Einleitung
Der bekannte Wandel der Arbeitswelt hat sich durch die Digitalisierung deutlich beschleunigt. Innovative Technologien durchdringen Märkte immer schneller und oft werden neue Techniken oder Arbeitsweisen in der Praxis angewendet, bevor ihre Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit der Menschen hinreichend geprüft sind.
Die BAuA hat das Ziel, Beiträge zu einer menschengerechten Gestaltung der digitalisierten Arbeitswelt zu leisten. Sie konzentriert sich mit ihren Forschungsschwerpunkten auf Bereiche, die mit besonderen Risiken, Chancen oder offenen Fragen einhergehen. Im Fokus stehen hierbei neue Technologien bei Produkten, Arbeitsmitteln und bei Arbeitssystemen, wie z.B. Assistenzsystemen oder Robotern. Weiter werden neue Möglichkeiten zur Gestaltung der Arbeitsumgebung und übergreifende Fragen des sozialen Wandels der Arbeitswelt bearbeitet, wozu beispielsweise repräsentative Panelstudien zu Fragen der sich verändernden Arbeitsbedingungen im Allgemeinen oder spezifischer zur Arbeitszeit (Wöhrmann et al. 2016) durchgeführt werden. Im Folgenden werden exemplarische Forschungsthemen mit dem Schwerpunkt der innovativen Technologien dargestellt.
Neue Fragen der Produktsicherheit durch Digitalisierung
Die Digitalisierung wirft neue Fragestellungen hinsichtlich der Produktsicherheit auf. Ein Thema von übergeordneter Bedeutung sind die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von autonomen Systemen, d.h. solchen, die Methoden des maschinellen Lernens oder auch Formen künstlicher Intelligenz nutzen. In diesem Bereich werden auf der Ebene des Bundes Strategien zur effektiveren Nutzung erarbeitet und diese gilt es mit Standards des sicheren und gesunden Gebrauchs in der Arbeitswelt zu flankieren. Zunächst ist jedoch durch qualitative und quantitative Methoden der Technikfolgenabschätzung zu eruieren, in welchen Bereichen sich die Technologie der künstlichen Intelligenz (KI) am stärksten verbreiten wird und mit welchen Veränderungen sie dann konkret einhergehen könnte. Schon jetzt liegen ethische und juristische Fragen auf dem Tisch, die zum einen grundlegende Prinzipien von Verantwortung in Organisationen und zum anderen die Eignung des existierenden Rechtsrahmens adressieren. Fragen bezüglich möglicherweise neuer regulativer Anforderungen werden auch auf europäischer Ebene gestellt und an den Antworten gilt es, auch dort mitzuarbeiten.
Eine bereits verbreitete und somit sehr konkrete Innovation ist die 3D-Druck-Technologie. Zur Klärung der Rahmenbedingungen dieser Technologie befasst sich die BAuA mit den rechtlichen Aspekten, möglichen Restriktionen oder auch ggf. vorhandenen Anpassungsbedarfen. Denn mithilfe des 3D-Drucks können auch private Anwender zu Herstellern werden, was mit vielfältigen Fragen, beispielsweise hinsichtlich des Auftretens von gefährlichen Stoffen, aber insbesondere auch bezüglich der Rechtsfolgen, verbunden ist (s. auch „Weitere Infos“).
Ein anderes Themenfeld der Produktsicherheit ist die Digitale Ergonomie (Bonin et al. 2018). Hierbei geht es um die Nutzung neuer Technik, konkret sind dies 3D-Laserscanner, zur Erfassung menschlicher Körpermaße. In Zusammenarbeit mit der Universitätsmedizin Greifswald konnte die Datenerhebung und -auswertung für 1600 3D-Bodyscans bereits abgeschlossen werden. Erste Arbeiten zur Wichtung der erhobenen Körpermaße mit Daten der DEGS1-Erhebung des Robert Koch-Instituts wurden durchgeführt. Des Weiteren wurde die Zusammenarbeit zur Erhebung zusätzlicher 3000 3D-Bodyscans entsprechend den bereits bestehenden Standards und Vorgehensweisen fortgesetzt. Mittelfristiges Ziel ist die Vergrößerung der verfügbaren Datenbasis zur Erhöhung der Aussagekraft des abschließend zu erstellenden, gewichteten Datensatzes der anthropometrischen Daten für Deutschland. Diese Daten sollen Nutzern aus den Bereichen Konstruktion und Design zur Verfügung gestellt werden und in die Normungsarbeit einfließen.
