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Ausprägung der Beanspruchungsreaktionen ­während operativer Lehreingriffe und Erfassung des arbeitsbezogenen Stressempfindens bei ­Assistenzärzten

R. Pohl1

G. Awad²

S. Darius¹

B. Thielmann¹,

M.P. Scherner²

I. Böckelmann¹

¹ Bereich Arbeitsmedizin, Medizinische Fakultät,
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
(Leiterin: Prof. Dr. med. habil. Irina Böckelmann)

(eingegangen am 17.02.2021, angenommen am 25.05.2021)

Characteristics of stress reactions during surgical teaching procedures and recording of work-related stress perception among resident physicians

Background: Junior surgeons are exposed to high workloads inside and outside the operating theatre early in their careers. By using different measurement tools, it is possible to gain insight into the physiological and subjective stress levels of surgical residents.

Aim and Methods: The aim of this study was to investigate differences in time-based stress parameters in two cardiothoracic surgery residents during surgical teaching procedures (n = 24) for aortocoronary bypasses with and without senior physician supervision by means of heart rate variability (HRV). In addition, subjective stress perception was recorded in relation to work-related behaviour and experience patterns (AVEM).

Results: The time-related HRV parameters indicate higher psychological stress during the intraoperative phases without a senior physician (Mean HR: 96.1 vs. 89.4; Mean RR: 628.7 ms vs. 675.0 ms; RMSSD: 16.9 ms
vs. 20.6 ms; NN50: 120.0 vs. 189.5). The stress index (14.37 vs. 12.27), PNS (–2.17 vs. –1.81), and SNS (2.90 vs. 2.08) values based on these data confirm this. Based on the results from the AVEM, the residents studied can be classified as risk types for a health-risk behaviour and experience
pattern.

Conclusions: The results illustrate the high psychological stress of assistant physicians and are further evidence of the high risk of burnout in the medical profession. The presence of senior physicians during operative activities seems to have a positive effect on the stress level of junior physicians.

Keywords: residents – workloads – psychological stresses – heart rate variability – stress perception

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2021 56: 414–419

Ausprägung der Beanspruchungsreaktionen während operativer Lehreingriffe und Erfassung des arbeits­bezogenen Stressempfindens bei Assistenzärzten

Hintergrund: Junge Chirurginnen und Chirurgen sind schon früh in ihrer beruflichen Laufbahn innerhalb und außerhalb des Operationssaals hohen Arbeitsbelastungen ausgesetzt. Es ist möglich, anhand unterschiedlicher Messinstrumente einen Einblick in das physiologische und subjektive Stressniveau von chirurgischen Assistenzärztinnen und -ärzten zu erlangen.

Ziel und Methoden: Das Ziel dieser Studie bestand darin, mittels Herzratenvariabilität (HRV) Unterschiede von zeitbasierten Beanspruchungsparametern bei zwei Assistenzärzten einer Herz-Thorax-Chirurgie während chi­rurgischer Lehreingriffe (n = 24) bei aortokoronaren Bypässen mit und ohne oberärztliche Aufsicht zu untersuchen. Zudem erfolgte eine Erfassung der subjektiven Stresswahrnehmung in Bezug auf arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM).

Ergebnisse: Die zeitbezogenen HRV-Parameter weisen auf eine höhere psychische Beanspruchung in den intraoperativen Phasen ohne Oberarzt hin (Mean HR: 96,1 vs. 89,4; Mean RR: 628,7 ms vs. 675,0 ms; RMSSD: 16,9 ms vs. 20,6 ms; pNN50: 2,0 % vs. 3,5 %). Die darauf aufbauenden Werte des Stressindex (14,37 vs. 12,27), des PNS (–2,17 vs. –1,81) und des SNS (2,90 vs. 2,08) bestätigen dies. Anhand der Ergebnisse aus dem AVEM lassen sich die untersuchten Assistenzärzte als Risikotypen für ein gesundheitsgefährdendes Verhaltens- und Erlebensmuster einordnen.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse verdeutlichen die hohen psychischen Belastungen von Assistenzärztinnen und -ärzten und sind ein weiterer Beleg für die hohe Burnout-Gefährdung im Arztberuf. Die Anwesenheit von Oberärztinnen und -ärzten während operativer Tätigkeiten scheint sich positiv auf das Stressniveau von jungen Medizinerinnen und Medizinern auszuwirken.

