Mit diesem Jubiläum ist der VDBW in bester Gesellschaft: Auch das Grundgesetz wird 70. In Artikel 2 GG gewährt unser Staat seinen Bürgern seit 70 Jahren das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das gilt auch am Arbeitsplatz. Niemand soll von seiner Arbeit krank werden. Deshalb sind die Arbeitgeber in der Pflicht, die Arbeit menschengerecht zu gestalten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen. Vor 70 Jahren bestand Gesundheitsschutz vor allem in der Abwehr von Gefahren durch körperlich schwere Arbeit. Die Automatisierung, die in den 1960er Jahren begann, führte zu Arbeitserleichterungen und beispielsweise zu weniger direktem Kontakt mit gefährlichen Arbeitsstoffen. Der zunehmende Anteil von Dienstleistungsarbeiten seit den 1980er Jahren führte durch Verschiebungen von Arbeitszeiten und Zunahme von Schicht- und Nachtarbeit ebenfalls dazu, dass einige Belastungen verschwanden, andere aber neu entstanden. Und wie wird sich die Digitalisierung auf die Arbeitsbedingungen auswirken? Werden Gesundheitsgefahren verschwinden? Oder müssen wir mit neuen Herausforderungen rechnen?
Heute erleben wir einen rasanten Wandel bei vielen Tätigkeiten: durch technologische Neuerungen, beispielsweise den Einsatz von digitalen Assistenzsystemen, Hilfsmitteln wie Datenbrillen, Exoskeletten oder Cobots, also Robotern, die so konstruiert sind, dass sie mit Menschen arbeiten und nicht nur für sie. Die Chancen, die der Wandel in der Arbeitswelt eröffnet, sind dabei ähnliche wie bei der Automatisierung: Arbeitserleichterung und Reduzierung körperlich anstrengender Tätigkeiten. Hinzu kommen Möglichkeiten der individuellen Arbeitsgestaltung, Verbesserung der Ergonomie, Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und eine alternsgerechte Arbeitsgestaltung. Und was sind die Risiken? Neue Belastungen können beispielsweise Autonomieverlust sein, das Gefühl der ständigen Überwachung, Sicherheitsrisiken an der Mensch-Maschine-Schnittstelle, Arbeitsverdichtung, möglicherweise auch Unterforderung und Monotonieerleben.
Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) führt zudem zu einer Änderung der Arbeitsweise. Die Kommunikation wird schneller und vernetzter. Höhere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit werden gefordert. Dieser „Technostress“ kann Gesundheitsrisiken für Beschäftigte bergen. Dabei kann die Belastung von der Technik selbst ausgehen, zum Beispiel durch schlechte Bedienbarkeit, technische Störungen oder Intransparenz. Sie kann aber auch Folge von zunehmend mehr und schnellerem Arbeiten sowie Überforderung durch die Komplexität von Prozessen sein. Diese Überlastung/Überbeanspruchung wird mit dem Risiko eines „overloads“ beschrieben.
Neue Technologien bewirken außerdem eine Änderung von Arbeitsort und Arbeitszeit. Die Chancen, die mobiles Arbeiten ermöglicht, liegen in einer bedürfnisgerechten Arbeitsorganisation, beispielsweise der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch mehr Zeitsouveränität. Risiken bestehen in verlängerten Arbeitszeiten, Entgrenzung („ständige Erreichbarkeit“), sozialer Isolation sowie in der Zunahme atypischer Arbeitszeiten. Hinzu kommen Fragen der ergonomischen Arbeitsgestaltung außerhalb eines „festen“ Arbeitsplatzes.
Die technische Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ist es wichtig, die Chancen nicht ohne die Risiken zu betrachten, von Anfang an auf gesundheitsgerechte und sichere Arbeitsgestaltung zu achten und diese aktiv zu gestalten.
