Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Arbeitsschutz

Geschlechtergerechter Arbeitsschutz: von Worten zu Taten

– Teil 2 –

Gender Equitable Safety and Health at Work: Move from Words to Action – Part 2

Neue Fragen – neues Denken

Den Arbeitsschutz und die betrieblichen Gesundheitsförderung im Betrieb geschlechtergerecht weiterzuentwickeln, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Gefordert sind die Unternehmensleitung, die Fachkraft für Arbeitssicherheit und die Betriebsärztin/
der Betriebsarzt beziehungsweise der Präventionsdienstleister, der Arbeitsschutzausschuss und der Betriebsrat, die Personalabteilung sowie die Beauftragten für das betriebliche Gesundheitsmanagement und für Antidiskriminierung, Gleichstellung und Diversity. Aber auch seitens der direkten
Vorgesetzten und der Beschäftigten selbst sind eine neue Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zu Veränderungen notwendig.

„Gender-Fragen“ sind kein „Gedöns“. Sie müssen gestellt und beantwortet werden,

  • um bisher unterschätzte genderspezifische Belastungen und Risiken für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sichtbar zu machen: Zum Beispiel wurden arbeitsbedingte psychische Belastungen und daraus resultierende überproportionale Erkrankungen, Frühberentung und Berufswechsel von weiblichen Beschäftigten lange Zeit nicht gesehen oder zum individuellen Frauenproblem erklärt. Das hat sich geändert, denn zunehmend tritt die Bedeutung psychischer Belastungsfaktoren auch für Männer zutage – vielleicht wird sie auch nur häufiger diagnostiziert und offen­gelegt als früher;
  • um das Arbeitsschutzhandeln nicht von tradierten, vielfach unbegründeten Vorannahmen leiten zu lassen: Zum Beispiel führt die Vorannahme, dass frauentypische Teilzeitarbeit, besonders die gering bezahlte, vermeintlich anspruchslose „Basisarbeit“ in Dienstleistungsbranchen weniger belastend und weniger schutzbedürftig sei, zu Defiziten bei Gefährdungsbeurteilungen, Unterweisungen und Schutzmaßnahmen;
  • um einen „Gender-Bias“, das heißt eine nicht sachlich zu begründende Bevorzugung oder Benachteiligung eines Geschlechts beim Arbeits- und Gesundheitsschutz zu vermeiden: Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung gibt es vor allem im verarbeitenden Gewerbe und für Führungskräfte, und entsprechend liegt die Inanspruchnahme durch männliche Beschäftigte deutlich höher als es der Geschlechterrelation bei den Beschäftigten entsprechen würde.
  • „Drei-R-Methode“

    Im Betrieb können Arbeitgeber und die für den Arbeitsschutz Verantwortlichen sowie der Arbeitsschutzausschuss mit den drei „R-Fragen“ Anhaltspunkte dafür gewinnen, was zu tun ist:

    Repräsentanz der Geschlechter?

    Es ist sinnvoll, damit zu beginnen, dass die Anteile von Frauen und Männern im Betrieb auf bestimmten Arbeitsplätzen oder in bestimmten Arbeitsbereichen, in Vollzeit, Teilzeit, Schichtarbeit, Leiharbeit, befristet oder im Minijob ermittelt werden. Daran wird sich fast von selbst die Frage anschließen, ob beim betrieblichen Arbeitsschutz alle Beschäftigtengruppen der verschiedenen Bereiche im Blick sind oder ob auf einzelne Gruppen weniger geachtet wird, zum Beispiel: Gibt es eine Gefährdungsbeurteilung für die getaktete Arbeit am Band (Männer), aber keine für die Reinigungskräfte und das Kantinenpersonal (Frauen)? Enthält die Gefährdungsbeurteilung auch diejenigen Fragen und Kriterien, mit denen man psychischen Gefährdungen auf die Spur kommt? Wird bei der allgemeinen Gefährdungsbeurteilung vorausschauend auch danach gefragt, ob an diesem Arbeitsplatz oder bei dieser Tätigkeit spezielle Gefährdungen für Schwangere zu erwarten sind? Diese Präventionsorientierung fordert nämlich das Mutterschutzgesetz.