Schlüsselwörter: Assistenzärztinnen/-ärzte – Arbeitsbelastungen – psychische Beanspruchungen – Herzratenvariabilität – Stresswahrnehmung

Einleitung

Der Arztberuf besitzt hohes soziales Prestige, geht aber auch mit hohen Erwartungen seitens der Bevölkerung einher. So muss eine Ärztin/ein Arzt ständig erreichbar, aufmerksam, fürsorglich und zügig sowie effektiv handeln (Beschoner 2019). Die Forschung (vorwiegend die Arbeitswissenschaft) beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den Folgen dieser Erwartungshaltung und zeigt dadurch entstehende (vorwiegend psychische) gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Ärztinnen und Ärzten auf (Knesebeck et al. 2010; Pereira et al. 2015; Kern et al. 2019). Viele Beiträge weisen dabei auf ein hohes Burnout-Risiko innerhalb der Ärzteschaft hin (Wegner et al. 2009; Bergner 2010; Arora et al. 2010). Das Burnout-Risiko im chirurgischen Tätigkeitsfeld kann mit dem höheren und breiteren Belastungsgrad von Chirurginnen und Chirurgen zusammenhängen. Vorwiegend das Operieren selbst ist nachweislich mit starken psychischen Beanspruchungen für die Operateurinnen und Operateure verbunden (Böhm et al. 2001; Jones et al. 2015; Theodoraki et al. 2015).

Vor allem die chirurgische Ausbildung besitzt ein hohes Stresspotenzial, da das Erlernen von chirurgischen Tätigkeiten im Operationssaal mit hohen psychischen Belastungen verbunden sein kann. Zum einen sind die oftmals jüngeren Assistenzärztinnen und -ärzte der Herausforderung ausgesetzt, an lebenden Patientinnen und Patienten ihre komplexen theoretischen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen. Zum anderen geschieht dies oftmals unter Beobachtung von erfahreneren Senior-Chirurginnen oder -Chirurgen, die, bedingt durch die Verantwortung für einen komplikationslosen Operationsverlauf, den Beanspruchungsgrad des zu unterrichtenden Assistenzarztes ebenfalls beeinflussen können. Wie stark das intraoperative Stressniveau bei in Ausbildung befindlichen chirurgischen Assistenzärztinnen und -ärzten ausgeprägt ist, ist bisher kaum erforscht und birgt Potenzial für neue empirische Erkenntnisse.

Das Ziel dieser Studie lag darin, das subjektive und objektive Stresserleben von chirurgischen Assistenzärztinnen und -ärzten zu analysieren. Bei der objektiven Analyse handelt es sich um die Erhebung von physiologischen Beanspruchungsparametern während der Durchführung von chirurgischen Lehreingriffen in Abhängigkeit von oberärztlicher Betreuung und ohne oberärztliche Betreuung. Zur Erfassung von intraoperativen psychischen Belastungen von Chirurginnen und Chirurgen hat sich in der Arbeitsmedizin und den Arbeitswissenschaften die Herzratenvariabilität (HRV) neben dem Blutdruck und der Herzschlagfrequenz (Hf) als vegetativer Beanspruchungsparameter etabliert (Thielmann u. Boeckelmann 2016), da dieses Verfahren generell eine beliebte Methode zur Belastungs- und Beanspruchungsanalyse verschiedenster Berufsgruppen darstellt (Sammito 2014). Als Ergänzung zu den physiologischen Parametern, wurde das subjektive arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster der untersuchten Herzchirurgen miterfasst.

Herzratenvariabilität (HRV)

Die Analyse der HRV gilt in der Arbeitsmedizin und den Arbeitswissenschaften aufgrund immer kleinerer Messinstrumente und geringerer Kosten als etabliertes nichtinvasives Erfassungsverfahren, um Aussagen über den Beanspruchungsgrad sowie über die Qualität der Regulation des Herz-Kreislauf-Systems zu ermöglichen (Sammito und Böckelmann 2015).

