungen (11 %) (BKK Gesundheitsreport 2017, s. „Weitere Infos“).
Im Gegensatz zu den orthopädischen Erkrankungen, bei denen die AU-Zeiten über das Lebensalter stetig ansteigen und sich bis zum 60. Lebensjahr verfünffacht haben, verursachen psychische Erkrankungen über die gesamte Lebensspanne etwa gleich hohe Fehlzeiten. Die am häufigsten gestellte psychiatrische Diagnose ist die Angsterkrankung (12-Monats-Prävalenz 14 %), gefolgt von Schlafstörungen (8 %) schweren Depressionen (7 %), Aufmerksamkeits- Defizit-Syndrom (5 %), somatoformen Störungen (4,9 %), Alkoholabhängigkeit (3,7 %) und Psychosen (1,2 %) (Wittchen 2011).
Die für den tätigen Betriebsarzt wichtigsten psychischen Erkrankungen sollen im Folgenden hinsichtlich der sich ergebenden Implikationen dargestellt werden.
Ausgewählte Störungsbilder mit ihrer arbeitsmedizinischen Relevanz
Angststörungen
Hier stehen die phobischen Störungen an erster Stelle. Ätiologisch wird davon ausgegangen , dass die genetische Komponente zu ca. 50 % zur Erkrankung beiträgt. Darüber hinaus werden ungünstige Umweltfaktoren (sowohl hinsichtlich der Kindheitsentwicklung als auch der aktuellen Lebenssituation) als Mitverursacher gesehen. Grundsätzlich besteht nur dann Handlungsbedarf, wenn deutlicher Leidensdruck besteht und wichtige Bereiche im beruflichen oder privaten Leben störungsbedingt nicht mehr ausgeführt werden können. So ist beispielsweise eine Spinnenphobie meist nicht behandlungsbedürftig.
Als Behandlungsmethode der Wahl haben sich sowohl die kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionstraining als auch die medikamentöse Behandlung mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern bewährt, ggf. auch die Kombination aus beiden. Benzodiazepine sollten nur in Ausnahmefällen und dann zeitlich begrenzt verordnet werden. Es ist nicht vorrangig, nach der vermeintlichen Ursache für die Angststörung zu suchen, denn das ist oft ausgesprochen spekulativ und führt meist nicht voran. Vor allem, wenn es sich um die „Schuldfrage“ handelt, besteht die Gefahr, dass Betroffene sich als hilfloses Opfer sehen; wichtiger für eine erfolgreiche Behandlung ist es stattdessen, durch Übungen und Vermittlung von Hintergrundwissen den Menschen dazu zu verhelfen, ihre Symptome unter Kontrolle zu bekommen.
An den Betriebsarzt treten Mitarbeiter vorzugsweise dann heran, wenn sie wegen phobischer Ängste von bestimmten Tätigkeiten (z.B. Besteigen von Leitern, Tragen von Atemschutz, Begehen von engen Behältern/Räumen) über ein ärztliches Attest befreit werden wollen. Bewährt hat sich, dass mit Unterstützung des Arztes ein Psychotherapeut gefunden wird und eine Freistellung von der angstbesetzten Tätigkeit für die Dauer der Psychotherapie (also meist für ca. 12 Monate) empfohlen wird. Meist wird eine zeitlich befristete Freistellung dann auch betrieblich akzeptiert; nicht immer ist dieser Zeitrahmen jedoch dann wirklich ausreichend. Gelegentlich nutzen die Mitarbeiter auch diese Zeit, um einen anderen Arbeitsplatz zu finden.