    Traditionell sind die Beschäftigten in der Leiharbeit zu rund 75 % Männer, vor allem in gewerblich-technischen Berufen (z. B. Schlosser, Mechatroniker, Sicherheitsbranche, Verkehr und Logistik), wenngleich die Anzahl auch bei Frauen zunimmt (Personaldienstleistungen, Büro, Gesundheit, Pflege, Bildung). Der vielfach unzureichende Arbeitsschutz, die hohen Erkrankungsraten und vor allem das höhere Unfallrisiko gerade in den Männerbranchen waren Gründe für ein mehrjähriges Programm der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie 2009/2012. Spezifische Risikofaktoren wurden besonders bei kurzzeitigen Einsätzen und gering bewerteten Helfertätigkeiten sichtbar, zum Beispiel Arbeitshetze, mangelnde Information über Arbeitsabläufe, Unkenntnis arbeitsplatzspezifischer Schutzmaßnahmen und fehlende Integration in das Arbeitsschutzmanagement des Entleihbetriebs.

    Eine vergleichbare Aufmerksamkeit sollte im Betrieb ebenfalls für die Teilzeitbeschäftigten aufgewendet werden, die weit überwiegend Frauen sind: Vielfach sind sie ebenfalls besonderen Belastungsfaktoren ausgesetzt, zum Beispiel durch Arbeitshetze und Stress, mangelnde Handlungsspielräume und geringere Integration in Betriebsabläufe.

    Außer nach den Geschlechterrelationen in den Beschäftigtengruppen sollte auch danach gefragt werden, an welchen Arbeitsplätzen der Arbeitsschutz besonders auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer achten muss, die aufgrund ihres Alters oder anderer Merkmale von Diversity besondere Schutzbedürfnisse haben können. Dass das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) in der Aufgabenbeschreibung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärztinnen und -ärzte nur den Schutzbedarf von behinderten Beschäftigten explizit nennt, aber Schwangere, Ältere oder Beschäftigte mit Migrationshintergrund an keiner Stelle erwähnt, kann und darf die Verantwortlichen im Betrieb nicht daran hindern, ihre Aufgaben für alle Gruppen gut, das heißt Diversity-sensibel zu erfüllen.

    Reale Verhältnisse am Arbeitsplatz?

    Die Analyse von betrieblichen Fehlzeiten, Unfallzahlen, Fluktuation und vorzeitigem Ausscheiden in den Ruhestand liefert Hinweise, wo der Arbeitsschutz genauer hinschauen, Belastungen abbauen und präventionsorientiertes Handeln anstoßen sollte. All das zahlt sich auch für den Betrieb aus.

    Ein wichtiger Komplex der betrieblichen Verhältnisse sind Arbeitszeiten und Schichtsysteme sowie die Arbeitsintensität und die Leistungsnormen: Bringen sie für Beschäftigte, die Kinder oder andere Angehörige betreuen, besondere Erschwernisse mit sich oder gibt es Mechanismen und Umgangsweisen im Sinne von Rücksichtnahme und Unterstützung? Hausarbeit und Kindererziehung als tägliche „zweite Schicht“, vor und nach dem schon abgeleisteten Arbeitstag im Betrieb, das ist in aller Regel Sache der Frauen und wirkt sich auf ihr Belastungsempfinden am Arbeitsplatz und auf die Belastungsfolgen aus. Insofern ist das Vereinbarkeitsthema nicht bloß „Privatsache“. Familienfreundliche Arbeitszeitgestaltung und Handlungsspielräume, etwa auch im Homeoffice, sind daher ganz klar ein Thema auch für den betrieblichen Arbeitsschutz mit seinen Kompetenzen und nicht allein für die Personalabteilung oder die Frauenbeauftragte.

    Immer größerer Bedeutung haben Stress und psychische Belastungen am Arbeitsplatz. In welchen Formen sie im eigenen Betrieb auftreten, was (oder wer) sie verursacht und wie sie sich auswirken, kann durch Mitarbeiterbefragungen herausgefunden werden. Dass es hierbei geschlechterbezogene Unterschiede in den Belastungsarten und Beanspruchungen gibt, hat der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; s. „Weitere Infos“) deutlich gezeigt. Er kann für die Fragestellungen und die Auswertung vorab Hinweise geben.