Die Hf ist, unabhängig von der Belastung, einer physiologischen Variabilität unterworfen und spiegelt das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus (Vagus) wider (Sammito et al. 2014). Diese beiden Nerven steuern die Aktivität des Herzens und kennzeichnen die HRV durch kurz-, mittel- und langfristige Schwankungen der Herzschlagfolge, so genannte Normal-to-normal (NN)-Intervalle (Böckelmann 2012). In Ruhephasen sowie bei geringer Belastung (insbesondere in den Nachtstunden) überwiegt die parasympathische (vagale) Steuerung gegenüber der sympathischen Steuerung. Dieses Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus kann durch die HRV-Analyse differenziert abgeschätzt werden (Sammito et al. 2014).

Die aus der HRV-Analyse gewonnenen HRV-Parameter werden in Zeit-, Frequenz- und nichtlineare Bereiche unterschieden. Die in dieser Studie verwendeten Parameter beziehen sich ausschließlich auf den zeitbezogenen Bereich der HRV-Analyse sowie auf die daraus abzuleitenden Werte des Stressindexes. Bei den zeitbezogenen Parametern werden die NN-Intervalle hinsichtlich ihrer Varianz ausgewertet. Der Stressindex (auch Spannungsindex genannt) basiert auf den Werten des Stressindex von Baevsky und stellt dar, wie lange Testpersonen sich während einer Aufnahme in Stresszonen befinden. Zur Gewinnung eines Überblicks über das Niveau der HRV-Parameter bei den Testpersonen werden sechs HRV-Parameter, unterteilt in den Tonus des parasympathischen Nervensystems (PNS) und den Tonus des sympathischen Nervensystems (SNS), wiedergegeben. ➥ Tabelle 1 gibt einen Überblick und eine Erläuterung der für die vorliegende Studie genutzten HRV-Parameter.

Methodik

Die hier vorgestellte Untersuchung basiert auf einer Kooperation zwischen dem Klinikum der Herz-Thorax-Chirurgie des Universitätsklinikums Magdeburg und dem Bereich Arbeitsmedizin der Medizinischen Fakultät an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Das positive Votum der Ethikkommission der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg unter der Registrierungsnummer 2020/185/19 liegt vor. Bei dieser Studie an Menschen wurden die ethischen Standards der Deklaration von Helsinki in ihrer aktuell gültigen Fassung beachtet.

Die EKG-Aufnahmen wurden vom 24.07.2019 bis 27.02.2020 bei zwei Assistenzärzten bei 24 chirurgischen Lehreingriffen (jeweils 12 pro Probanden) durchgeführt, um später als Grundlage für die HRV-Analyse zu dienen. Die Testpersonen trugen zur Erfassung der NN-Intervalle ein mobiles 2-Kanal-EKG-Gerät der Firma Schiller AG (Modell MT-101) aus der Schweiz. Sowohl bei der Aufzeichnung als auch bei der Auswertung der NN-Intervalle wurden die Qualitätskriterien der AWMF-s2k-Leitlinien (Sammito et al. 2014, 2015) berücksichtigt.

Bei den beiden männlichen Probanden aus der Altersdekade 30–40 Jahre handelte es sich um promovierte, in der Herz-Thorax-Chirurgie tätige Assistenzärzte. Zum Zeitpunkt der Erhebung haben beide Probanden das Weiterbildungsjahr auf der herzchirurgischen Intensivstation abgeschlossen und besitzen insofern einen hohen Erfahrungswert. Die Probanden sind nicht mit Vorerkrankungen belastet sowie keiner regelmäßigen Einnahme von Medikamenten ausgesetzt. Es handelt sich bei beiden um Nichtraucher. Die Assistenzärzte hatten zuvor 10 beziehungsweise 15 Lehreingriffe unter Anleitung durchgeführt und befinden sich seit 6 Jahren in der fachärztlichen Weiterbildung für Herzchirurgie.