Nicht selten ist eine Arbeitsplatzphobie Auslöser einer langen Krankschreibung. Häufig ist der Auslöser ein eskalierter interpersoneller Konflikt oder neue, angstbesetzte Arbeitsaufgaben. Dann ist es sinnvoll, möglichst bald mit therapeutischer Unterstützung wieder mit einer vorsichtigen Annäherung an den Arbeitsplatz zu beginnen – z. B. mit dem Besuch einer Vertrauensperson in der Mittagspause. Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten erschweren den Wiedereinstieg erheblich. Eine Wiedereingliederung muss oft v.a. anfangs mit langsamer Steigerung der Arbeitszeit und reduzierter Komplexität der Aufgaben beginnen. Dabei ist die Ermutigung des Mitarbeiters, der nicht zu schnell zu viel von sich erwarten sollte, wichtig. Besteht allerdings eine unüberwindbare Überforderungssituation als Auslöser der Erkrankung, muss eruiert werden, ob der Mitarbeiter von gewissen Aufgaben (vorläufig?) befreit werden kann oder ob ein Arbeitsplatzwechsel sinnvoll erscheint. Bei eskalierten interpersonellen Konflikten ist eine Trennung der Konfliktpartner oft unvermeidlich.
Burnout, Anpassungsstörung, Depression und bipolare Störungen
Seit etwa 10 Jahren stehen die Depression und vor allem der unscharfe Burnout-Begriff im breiten medialen Interesse. Dabei wird kontrovers diskutiert, welchen Beitrag zur Auslösung dieser Erkrankung die veränderten Arbeits- und Lebenswelten leisten. Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die zunehmende Entstigmatisierung psychischer Störungen anscheinend auch zu einem veränderten Diagnoseverhalten geführt hat. Patienten sind jetzt eher bereit, auch die Zusatzdiagnose Burnout oder die Diagnose Depression für sich zu akzeptieren und bei entsprechender Diagnose sich behandeln zu lassen; so stellen Ärzte aus Rücksicht auf ihre Patienten vermutlich inzwischen seltener eine Ausweichdiagnose. Insofern waren psychische Erkrankungen in der Vergangenheit wahrscheinlich eher unterdiagnostiziert und spiegeln jetzt besser die Realität wider (Jacobi 2017).
Andererseits ist es unbestreitbar, dass für viele Berufstätige der psychische Druck gestiegen ist: Wir beobachten Arbeitsverdichtung und hohe Anforderungen an Flexibilität, Teamfähigkeit, Selbstorganisation und Selbstkritik, dazu oft auch noch hohe eigene Karriere-Erwartungen, die in der Summe leicht zu einer fatalen Selbstüberforderung führen.
Chronische Überforderungssyndrome können Handlungsblockaden auslösen („Burnout“) und das wiederum provoziert psychische und psychosomatische Erkrankungen – von Angststörungen über Phobien und verschiedenste somatoforme Störungen bis hin zur Depression.
Die Spannbreite der Schwere und der Auswirkungen dieser Störungsbilder auf die Lebensbewältigung ist groß.
Die Abgrenzung zwischen einer Anpassungsstörung und der depressiven Episode wird oft nicht korrekt gezogen. Im ersten Fall steht eine Belastungssituation im Vordergrund, die die Bewältigungskompetenz des Betroffenen übersteigt; die Kernsymptome der Depression (tiefe Niedergeschlagenheit mit negativer Zukunftserwartung, Unfähigkeit, sich an bislang als beglückend erlebten Situationen zu freuen, Antriebslosigkeit, Entscheidungsunfähigkeit) sind allerdings nicht ausgeprägt. Während mittelgradige und vor allem schwere depressive Episoden häufig wirkungsvoll und z. T. auch schnell mit Antidepressiva, evtl. in Kombination mit Psychotherapie, behandelt werden können, sind Medikamente bei einer Anpassungsstörung meist nicht erforderlich. Eine kurze Psychotherapie kann in solchen Fällen oft ausreichen. Bei der Behandlung depressiver Erkrankungen verbessern sich die Krankheitssymptome unter antidepressiver Medikation üblicherweise schneller als bei einer Psychotherapie, dafür zeigt Letztere in der Langzeitbeobachtung weniger Rezidive. Antidepressiva sollten nach Abklingen der Symptome noch etwa ein halbes Jahr weiter eingenommen werden, um Rückfällen vorzubeugen. Erst dann sollte behutsam ausgeschlichen werden.