    Wenn auf die Schwangerschaftsmeldung einer Mitarbeiterin fast reflexartig mit einem betrieblichen Beschäftigungsverbot reagiert wird (oder der Frau eine Krankschreibung nahegelegt wird), ist dies ein klares Signal dafür, dass es an geschlechtergerechtem Arbeitsschutz mangelt. Mutterschutz gehört rechtlich wie faktisch zum Arbeitsschutz und die Risiken für Mutter und Kind müssen sowohl präventiv in der allgemeinen Gefährdungsbeurteilung als auch in der anlassbezogenen individuellen Gefährdungs­beurteilung untersucht und bewertet werden. Mit der Schwangeren muss ermutigend und unterstützend kommuniziert werden, und gegebenenfalls ist ihr Arbeitsplatz umzugestalten. Nur dann, wenn auch nach ernsthaften Bemühungen im Sinne des STOP-Prinzips1 kein ausreichender Schutz der Gesundheit der Schwangeren und ihres Kindes zu gewährleisten ist, bleibt als Ultima ratio ein betriebliches Beschäftigungsverbot.

    In ASU 5/2023 wurden in einem ersten Teil die besonderen Belastungen von Beschäftigten mit einer spezifischen sexuellen Identität jenseits der mehrheitlichen cis-Identität von Frauen und Männern angesprochen. Hier liegt eine doppelte Aufgabe für den geschlechtergerechten praktischen Arbeitsschutz im Betrieb, nämlich allgemein-präventiv und anlassbezogen: Zum einen muss ohnehin allgemein auf ein respektvolles, nichtsexistisches Arbeitsklima hingewirkt werden. Zum anderen muss, wenn eine einzelne betroffene Person sich outet, danach gefragt werden, inwiefern sie besonderen Schutz, zum Beispiel wegen der medizinischen Behandlungen zur Transition, benötigt.

    Mit der größeren Aufmerksamkeit für die verschiedenen Beschäftigtengruppen kann herausgefunden werden, wo und für wen besonderer Handlungsbedarf für den Arbeitsschutz und die betriebliche Gesundheitsförderung besteht. Dieser Blick auf die Beschäftigten und ihre Besonderheiten nach Geschlecht sowie weiteren Diversity-Merkmalen muss den sachlich-technischen Blick vervollständigen, den die Arbeitsschutz-Verordnungen und Technischen Regeln für Gefahrstoffe, Lärm, Arbeitsumgebung usw. vorgeben. Bislang enthält das Regelwerk des Arbeitsschutzes noch keine expliziten Hinweise. Es wäre von großer Bedeutung und würde einem menschengerechten, geschlechter- und Diversity-gerechten Arbeitsschutz erheblich voran helfen, wenn entsprechende Hinweise nach und nach dort aufgenommen würden.

    Wenn für alle Beschäftigtengruppen die sie betreffenden Belastungsfaktoren betrachtet werden, wird auch der Blick dafür geschärft, an welchen Frauenarbeitsplätzen Belastungen möglicherweise unterschätzt oder gar nicht gesehen werden: In der Pflege wurde lange Zeit die Belastung durch Emotionsarbeit ignoriert und die physische Beanspruchung durch Heben und Tragen unterschätzt. Eine Untersuchung der Arbeitsschutzbehörde in Sachsen zeigte, dass Arbeiterinnen, die in einer Molkerei Joghurtbecher auf Paletten konfektionierten und versandfertig machten, pro Schicht mehr an Gesamtgewicht zu heben hatten als Bauarbeiter bei der Deckenverschalung auf Baustellen.2

    Beim Thema Lärmbelastung steht allgemein der physisch schädigende aurale Lärm in Produktionsbetrieben und auf Baustellen im Fokus, dem man mit Gehörschutz oder technischen Lösungen zur Reduktion von Maschinenlärm begegnen kann. Der Stress hervorrufende extraaurale Lärm – das Rufen, Schreien oder Weinen von Kindern in Kitas und Klassenzimmern oder die Monitorsignale im Operationssaal und auf der Intensivstation – darf dagegen nicht unterdrückt oder mit Gehörschutz unhörbar gemacht werden, weil er Alarmfunktion hat oder haben kann und akute Handlungsnotwendigkeit signalisieren kann; hier sind zum Schutz vor Lärmstress völlig andere, komplexere Maßnahmen notwendig.