Bei den analysierten operativen Lehreingriffen handelte es sich um aortokoronare Bypass-Operationen (ACB-Operationen), bei denen die Probanden unter der Assistenz von anleitenden Oberärzten operiert haben. Mit zunehmender Länge der EKG-Aufzeichnung nehmen die HRV-Werte (alle zeitbezogenen Parameter) ebenfalls zu (Sammito u. Böckelmann 2015). Daher war es ein wesentliches Kriterium, die ACB-Eingriffe in zwei intraoperativen Auswertungsphasen (ohne und mit Aufsicht) in jeweils gleicher Länge zu analysieren, wie nach der AWMF-s2k-Leitlinie empfohlen wird (Sammito et al. 2014). Damit die HRV-Parameter zwischen den jeweiligen Phasen unterschieden werden können, war die Dokumentation der intraoperativen Zeiten beziehungsweise OP-Phasen notwendig. Dafür wurde ein einheitliches OP-Protokoll verwendet, das die jeweiligen Arbeitsschritte des ACB wiedergab. Die Zeiträume, in denen die Probanden allein operierten, wurden ebenso erfasst wie die Zeit beim Eintreffen des Oberarztes.

Nach Beendigung der Aufnahme seitens der Probanden wurden die erfassten NN-Intervalle unter Berücksichtigung einer Abtastfrequenz von 1000 Hz gemäß der AWMF-s2k-Leitlinie (Sammito et al. 2014) in die Software Medilog DARWIN übertragen. Die durchgeführte Artefaktkontrolle und -bereinigung trägt zur Qualitätssicherung der Erfassung der NN-Intervalle und der HRV-Analyse bei (Sammito et al. 2014). Die während der EKG-Aufnahmen aufgetretenen Artefakte wurden manuell bereinigt. Anschließend wurde die entstandene Datenreihe in eine Textdatei exportiert und in das Programm Kubios HRV Premium (Kubios, Kuopio, Finnland; Tarvainen et al. 2019) eingelesen. Die HRV-Parameter wurden im Zeit- und Frequenzbereich und mit nichtlinearen Methoden berechnet. Die anschließende statistische Auswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics, Version 25 (IBM Corp., Armonk, New York). Nach Nachweis der Normalverteilung der HRV-Parameter durch den Shapiro-Wilk-Test wurde der t-Test für abhängige Stichproben verwendet. Die Testentscheidungen basieren auf einem Signifikanzniveau von 5%.

Die Erfassung der subjektiven Daten erfolgte anhand des standardisierten arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmusters (AVEM) von Schaarschmidt und Fischer (2003) und wurde über das Wiener Testsystem (Schufried GmbH, Österreich) ausgewertet. Die aus dem AVEM bezogenen Erkenntnisse können Aussagen über gesundheitsförderliche beziehungsweise -gefährdende Verhaltens- und Erlebensweisen bei der Bewältigung von Arbeits- und Berufsanforderungen treffen (Buck et al. 2019). Daher ist der AVEM-Fragebogen auch ein häufig genutztes Instrument bei der Erfassung von psychischen Belastungen und im Umgang mit diesen mittels Selbsteinschätzung und wurde bereits in diversen Studien (van Dick u. Wagner 2001; Thielmann et al. 2010; Buck et al. 2014) zur Beurteilung von subjektiven Stress eingesetzt. Die dort einbezogenen Merkmale sollen (unter dem Gesundheitsaspekt) die Einstellung und Befindlichkeit in Bezug auf Arbeit, Beruf und die damit verbundene Bereiche widerspiegeln. Daraus resultiert eine faktorenanalytisch bestätigte Verfahrensstruktur, in der sich elf Dimen­sionen arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens unterscheiden lassen (Schaarschmidt 2006). Bei den elf Dimensionen im Einzelnen handelt es sich um subjektive Bedeutsamkeit der Arbeit, beruflichen Ehrgeiz, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben,
Distanzierungsfähigkeit, Resignationstendenz bei Misserfolgen, offensive Problembewältigung, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, Erfolgserleben im Beruf, Lebenszufriedenheit, Erleben sozialer Unterstützung.

Tabelle 2:  Vergleich der zeitbezogenen HRV-Parameter und der Werte des PNS, SNS und Stressindex zwischen den Phasen ohne Aufsicht und den Phasen mit Aufsicht (n = 24)Table 2: Comparison of time-related HRV parameters and PNS, SNS, and stress index values between the phases without supervision and the phases with supervision (n = 24)

Tabelle 2: Vergleich der zeitbezogenen HRV-Parameter und der Werte des PNS, SNS und Stressindex zwischen den Phasen ohne Aufsicht und den Phasen mit Aufsicht (n = 24)
Table 2: Comparison of time-related HRV parameters and PNS, SNS, and stress index values between the phases without supervision and the phases with supervision (n = 24)

Ergebnisse

Die Ergebnisse unterteilen sich nach den objektiven Beanspruchungsparametern aus der HRV-Analyse und den subjektiven Erkenntnissen aus den Fragebögen.