Wenn Mitarbeiter stabil auf ein Antidepressivum eingestellt sind, bestehen in der Regel keine Bedenken gegen Fahr- und Steuertätigkeiten, Umgang mit Gefahrstoffen u.Ä. Bei den älteren, sedierenden Antidepressiva sollte in den ersten Wochen nicht Auto gefahren werden, danach ist bei gleichbleibender Medikation das Risiko der Unfallverursachung nicht mehr signifikant erhöht. Die neuen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer beeinträchtigen die Fahrtüchtigkeit vermutlich nicht erheblich. Bei Benzodiazepinen hingegen muss die Eignung sehr kritisch begutachtet werden (Brunnauer 2014).
Bei bipolaren Störungen wechseln sich depressive Phasen mit manischen Episoden ab. Letztere sind besonders herausfordernd für den Betriebsarzt, da die Krankheitseinsicht typischerweise fehlt. Ideen und Pläne überschlagen sich, vieles wird angefangen, nichts zu Ende geführt, Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne sind erheblich eingeschränkt. Typisch ist außerdem ein enthemmtes Verhalten, Gereiztheit (insbesondere wenn die Vorhaben nicht realisierbar sind) und eine Neigung zu übersteigerten Geldausgaben. Oft wird der Mitarbeiter dem Betriebsarzt zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vorgestellt. Diese ist in der Akutphase in der Regel nicht gegeben. Den Betroffenen dazu zu bewegen, sich krankschreiben und medikamentös behandeln zu lassen, ist vor allem in der ersten Erkrankungsphase äußerst heikel und fordert viel Geduld, Freundlichkeit und Frustrationstoleranz.
Neben der Behandlung der akuten Störung mit Antidepressiva bzw. Neuroleptika (in der manischen Phase) kommen auch Phasenprophylaktika – oft als Lebenszeitmedikation – zur Anwendung. Altbewährt ist Lithium, das einzige Medikament, das nachweislich antisuizidal wirkt, außerdem werden damit auch Schwere und Häufigkeit der Phasen reduziert. Bipolare Störungen sind in der depressiven Phase mit einem besonders hohen Suizidrisiko belastet.
Schizophrene Psychosen
Auch hier ist die fehlende Krankheitseinsicht ein großes Problem – vor allem bei der Erstmanifestation. Aber auch das Misstrauen der Erkrankten, die häufig nicht offen über ihre Symptome sprechen, macht den Umgang schwierig. Teilweise liegt die Zurückhaltung darin begründet, dass Erkrankte ihre Kollegen, Vorgesetzte und Ärzte als Teil eines gegen sie aktiven Komplotts sehen, in anderen Fällen gehen sie davon aus, dass ihre Gedanken, Schlussfolgerungen und Überzeugungen vom Umfeld nicht geteilt werden und sie wollen diese dann nicht diskutieren. So fällt am Arbeitsplatz manchmal nur auf, dass die Betroffenen nicht mehr produktiv arbeiten können und sich zurückziehen. Darauf angesprochen, sind ihre Begründungen nicht nachvollziehbar. Manchmal fällt ein pseudophilosophisches Reden auf. Meist beziehen sich die wahnhaften Gedankeninhalte auf Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen. Erkrankte fühlen sich beobachtet, hören z.T. Botschaften aus dem Fernseher, die an sie persönlich gerichtet sind und haben das Gefühl, dass andere ihre eigenen Gedanken lesen oder sie gar entziehen können. Eigentlich belanglose Beobachtungen bekommen eine bizarre, bedrohliche Bedeutung (Wahnwahrnehmung).