Die BAuA unterstützt auch die Marktüberwachungstätigkeiten der Länder, diese ist durch den weltweiten Onlinehandel schwieriger geworden. Ein wichtiges Projekt ist deshalb die Entwicklung einer automatisierten und systematischen Analyse der im Onlinehandel angebotenen Produkte, um mit diesen Produkten verbundene Risiken möglichst frühzeitig identifizieren zu können. Die BAuA entwickelt hierzu eine Software, die mit Data-Mining-Technologie besonders risikobehaftete Produkte im Internet identifizieren kann (Schnura et al. 2018).
Aufbauend auf dem Gutachten zur Marktüberwachung im Onlinehandel (Gesmann-Nuissl u. Grathwohl 2014) hat die Bundesanstalt eine Broschüre zur Sensibilisierung beim Kauf und Verkauf sicherer Produkte im Onlinehandel veröffentlicht (s. „Weitere Infos“).
Sicherheit für die Industrie 4.0
Die Produktion in einer Industrie-4.0-Fabrik soll hoch flexibel sein; so können individuelle Kundenwünsche und wechselnde Nachfragesituationen besser bedient werden. Diese Logik erfordert wandelbare und rekombinierbare Teilsysteme, konkret Maschinen oder Roboter, die sich den wechselnden Anforderungen immer wieder neu anpassen können. Die flexible Steuerung solcher Produktionssysteme erfordert in der Regel ein hohes Maß an informationstechnischer Vernetzung, so dass neben den sicherheitstechnischen Fragen neue Fragen hinsichtlich der informationstechnischen Sicherheit entstehen. Soweit die vernetzte Informationstechnik nämlich steuernde Funktionen übernimmt, kann sie zu neuen Unfallrisiken beitragen. Es müssen also Wechselwirkungen zwischen funktionaler und informationstechnischer Sicherheit und hierbei insbesondere der industriellen Angriffssicherheit untersucht und bewertet werden. Dabei ist zu klären, ob heute verfügbare sicherheitstechnische Bewertungsmethoden, die auf der Annahme eines deterministischen, vorhersagbaren Systemverhaltens (stabiles Produktionssystem) beruhen, potenzielle neue Risiken wandelbarer, rekombinierbarer Produktionssysteme hinreichend sicher erfassen und ob identifizierte Risiken mit praktikablen Maßnahmen reduziert werden können. Gegebenenfalls sind in diesem Feld neue Lösungsansätze zu entwickeln.
Digitalisierung bei soziotechnischen Arbeitssystemen im Betrieb
Mit der Perspektive auf die betriebliche Nutzung neuer Technologien haben die Forschungsarbeiten der BAuA in den vergangenen Jahren einen Schwerpunkt bei Assistenzsystemen gesetzt. Besonderen Stellenwert hat die Forschung zu den Head Mounted Displays, auch Datenbrillen genannt (vor den Augen getragene Bildschirme). An diesen Systemen lassen sich exemplarisch zahlreiche Aspekte untersuchen, die mit den neuen Technologien verbunden sind. Zentral und übergreifend steht die Frage im Raum, inwiefern die Technologie tatsächlich zu einer menschengerechten Arbeitsgestaltung beiträgt oder ob sie nicht vielmehr neue Belastungen und Risiken mit sich bringt. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Head Mounted Displays dann sinnvolle Arbeitshilfen sein können, wenn grundsätzliche ergonomische Kriterien (z.B. Tragekomfort, geringes Gewicht) erfüllt sind und der spezifische Vorteil des Arbeitens mit einem mobilen Display bei gleichzeitig freien Händen zum Tragen kommt. Zu berücksichtigen ist, dass Nutzer der Datenbrillen schneller ermüden können als dies bei einer alternativen Informationsdarstellung der Fall wäre.
