Die These beruht auf der wissenschaftlichen Grundsatzarbeit von Nico Dragano zu neuen digitalen Arbeitsformen, psychosozialen Arbeitsbelastungen und gesundheitlichen Konsequenzen. Auf der Basis von mehr als 40 Untersuchungen hat er Entwicklungen zu Technologien zur elektronischen Information und Kommunikation sowie zur Steuerung von Arbeitsabläufen und Maschinen zusammengefasst. Die Untersuchungen zeigen Chancen und Risiken dieser Entwicklung. Als Risiken ergeben sich vor allem psychische Belastungen durch schlechte Bedienbarkeit, Arbeitsintensivierung und technische Störungen, als positive Effekte Möglichkeiten einer besseren Arbeitsorganisation durch digitale Unterstützung. Diese Chancen werden bisher nur in beschränktem Umfang genutzt, denn dies setzt voraus, dass bereits bei der Planung solcher Arbeitsabläufe und Arbeitsplätze ergonomische, arbeitswissenschaftliche und arbeitsmedizinische Erkenntnisse beachtet werden. Ebenso hat es sich als erforderlich gezeigt, dass Information, Unterweisung und Weiterbildung einen deutlich höheren Stellenwert benötigen, weil mangelnde Information nicht nur zu Arbeitsdefiziten, sondern auch zu Arbeitsstress und zusätzlichen psychosozialen Belastungen führen kann.
Der Beitrag von Wolfhard Kohte verdeutlicht in juristischer Hinsicht die präventiven betriebsärztlichen Handlungs- und Beratungspflichten und hebt die Notwendigkeit interdisziplinärer Kommunikation und Kooperation mit Sicherheitsfachkräften und Personen mit ergonomischer und arbeitspsychologischer Kompetenz hervor. Als wichtige Chancen der Digitalisierung der Arbeitswelt sieht er die Möglichkeit, Belastungen an Arbeitsplätzen zu reduzieren und gezielt geeignete Hilfsmittel einsetzen zu können. Das bewirkt eine Änderung der Begutachtungsperspektiven: Es geht nicht mehr vorrangig um die Defizite der Beschäftigten, sondern um deren Ressourcen und die Gestaltungsmöglichkeiten durch neue Hilfsmittel. In Kooperation mit Integrationsämtern und Schwerbehindertenvertretungen sind hier auch für kleinere und mittlere Unternehmen effektive Unterstützungsmaßnahmen möglich.
Betje Schwarz und Uta Wegewitz (BAuA, Berlin) haben in ihrem Projekt ein Thema aufgegriffen, das bereits in der Dezember-Ausgabe der ASU 2017 mit dem Schwerpunkt „Return to work“ ausführlich beschrieben wurde. Der spezielle Beitrag der Forschung von Schwarz und Wegewitz besteht darin, dass sie im Rahmen einer empirischen Studie die Chancen und Schwierigkeiten der Kooperation betrieblicher und medizinisch-klinischer Akteure untersucht haben. Hierbei lassen sich idealtypisch verschiedene Herangehensweisen unterscheiden. Für die psychotherapeutische Methode ist ein individuumsbezogener Coaching-Ansatz typisch, der vor allem auf eine Verhaltensänderung der Patienten abzielt. Dagegen finden sie innerbetrieblich einen kontextbezogenen Fallmanagementansatz, für den die Verhältnisprävention im Mittelpunkt steht. Für die Kooperation – zum Beispiel im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation – ist es wichtig, kooperative Wege zur innerbetrieblichen Eingliederung zu finden.
Dietrich Milles und Joanna Wiese (Bremen/Heidelberg) haben Chancen untersucht, die sich aus der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) für die betriebliche Gesundheitspolitik ergeben. Als Schwerpunkt untersuchten sie ein Interventionsprojekt zur Ressourcenentwicklung durch spezifische sportliche Aktivierung als Ziel der betrieblichen Gesundheitsförderung, denn inzwischen liegen gesicherte Erfahrungen vor, dass sportliche Aktivierung ein aussichtsreiches Instrument sein kann. Der besondere Fokus ihrer Untersuchung lag in der Konzentration auf die Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen. Mögliche Ressourcen dieser Personengruppe haben bisher wenig Aufmerksamkeit in Arbeitspolitik und Arbeitsmedizin gefunden; das Interventionsprojekt hat gezeigt, dass eine solche Aktivierung und Ressourcenstärkung jedoch durchaus möglich ist. Sie setzt allerdings auch voraus, dass der Kreis der Vorgesetzten und der Organisatoren solcher Maßnahmen eine spezifische Fortbildung erfährt. Als eine weitere Chance zeigt dieses Projekt, dass eine Zusammenarbeit mit lokalen Sportvereinen Kontakte in den Sozialraum und zu Menschen außerhalb der Werkstätten ermöglicht hatte.
Internationale Perspektiven thematisiert der Beitrag von Felix Welti (Kassel) und Oskar Mittag (Freiburg), der in Kooperation mit Beatrix Redemann (Terveystalo, Finnland) die spezifische Rolle der Arbeitsmedizin im niederländischen und finnischen Arbeits- und Gesundheitssystem aufzeigt. In beiden Staaten sind die Arbeitgeber nachhaltig verpflichtet, Kosten der Arbeitsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit ihrer Beschäftigten zu tragen. Auf dieser Basis besteht eine starke wirtschaftliche Motivation von Arbeitgebern, die gesetzlichen Instrumente zur Wiedereingliederung aktiv zu unterstützen. In Finnland sind durch Gesetz Interventionspunkte nach 30, 60 und 90 Tagen vorgeschrieben. In einem Case Management, an dem die Arbeitsmedizin aktiv beteiligt ist, wird die Anpassung des Arbeitsplatzes geklärt und realisiert. Dadurch ist die Wiedereingliederung gestärkt und der Zustrom zu dauerhafter Invalidisierung deutlich verringert worden. Die Autoren wollen mit ihrem Beitrag diese Modelle nicht schematisch übernehmen, aber Anregungen für eine nachhaltige Teilhabe von chronisch kranken und behinderten Menschen am Arbeitsleben vermitteln.
Joachim Stork hat aus langjähriger betriebsärztlicher Erfahrung zusammengetragen, welche Möglichkeiten sich bereits im Rahmen präventiver Arbeitsplanung und Arbeitsorganisation ergeben. Er hat gezeigt, dass zum Beispiel Arbeitsplätze mit belastender Lastenhandhabung in aller Regel umgestaltet werden können und nicht selten auch arbeitsschutzrechtlich umgestaltet werden müssen. Zugleich dokumentieren seine Beispiele, dass die Nutzung neuer Informationstechnologien ebenfalls einer rechtzeitigen und prospektiven Planung bedarf, um Arbeitsverdichtung und Arbeitsstress zu vermeiden bzw. zu verringern.
Autor
Prof. Dr. Wolfhard Kohte
Gründungsprofessur Zivilrecht II
Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg
Universitätsplatz 5
06108 Halle (Saale)