In ➥ Tabelle 2 sind die genutzten HRV-Parameter aus dem zeitbezogenen Bereich sowie der PNS-, SNS- und Stressindex ersichtlich.

Alle aufgeführten HRV-Parameter unterscheiden sich in den beiden untersuchten Phasen signifikant voneinander (p <0,05). Der niedrigere Mean RR (ohne Aufsicht: 628,7 ms vs. mit Aufsicht: 675,0 ms) und der höhere Mean HR (ohne Aufsicht 96,1 min-1 vs. mit Aufsicht 89,4 min-1) weist in der Phase ohne Oberarzt auf ein höheres Stressniveau der Assistenzärzte beim Operieren hin. Die parasympathischen Parameter RMSSD (ohne Aufsicht 16,9 ms vs. mit Aufsicht 20,6 ms) und pNN50 (ohne Aufsicht: 2,0 vs. mit Aufsicht: 3,5) fallen in der Phase ohne Aufsicht geringer aus als in der Phase mit Aufsicht. Dies deutet auf eine jeweils höhere sympathische Aktivität der Probanden bei chirurgischer Tätigkeit ohne oberärztliche Betreuung hin. Die Aktivität des parasympathischen Anteils, die der PNS-Index darstellt, fällt bei den Operationsabschnitten ohne Oberarzt geringer aus als bei den Aufsichtsphasen mit Oberarzt (ohne Aufsicht: –2,17 vs. mit Aufsicht: –1,81). Die Aktivität des sympathischen Anteils, wiedergegeben im SNS-Index, ist mit 2,90 ohne Aufsicht leicht höher im Vergleich zu 2,08 mit Aufsicht. Anhand des Stressindex lässt sich eine leicht höhere Stressbelastung bei alleinigem Operieren der Probanden (14,37) im Vergleich zum beaufsichtigten Operieren (12,27) feststellen.

Die Einordnung der subjektiven arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster basieren auf den Stanine-Werten aus den elf Dimensionen des AVEM (➥ Abb. 1 und ➥ Abb. 2).

Abb. 1: Einschätzung der 11 Merkmale des AVEM von Proband 1 (entnommen: Testausgabe des Wiener-Testsystems. Angegeben in Stanine-Werten und Prozenträngen; der hervorgehobene Bereich umfasst 54 % der Personen in der Normstichprobe). Quelle: Wiener Testsystem
Fig. 1: Assessment of the 11 characteristics of the AVEM by respondent 1 (taken from: Test edition of the Wiener test system. Given in stanine values and percentile ranks; the highlighted area includes 54 % of
the subjects in the norm sample). Source: Wiener Testsystem

Abb. 2: Einschätzung der 11 Merkmale des AVEM von Proband 2 (entnommen: Testausgabe des Wiener-Testsystems. Angegeben in Stanine-Werten und Prozenträngen; der hervorgehobene Bereich umfasst 54% der Personen in der Normstichprobe). Quelle: Wiener Testsystem
Fig. 2: Assessment of the 11 characteristics of the AVEM by respondent 2 (taken from: Test edition of the Wiener test system. Given in stanine values and percentile ranks; the highlighted area includes 54 % of
the subjects in the norm sample). Source: Wiener Testsystem

Proband 1 erreicht mit jeweils 8  Punkten überdurchschnittliche Werte (Normbereich 4–6 Punkte) bei den Kategorien „Beruflicher Ehrgeiz“ und „Verausgabungsbereitschaft“. Die Dimensionen „Subjektive Bedeutsamkeit der Arbeit“ und „Perfektionsstreben“ liegen bei 7 Punkten leicht über den Durchschnittswerten. Mit jeweils 2 Punkten sind die Dimensionen „Distanzierungsfähigkeit“; „Lebenszufriedenheit“ und „Erleben sozialer Unterstützung“ unterdurchschnittlich verteilt.