    Ressourceneinsatz

    Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber zu Gefährdungsbeurteilungen, zu Information und Unterweisung der Beschäftigten sowie zur Umsetzung von Schutzmaßnahmen. Hier ist zu prüfen, ob die personellen und finanziellen Ressourcen des Arbeitsschutzes im Hinblick auf die verschiedenen Beschäftigtengruppen und die realen Verhältnisse problemadäquat und geschlechtergerecht eingesetzt werden und ob alle Beschäftigten erreicht werden – nicht nur die Stammbelegschaft und die Vorgesetzten, sondern auch die sogenannte Randbelegschaft sowie Beschäftigte mit besonderem Schutzbedarf. Wenn nicht, ist Umsteuern geboten.

    Mehr Aufmerksamkeit ist vor allem auch für Teilzeitbeschäftigte notwendig; zum Beispiel müssten organisatorische Maßnahmen zur Stressprävention für sie einen besonderen Stellenwert erhalten. Ihre Belastungen sinken nicht automatisch im gleichen Maße wie ihr Arbeitszeitumfang; ihr Bedarf an Information, Unterweisung und risikovermeidenden Schutzmaßnahmen ist doch nicht halb so hoch wie der von Vollzeitbeschäftigten, weil sie nur halbtags arbeiten. Die DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) Vorschrift 2 hat seit 2012 nicht zu einer einheitlichen Praxis geführt, wie die Debatte unter Fachkräften für Arbeitssicherheit noch im Jahr 2022 zeigt: Teilweise wird der Betreuungsumfang nach Köpfen, teilweise durch Umrechnung in Vollzeit festgelegt. Eine Klarstellung der DGUV ist demnach immer noch nicht erfolgt oder nicht hinreichend kommuniziert.3 Das ASiG zeigt hier ein falsches Bild, weil bei der Verpflichtung, ab 20 Beschäftigten einen Arbeitsschutzausschuss zu bilden, Teilzeitbeschäftigte zu Vollzeitäquivalen­ten zusammengerechnet werden. Wenn für 20 Halbtagskräfte nur genauso viel Ressourcen für Gefährdungsbeurteilungen und präventive Schutzmaßnahmen aufgewendet werden wie für 10 Vollzeitkräfte, ist das ein starkes Indiz für diskriminierenden Arbeitsschutz.

    Beim Ressourceneinsatz geht es nicht nur darum, in welchen Arbeitsbereichen und für wen die Fachkraft für Arbeitssicherheit und die Betriebsärztin oder der Betriebsarzt mit welchem Umfang von Betreuungsstunden tätig werden. Es geht auch um das „Wie“, also den wirksamen, passgenauen Ressourceneinsatz: Geschlechterspezifische Unterschiede im Gesundheits- und Risikoverhalten müssen beachtet werden, um mit Prävention erfolgreich zu sein. Wenn die eine oder andere Zielgruppe sich überhaupt nicht angesprochen fühlt, laufen die Bemühungen ins Leere. Eine geschlechtergerechte Sprache zu verwenden und die Diversität in der Belegschaft in Fotos und Grafiken sichtbar zu machen, ist auch Ausdruck davon, dass alle gleichermaßen zählen und respektiert werden.