Oft fällt es im Gespräch mit Betroffenen schwer, den roten Faden zu behalten, was aber sehr wichtig ist, um zielstrebig vorgehen zu können.
Der Ärztin, dem Arzt muss ein Spagat aus empathischer Zuwendung und klarem Bekenntnis auf seine andere Sicht dieser geschilderten Wahrnehmungen gelingen. Die Empfehlung, sich wegen der Ängste, Unruhe und Schlafprobleme in psychiatrische Behandlung zu begeben, wird eher akzeptiert als die Indikation „Behandlung des Wahnsystems“. Die Einbeziehung von Kollegen und Familienangehörigen kann hilfreich sein. Meist müssen mehrere Gespräche geführt werden, um eine Behandlungsbereitschaft zu erreichen. Wichtig ist es, dazu beizutragen, dass eine kontinuierliche Krankschreibung stattfindet, um nicht Anlass zu einer Kündigung zu geben. Eine Kooperation mit den außerbetrieblichen Behandlern ist besonders wichtig.
In der akuten Psychose ist der Erkrankte nicht arbeitsfähig. Die Behandlung bis zur Überwindung der Wahnsymptome dauert meist Monate. Nach dieser Akutphase besteht bei 70 % der Betroffenen ein unterschiedlich schweres Residualsyndrom mit Konzentrationsproblemen, Antriebsminderung, gedrückter Stimmung, Gefühlsverflachung und Schwierigkeiten der Aufmerksamkeitsfokussierung. Sie wirken unnahbar, der Umgang mit anderen Menschen ist für sie außerordentlich anstrengend. Die Betroffenen brauchen klar abgegrenzte, möglichst eigenständig zu erledigende Aufgaben. Oft sind vor allem beim Wiedereinstieg einfachere Routineaufgaben ohne Komplexität günstig. Manchmal können die Mitarbeiter allmählich wieder in ihrem bisherigen Aufgabengebiet eingesetzt werden, häufiger jedoch muss ein einfacherer Arbeitszuschnitt gesucht werden. Wegen erheblicher Nebenwirkungen wie z.B. den irreversiblen Spätdyskinesien, wird in der modernen Pharmakotherapie versucht, so niedrig wie möglich zu dosieren, selbst wenn die Symptomatik dann nicht völlig unterdrückt ist. Zunehmend werden gut differenzierte und zuverlässige Patienten auch unterstützt, wenn sie sich entschließen, die Medikation nur dann einzunehmen, wenn erste Psychosesymptome wieder auftreten. Das könnte die Lebenszeitdosis der Neuroleptika reduzieren.
Suizidalität
Wie ein Herzinfarkt in der Inneren Medizin ist die Suizidgefahr ein psychiatrischer Notfall mit der Notwendigkeit, sich umgehend die Zeit für ein eingehendes Gespräch zu nehmen und dann die Weichen für das weitere Vorgehen zu stellen. Bei ernsten Suizidabsichten eines Betroffenen ist die Ärztin/der Arzt nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ (PsychKG) verpflichtet, diesen in eine geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Der Berater im Betrieb muss also die Gründe für die Verzweiflung ernst nehmen. Wenn diese bagatellisiert werden, fühlt sich der Mensch unverstanden, verschließt sich nach außen und im Ernstfall vollzieht er den Suizid.
Sehr viele Menschen in Umbruchsituationen, bei depressiven Krisen oder bei schwerer Erkrankung sehen ihr Leben als Bürde, Todeswünsche sind dann nicht ungewöhnlich. Diese Gedanken gezielt zu erfragen, ist wichtig, denn taktvoll angesprochen, kann das Reden darüber entlastend für den Betroffenen sein („Ist Ihnen, wenn diese Traurigkeit besonders schlimm ist, auch schon der Gedanke gekommen, dass Sie so nicht weiterleben wollen?“). Das kann der Türöffner für Betroffene sein, ihre widerstrebenden Gefühle zu äußern. An ihren Reaktionen ist meist zu erkennen, wie intensiv sie sich mit solchen Fantasien schon auseinandergesetzt haben. Falls Suizidideen bestätigt werden, ist es erforderlich, mit offenen Fragen empathisch Genaueres zu erfahren, um das aktuelle Risiko einschätzen zu können: Existieren konkrete Suizidplanungen? Wie ausgeprägt sind Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung? Werden mögliche Lösungen der Dilemmata gesehen? Bestehen Ressourcen, gibt es Bezugspersonen? Bestehen Suizide in der Anamnese oder in der Familienanamnese?