Die Kombination aus den Risikomustern A und B bei Proband 2 ist vorwiegend auf die unterdurchschnittlichen Stanine-Werte mit jeweils 2 Punkten bei „Erfolgsleben im Beruf“; „Lebenszufriedenheit“ und „Erleben sozialer Unterstützung“ zurückzuführen. Leicht über dem Durchschnitt ist das Merkmal „Verausgabungsbereitschaft“ mit 7 Punkten.

In der aus ➥ Abb. 3 veranschaulichten Profilzugehörigkeit ist ersichtlich, dass sich beide Assistenzärzte als Risikotypen für ein gesundheitsgefährdendes Verhaltens- und Erlebensmuster (Muster A) einordnen.

Risikomuster A (Proband 1 mit einer Zuordnungswahrscheinlichkeit von 100%; Proband 2 mit 49%) zeichnet sich durch überhöhtes Engagement und geringe Distanzierung in Bezug auf die Arbeitsprobleme aus. Des Weiteren besteht eine verminderte psychische Widerstandskraft gegenüber Belastungen und ein eingeschränktes Lebensgefühl.

Neben den Merkmalen von Muster A weist Proband 2 ebenfalls Merkmale von Risikomuster B auf (Zuordnungswahrscheinlichkeit von 49%). Muster B ist gekennzeichnet durch Überforderung und Resignation, was sich durch ein reduziertes Engagement bei zugleich eingeschränkter Distanzierungsfähigkeit gegenüber den Arbeitsproblemen bemerkbar macht. Weitere Besonderheiten von Typ B ist die verminderte psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen und ein deutlich eingeschränktes Lebensgefühl.

Abb. 3: AVEM-Profiltypen von Proband 1 und Proband 2 (eigene ­Darstellung. Zuordnungswahrscheinlichkeit in p = 0,00–1,00)
Fig. 3: AVEM profile types of subject 1 and subject 2 (own representation.
Assignment probability in p = 0.00–1.00)

Diskussion und Schlussfolgerung

Die Ergebnisse zeigen ausschließlich Risikomuster bezüglich der arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster, die als subjektive Selbsteinschätzung anhand der 11 AVEM-Dimensionen generiert wurden. Die objektive Darstellung dieser subjektiven Einschätzung kann auf ein erhöhtes Burnout-Risiko innerhalb der untersuchten Assistenzärzteschaft hindeuten. Auch wenn weitere Studien das Auftreten von Burnout bei Chirurginnen und Chirurgen belegen (Campbell et al. 2001; Bertges Yost et al. 2005), sollten die Ergebnisse der hier beschriebenen Untersuchung nicht verallgemeinert werden. Mit dem Verfahren des AVEM kann einzig der Frage nachgegangen werden, mit welchem Verhalten und Erleben berufstätige Menschen den Anforderungen ihres Berufs begegnen und in welchem Maße darin Gesundheitsressourcen, aber auch Gesundheitsrisiken zum Ausdruck kommen (Schaarschmidt 2012). Insofern sind die hier vorgestellten Ergebnisse lediglich als Beitrag zur Früherkennung möglicher Gefährdungen und Prävention im ärztlichen Beruf zu sehen.

Inwieweit das Operationssetting und der damit einhergehende hohe Verantwortungsgrad durch die chirurgischen Tätigkeiten vorwiegend bei jüngeren Ärztinnen und Ärzten ein maßgeblicher Indikator für die durch verschiedenste Forschungsbeiträge belegte Burnout-Gefährdung im ärztlichen Beruf ist, lässt sich anhand der vorliegenden objektiven sowie subjektiven Ergebnisse ebenfalls nicht eindeutig entscheiden. Durch den geringen Stichprobenumfang und dem Fehlen einer Kontrollgruppe unterliegt die Studie einer eingeschränkten Aussagekraft. Eine größere Stichprobe sowie ein Vergleich von anderen herzchirurgischen Assistenzärztinnen und -ärzten war nicht möglich, da sich die Anzahl an Auszubildenden für chirurgische Lehreingriffe innerhalb der Abteilung der Herz-Thorax-Chirurgie auf maximal zwei begrenzt. Insofern konnte auch keine geschlechtsdifferenzierte Auswertung durchgeführt werden, weil keine Chirurginnen zum Zeitpunkt der Erhebung in Ausbildung waren beziehungsweise nicht die dafür notwendige praktische Erfahrung von 6 Jahren besaßen. Allerdings wäre der Einbezug von Chirurginnen für weitere arbeitswissenschaftliche Untersuchungen sehr zu empfehlen, da die Studienlage zu physiologischen Beanspruchungsanalysen innerhalb der Ärzteschaft vorrangig männliche Chirurgen aufweist.