Die Forschungsarbeiten der BAuA zu Head Mounted Displays begannen bereits 2009 und werden aktuell in komplexen Anwendungsszenarien, z.B. mit einer Untersuchung zur Unterstützung örtlich getrennter, komplexer Teamaufgaben durch Datenbrillen fortgesetzt. So beschäftigte sich das drittmittelgeförderte Verbundprojekt Glass@Service mit der Entwicklung von Komponenten und Services für neue Generationen smarter Datenbrillen mit Funktionen der erweiterten Realität (s. „Weitere Infos“). Die BAuA nimmt dabei eine wissenschaftliche Bewertung der Chancen und Risiken vor, die mit dem Einsatz derartiger Augmented-Reality-Brillen als Assistenzsysteme verbunden sind. Zudem wurde aktuell ein Rechtsgutachten zum Thema Datenschutz beim Einsatz dieser adaptiven Arbeitsassistenzsysteme eingeholt (Varadinek et al. 2018). Dabei sollen vor allem die Änderungen betrachtet werden, die sich aus der im Mai 2018 in Kraft tretenden EU-Datenschutzgrundverordnung sowie den damit einhergehenden Anpassungen des Bundesdatenschutzgesetzes ergeben.
Insgesamt liegen zu Head Mounted Displays umfängliche empirische Ergebnisse vor, einschließlich einer Broschüre, die bei Fragen des praktischen Einsatzes hilft (BAuA 2016).
Eine besondere Rolle in der aktuellen Forschung der BAuA spielt die Interaktion von Menschen und Robotern. Im Unterschied zu klassischen Industrierobotern ermöglichen neuartige „kollaborative“ robotische Systeme eine direkte Zusammenarbeit mit dem Menschen. Die Schutzzäune der klassischen Industrieroboter können entfallen; die Anforderungen an die sicherheitstechnische Gestaltung und an die Weiterentwicklung der zugrunde liegenden Standards und Normen sind jedoch komplex.
Diese neuen Formen der Robotik verbreiten sich nicht nur im industriellen Kontext, sondern eröffnen auch zahlreiche neue Einsatzmöglichkeiten für Dienstleistungen, beispielsweise auch in der medizinischen Versorgung und Pflege. Hier können Roboter bereits heute schon Transport- oder Lotsenaufgaben übernehmen. Die Forschungsfragen zielen in diesem Bereich insbesondere darauf ab, beispielhafte Anwendungen zu erproben und das Potenzial der neuen Technologien als unterstützende Ressourcen für Beschäftigte zu ermitteln.
Ein erstes Teilvorhaben eines Projekts zu Mensch-Roboter-Teams hatte zum Ziel, eine Taxonomie für verschiedene Formen der Mensch-Roboter-Interaktion zu entwickeln. Mit dem Ergebnis lassen sich verschiedene Szenarien einordnen sowie mit unterschiedlichen Merkmalen beschreiben. Es bietet somit eine grundlegende Systematik für Forschungs- und Gestaltungsfragen der Mensch-Roboter-Interaktion (Onnasch et al. 2016).
Im Zentrum der aktuellen Studien mit Robotern stehen die Veränderung der Arbeitsaufgabe, der entsprechenden menschlichen Tätigkeit und die Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit. Die Gestaltung der Arbeitsaufgabe hat für menschengerechte, lern- und persönlichkeitsförderliche Arbeit zentrale Bedeutung. In den laufenden Studien wird z.B. betrachtet, wie sich unterschiedliche Freiheitsgrade bei der Aufgabenbearbeitung auf die Bewertung der Arbeitssituation durch den Menschen auswirken.
Weiterentwicklung der Schwerpunkte
Eine zukünftig noch stärkere Verknüpfung von Systemen mit selbstlernenden Algorithmen kann den Autonomiegrad eines Roboters, aber auch eines sonstigen maschinellen Produktionssystems weiter erhöhen. Hier stellt sich die Frage, welche neuen Herausforderungen für die menschengerechte Interaktionsgestaltung mit selbstlernenden Systemen verbunden sind. Da Aktionen der Technik zunehmend autonomer erfolgen, kann insbesondere die transparente Systemgestaltung eine Schlüsselrolle einnehmen. Formen des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz werden auch bei den Assistenzsystemen, die Beurteilungs- oder Entscheidungsprozesse unterstützen sollen, den so genannten kognitiven Assistenzsystemen, zu neuen Forschungsvorhaben führen.