Wenn sich der Arzt ein genaueres Bild von Risikofaktoren (siehe obige Fragen) und möglichen Ressourcen (Wo könnte Hoffnung sein? Was hielt ihn bisher vom Suizid ab?) gemacht hat, muss er entscheiden, ob er dem Betroffenen zutraut, Suizidimpulsen weiter zu widerstehen, evtl. wird auch ein „Anti-Suizid-Pakt“ geschlossen.
Bestehen Anhaltspunkte, die für eine weiterhin bestehende akute Suizidgefahr sprechen, wird der Arzt dem Betroffenen erklären, dass er aus seiner ärztlichen Sorgfaltspflicht heraus eine Einweisung ins regional zuständige Psychiatrische Krankenhaus ausstellen wird. Wenn das Gespräch davor gut gelaufen ist und der Arzt seine Entscheidung mit Überzeugung vertritt, wird sich eine Zwangseinweisung fast immer vermeiden lassen. Über die Notwendigkeit einer stationären Behandlung wegen Eigengefährdung entscheidet dann nach einem weiteren eingehenden Gespräch der diensthabende Psychiater.
Kann der Mitarbeiter hingegen glaubhaft versichern, dass die Gedanken zwar schon öfter aufgetaucht sind, aber ausreichend viele Gründe ihn davon abhalten, wird das weitere Vorgehen geplant: Wer sind die nächsten Ansprechpartner und Bezugspersonen? Wie und wann können sie einbezogen werden? Falls möglich, sollte gleich Kontakt zu einer Person des privaten Umfelds aufgenommen werden, z.B. wenn der Mitarbeiter sich von einer Vertrauensperson abholen lässt. Außerdem wird geklärt, inwiefern die Inanspruchnahme professioneller Hilfe sinnvoll ist und dies dann ggf. gemeinsam in die Wege geleitet. Schließlich wird die nächste Kontaktaufnahme verbindlich vereinbart. Der Arzt sollte die Telefonnummer des Mitarbeiters und möglichst auch eines Angehörigen erfragen. Falls der Mitarbeiter sich zum vereinbarten Zeitpunkt nicht gemeldet hat, sollte zeitnah eine Kontaktaufnahme von Seiten des Arztes erfolgen.
Ein suizidaler Mensch möchte sich nicht umbringen, sondern er will nicht so weiterleben. Insofern ist ein therapeutischer Ansatz, die (Er-)Lebenssituation so zu verändern, dass sie wieder sinnhaft und erträglich erscheint. Hilfreich erscheint da der Satz vom Lyriker Rainer Kuntze: „Suizid – die letzte aller Türen, doch nie hat einer alle Türen schon versucht.“
Handlungsfelder des Betriebs-arztes von Prävention bis Wieder- eingliederung
Prävention psychischer Erkrankungen bedeutet Förderung eines positiven Betriebsklimas, Unterstützung von Vorgesetzten bei der Realisierung einer gesundheitsorientierten Führungskultur, Förderung von Resilienz und Entspannungsfähigkeit aller Mitarbeiter sowie ein frühes Eingreifen bei Störungen des Betriebsfriedens. Darüber hinaus müssen Menschen befähigt und ermutigt werden, rechtzeitig die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu erkennen und diese dann auch nach außen zu vertreten. Der Mitarbeiter soll durch seine berufliche Arbeit weder seine körperliche noch seine psychische Gesundheit opfern. Daher muss die Förderung der seelischen Gesundheit in den betrieblichen Gesundheitsförderungsprogrammen genauso zum Thema gemacht werden wie die Diabetesprävention und Früherkennung eines Hypertonus oder eines Darmpolypen. Bewährt haben sich z.B. Kurse zur Förderung der Resilienz, Entspannungsfähigkeit und Konfliktfähigkeit.