Unter Nutzung der HRV-Analyse ist es möglich, in einem nur schwer zugänglichen Setting, dem Operationsaal, physiologische Beanspruchungsreaktionen bei operativ tätigen Ärztinnen und Ärzten zu erheben und zu analysieren. Die Ergebnisse der hier vorgestellten HRV-Analyse beziehen sich ausschließlich auf die psychologischen-vegetativen Auswirkungen einer im Operationssaal stattfindenden Betreuung von sich in Ausbildung befindenden Chirurgen. Um generalisierte Aussagen bezüglich des Einflusses von Senior-Chirurginnen und -Chirurgen auf Assistenzärztinnen und -ärzte in der Chirurgie treffen zu können, müssten zukünftige Studien mit ähnlichen Fragestellungen, den Erfahrungswert der zu untersuchenden Chirurginnen und Chirurgen differenziert mit einbeziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind Studien mit HRV-Messungen bei Operationsteams in Deutschland kaum vorhanden.

Ausgehend von der subjektiven Stresswahrnehmung wiesen die chirurgischen Assistenzärzte eine die Gesundheit gefährdende arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensweise auf. Dies kann der Tatsache geschuldet sein, dass eine Vielzahl der psychischen und psychoemotionalen Belastungen chirurgischer Assistenzärztinnen und -ärzte sich nicht ausschließlich auf die Arbeit im Operationssaal begrenzt, sondern sich auch auf die nachweislichen Belastungsfaktoren im Arztberuf, wie unter anderem Stationsarbeit, Nacht- und Notdienste, den Verantwortungsgrad gegenüber Patientinnen/Patienten und Vorgesetzten, dem hohen bürokratischen Aufwand, fehlende interprofessionelle Zusammenarbeit (Raspe et al. 2020) sowie die Arbeitsverdichtung und ständige Überstunden (Leibner et al. 2018) erstreckt.

Dennoch kann die Aussage getätigt werden, dass chirurgisch tätige Assistenzärztinnen und -ärzte zu einer gesundheitsgefährdeten Gruppe gehören, die im Operationsaal einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind. Weiterführende Forschungen in diesem Bereich sind angemessen.

Auf den ärztlichen Beruf ausgelegte Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention können Ärztemangel durch Unzufriedenheit im Beruf oder durch dauerhaften Aus- oder Wegfall (bedingt durch psychische Erkrankungen) vorbeugen. Vorrangig junge Medizinerinnen und Mediziner sind als potenzielle Zielgruppe für Interventionen und gegebenenfalls therapeutische Maßnahmen anzusehen. Dabei sollte das Selbst- und Stressmanagement schon im Studium gefördert werden, um für künftige Ärztinnen und Ärzte Ressourcen für eine stabile Gesundheit zu entwickeln. So könnten angehende Chirurginnen und Chirurgen von einer strukturierten Ausbildung profitieren, um ihre wahrgenommenen Stressressourcen oder Stressmanagementfähigkeiten zu steigern. Dabei gilt es seitens der Verantwortlichen auf institutioneller und individueller Ebene zu agieren.

Möglicherweise kann der Einbezug von erfahrenen Chirurginnen und Chirurgen nicht nur im OP-Saal ein potenzieller Ansatz sein, um jungen Kolleginnen und Kollegen Stabilität und Sicherheit im Umgang mit hohem Stressaufkommen zu erleichtern. Auch eine frühzeitige Sensibilisierung bei akutem Stressaufkommen für Medizinstudierende kann dem im späteren Berufsalltag hohen Belastungsaufkommen entgegenwirken. Dabei sollte das Selbst- und Stressmanagement schon im Studium gefördert werden, um Ressourcen für eine stabile Gesundheit zu entwickeln.

Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenskonflikte bestehen.

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Kontakt

Robert Pohl
Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Fakultät
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Leipziger Str. 44
39120 Magdeburg
robert.pohl@med.ovgu.de