Die physischen Assistenzsysteme werden sich in ihrer Hard- und Software verbessern, ihre Anwendbarkeit und somit auch ihr Verbreitungsgrad werden wachsen. Es entstehen neue Chancen einer inklusiven und differenziellen Arbeitsgestaltung, die der Beschäftigungsfähigkeit vieler Menschen zuträglich sein kann. Eine wichtige Gruppe bei diesen Assistenzsystemen, die man allerdings auch als robotische Systeme betrachten kann, sind Exoskelette, am Körper getragene kraftunterstützende Systeme. Mit diesen verbinden Unternehmen große Chancen zur ergonomischen Arbeitsgestaltung. Der arbeitswissenschaftliche und arbeitsmedizinische Kenntnisstand hinsichtlich physiologischer und biomechanischer Auswirkungen ist jedoch noch gering. Hier besteht verstärkter Forschungsbedarf.
Die Nutzung von Big Data, die Steuerung von Systemen mit lernenden Algorithmen und Formen von künstlicher Intelligenz bringen in den kommenden Jahren zahlreiche neue Fragen der Gestaltung sicherer und gesunder Arbeit mit sich. Einige werden sich auch auf die zukunftssichere Ausgestaltung des deutschen Arbeitsschutzsystems beziehen, denn die Digitalisierung scheint mehr als eine langsame Evolution zu sein und in mancherlei Hinsicht ändern sich technologische und betriebliche Prinzipien grundlegend.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Head Mounted Displays – Arbeitshilfen der Zukunft. Bedingungen für den sicheren und ergonomischen Einsatz monokularer Systeme. 1. Aufl. Dortmund: BAuA, 2016.
Bonin D, Radke D, Wischniewski S: Gathering 3D body surface scans and anthropometric data as part of an epidemiological health study – method and results. In: Bagnara S, Tartaglia R, Albolino S, Alexander T, Fujita Y (eds.): Proceedings of the 20th Congress of the International Ergonomics Association (IEA 2018). Advances in Intelligent Systems and Computing, vol. 822. Cham: Springer, 2019.
Gesmann-Nuissl D, Grathwohl M: Weiterentwicklung des BAuA-Produktsicherheitsportals: Internethandel und Produktsicherheit. 1. Aufl. Dortmund: BAuA, 2014.
Onnasch L, Maier X, Jürgensohn T: Mensch-Roboter-Interaktion – Eine Taxonomie für alle Anwendungsfälle. 1. Aufl. baua:Fokus. Dortmund: BAuA, 2016.
Schnura D, Pendzich M, Bleyer T: Maschinelles Auffinden und Klassifizieren von risikobehafteten Produkten zur Unterstützung der Marktüberwachung. Bericht zum 64. Arbeitswissenschaftlichen Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft, 2018.
Varadinek B, Indenhuck M, Surowiecki E: Rechtliche Anforderungen an den Datenschutz bei adaptiven Arbeitsassistenzsystemen. 1. Aufl. Dortmund: BAuA, 2018.
Wöhrmann AM, Gerstenberg S, Hünefeld L, Pundt F, Reeske-Behrens A, Brenscheidt F, Beermann B: Arbeitszeitreport Deutschland 2016. 1. Aufl. Dortmund: BAuA, 2016.
Weitere Infos
Dokumentation: Informations- und Dialogveranstaltung „Innovative Materialien und Arbeitsschutz“ am 07.03.2016
3D-Drucker – Werden Verwender zu Herstellern?
https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Forschung/Forschungsprojekte/f2389.html
Produktsicherheit im Onlinehandel
Interaktive personalisierte Visualisierung in Industrieprozessen am Beispiel der Digitalen Fabrik in der Elektronik-Fertigung (Glass@Service)
https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Forschung/Forschungsprojekte/f2412.html
Autor
Direktor und Prof. Dr. phil. Lars Adolph
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Friedrich Henkel Weg 1–25
44149 Dortmund