Es ist zu hoffen, dass die Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen dazu beiträgt, das Thema Psychische Gesundheit besser im Handeln der betrieblichen Verantwortungsträger zu verankern.
Akutintervention: Wenn trotz aller Bemühungen psychische Überlastungsstörungen oder andere psychiatrische Erkrankungen auftreten, geht es darum, möglichst schnell und passgenau professionelle Behandlung zu vermitteln. Dabei hilft ein persönliches regionales Netzwerk, in dem Kontakte zu Krankenkassen, Rehabilitationseinrichtungen, niedergelassenen Kollegen und eventuell einem Employee Assistant Program besteht. Die langen Ausfallzeiten bei psychischen Erkrankungen sind nämlich nicht zuletzt auf eine verspätet einsetzende Behandlung zurückzuführen.
Die Wiedereingliederung (WE) nach längerer Erkrankung kann dazu beitragen, dass Abwesenheitszeiten verkürzt werden, da Mitarbeiter so weniger Ängste haben, ihre Arbeit zumindest teilweise wieder aufzunehmen – auch wenn sie sich noch nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte fühlen. Der Arbeitgeber ist nach § 84 Abs. 2 SGB IX dazu verpflichtet, diese, wenn immer möglich, anzubieten. Seither wird dieses Instrument immer häufiger eingesetzt.
In der BASF SE stieg die Anzahl der durchgeführten betrieblichen Eingliederungen kontinuierlich von 235 im Jahr 1996 auf 624 in 2017. Die Wiedereingliederungen bei psychischen Erkrankungen sind in der BASF SE ebenso wie bei somatischen Erkrankungen in über 90 % erfolgreich. 2017 waren psychiatrische Erkrankungen mit 200 von den 624 Wiedereingliederungen die häufigste Krankheitsgruppe. Die zeitlichen Verläufe unterschieden sich kaum von den übrigen somatischen betrieblichen Eingliederungen. Die Zeitspanne bis zu Beginn der Maßnahme war allerdings etwas länger. Als relevantester Unterschied zwischen den beiden zeigte sich jedoch, dass bei psychiatrischen Eingliederungen mehr als 3-mal häufiger ein Arbeitsplatzwechsel erfolgt (8 % vs. 26 %). Dies kann wohl als Indiz dafür gewertet werden, dass der Arbeitsplatz oft eine wesentliche Rolle für das Erkrankungsgeschehen gespielt hat. Daher sollte die Arbeitsplatzsituation vom betreuenden Betriebsarzt eingehend exploriert werden, eventuelle Probleme müssen im Vorfeld angegangen werden.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Brunnauer A, Widder B, Laux G: Grundlagen der Fahreignungsbeurteilung bei neurologischen und psychischen Erkrankungen. Nervenarzt 2014; 85: 805–810.
Jacobi F, Linden M: Macht die moderne Arbeitswelt psychisch krank oder kommen psychisch Kranke in der modernen Arbeitswelt nicht mehr mit? ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 530–536.
Wittchen HU, Jacobi F et al: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. Eur Neuropsychopharmacol 2011; 21: 655–679.
Weitere Infos
BKK Gesundheitsreport 2017: Digitale Arbeit – Digitale Gesundheit
Autorin
Dr. med. Kristin Hupfer
BASF SE, FEH-AP
Carl-Bosch-Straße 37
67056 Ludwigshafen am Rhein