Wie können Betriebsärztinnen und Betriebsärzte helfen? Das Arbeitssicherheitsgesetz beschreibt ihre Aufgaben seit über 40 Jahren. Passt der Aufgabenkatalog noch zu den aktuellen Anforderungen der Arbeitswelt? Fest steht: Gesundheit ist nicht verhandelbar. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz beginnt mit der Planung und der Arbeitsgestaltung. Welche Arbeitsmittel wählen wir, welche Verfahren sind der Gesundheit zuträglich, welche Arbeitsstoffe? Wie halten wir es mit der Arbeitszeit und dem Arbeitsrhythmus, mit den Pausen? Welchen Einfluss haben Arbeitsumgebung und Arbeitsklima? Sind technische oder organisatorische Schutzmaßnahmen erforderlich oder besondere persönliche Schutzausrüstungen? Wie müssen wir Erste Hilfe organisieren? Betriebsärztinnen und Betriebsärzte geben Antworten auf diese Fragen. Sie unterstützen den Arbeitgeber bei der Gefährdungsbeurteilung und helfen, arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen zu identifizieren und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu verbessern. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte müssen vor Ort sein und Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen kennen, um Gesundheitsfragen richtig einschätzen und beantworten zu können. Außerdem beraten sie die Beschäftigten – im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge sogar individuell und natürlich unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht.
Unsere Arbeit wird komplexer und vernetzter. Die medizinische Wissenschaft entwickelt sich schneller, auch (betriebs)medizinisches Handeln muss sich da anpassen. Ärztinnen und Ärzte müssen auf dem neuesten Stand bleiben. Die ärztliche Selbstverwaltung trägt dem Rechnung, indem sie die Weiterbildungsordnung aktuell hält – auch im Bereich der Arbeitsmedizin. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte lernen in der Weiterbildung alles über Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesundheit: Es geht unter anderem um berufsbezogene Risiken und arbeitsbedingte Erkrankungen, um Verhältnisprävention, einschließlich Arbeitsgestaltung, Ergonomie, Arbeitshygiene, Toxikologie sowie Grundlagen psychischer und psychosomatischer Krankheitsbilder und Grundlagen der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie. Der Arztberuf erfordert eine kontinuierliche Fortbildung. Als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales begrüße ich die Fortbildungsaktivitäten des VDBW; Minister Heil ist nicht ohne Grund auch in diesem Jahr Schirmherr über den Deutschen Betriebsärztekongress.
Betriebsärztinnen und Betriebsärzte bringen Gesundheitskompetenz in die Betriebe. Arbeitgeber, Beschäftigte und Interessenvertretungen sollen wissen, wie gesunde Arbeit aussieht. Sie sollen Gesundheitsinformationen verstehen, beurteilen und vor allem anwenden. Die Arbeitsschutzorganisation eines Betriebs funktioniert, wenn Betriebsärztinnen und Betriebsärzte mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit, mit Arbeitsschutzexperten und mit den Betriebs- und Personalräten zusammenarbeiten. Außerdem brauchen Betriebsärztinnen und Betriebsärzte das Vertrauen der Arbeitnehmerschaft. In ihrer Expertise müssen Betriebsärztinnen und Betriebsärzte weisungsfrei agieren können.
All das gewährleistet das Arbeitssicherheitsgesetz, das durch die Unfallverhütungsvorschrift „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ (DGUV Vorschrift 2) ausgestaltet wird. Die DGUV Vorschrift 2 ist derzeit in der Diskussion. Bei ihrer Anpassung werden wir darauf achten, dass Betriebsärztinnen und Betriebsärzte weiterhin ausreichend Zeit für Betriebe und Beschäftigte haben. Gleichzeitig erleben wir einen Fachkräftemangel, auch in der Arbeitsmedizin. Hier sind kluge Lösungen gefragt. Minister Heil ist daher auch Schirmherr über das Aktionsbündnis Arbeitsmedizin. Etwa 50 Partner aus Berufsverbänden, Forschung, Lehre, Wirtschaft und der gesetzlichen Unfallversicherung engagieren sich hier in der arbeitsmedizinischen Nachwuchsförderung, so auch der VDBW. Die ärztliche Selbstverwaltung hat aktuell den Zugang zur Facharztweiterbildung erleichtert; auch berufsbegleitende Weiterbildungen sollen ermöglicht werden. Der Ausschuss für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales befasst sich ebenfalls mit der Thematik.
Der VDBW war und ist für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein wichtiger Ansprechpartner in allen praktischen Fragen der Arbeitsmedizin. Ich wünsche dem VDBW für die nächsten mindestens 70 Jahre eine glückliche Hand und engagierte Mitglieder. Bleiben Sie am Puls der Zeit. Und vielen Dank für Ihr Engagement im Ausschuss für Arbeitsmedizin.