    Heutzutage liegt es natürlich nahe, die Informationen zum Arbeitsschutz digital bereitzustellen: wichtige grundlegende oder neu in Kraft tretende Rechtsvorschriften des Arbeitsschutzes, betriebliche Arbeitsanweisungen oder einfach auch Name und Erreichbarkeit der Fachkraft für Arbeitssicherheit oder des Arbeitsschutzausschusses. Das wäre aber nur dann Diversity-gerecht, wenn alle Beschäftigten regelmäßig an einem dienstlichen Computer arbeiten. Eine Selbstverständlichkeit ist das jedoch nur für alle in Büro und Verwaltung Tätigen, dagegen nicht für in der Produktion am Band Beschäftigte oder für Beschäftigte in Postdienst, Kantine, Reinigungsdiensten, Fahrbereitschaft usw. Es muss also darauf geachtet werden, per Digitalisierung nicht einzelne Gruppen oder Teile der Belegschaft auszuschließen, wobei in einigen Bereiche vor allem Frauen betroffen sind, in anderen vor allem Männer.

    Abschließend ein Beispiel zum Thema Ressourceneinsatz: NICHT geschlechtergerecht ist es, wenn bei der persönlichen Schutzausrüstung und bei Schutzkleidung den weiblichen Beschäftigten lediglich die für Männer konzipierte und angefertigte Ausstattung zur Verfügung gestellt wird, das heißt Schutzkleidung zum Beispiel einfach in den kleinsten Männergrößen. Im Deutschen Ärzteblatt (Heft 7 vom 17.02.2023)4 wird vom Hartmannbund sowie einer betroffenen Ärztin kritisiert, dass es in der Klinik und bei den Rettungsdiensten immer noch vorkommt, dass keine Schutzkleidung in weiblichen Durchschnittsmaßen und -größen bereitgestellt wird, dies nicht einmal angesichts der inzwischen vielfach über 50 % liegenden Frauenanteile in den ärztlichen Berufen.Zwar gibt es mittlerweile Spezialanbieter von Multinorm-Schutzkleidung mit besonderem Zuschnitt für Frauen, aber in den Katalogen großer Anbieter ist das Angebot Unisex – und natürlich für Männer designt. Noch viel weniger gibt es Schutzkleidung, die Schwangeren passen
    würde.

    Handlungsanleitungen und Beispiele

    Mit welchen Vorgehensweisen die Gefährdungsbeurteilung geschlechter- und Diversity-sensibel durchzuführen ist, wie geeignete und passgenaue Schutzmaßnahmen zu bestimmen sind und wie mit Information, Motivierung und Unterweisung die Arbeitsschutzwirksamkeit gewährleistet werden kann, dazu gibt es grundsätzliche Konzepte, konkrete Handlungsanleitungen und Checklisten.

    Praxisbeispiele Arbeitsschutz

    Der Bericht der Gleichstellungs- und Frauen­ministerinnenkonferenz (GFMK) „Geschlechtergerechte Praxis im Arbeitsschutz und in der betrieblichen Gesundheitsförderung“ von 2011 hat eine Reihe von Beispielen für modellhafte betriebliche Ansätze zusammengestellt, die von verschiedenen Arbeitsschutzverwaltungen sowie von Gewerkschaften und einer Berufsgenossenschaft, aber zum Beispiel auch bereits 1999 in Kanada initiiert und umgesetzt wurden. Sie stammen unter anderem aus den Bereichen öffentliche Verwaltung, Reinigungsdienste, Nahrungsmittelgewerbe, Gastronomie, Metall- und Elektrobetriebe, Textil-Einzelhandel, Informations- und Kommunikations­technologie. Auch kleine und mittlere Unternehmen sind darunter. Überwiegend zeigen die Beispiele eine Herangehensweise mit Pilotmaßnahmen, nicht als systematisch-umfassende Implementierung des Gender- und Diversity-Ansatzes in das betriebliche Arbeitsschutzmanagement. Das Poster auf der vorangegangenen Seite stellt den Ablaufprozess für geschlechtergerechten Arbeitsschutz dar.

    Die österreichische Arbeitsschutzinspek­tion engagiert sich seit langem für geschlechtergerechten Arbeitsschutz und hat eine Reihe von Praxisbeispielen initiiert und umgesetzt. Von ihr stammen die folgenden zwei Beispiele:

  • Frauenspezifische Arbeitsplätze in einem Unternehmen der Papierindustrie wurden ergonomisch und organisatorisch umgestaltet durch eine für die Körpermaße der Frauen passend verstellbare Arbeitsplatzausstattung; die einseitigen physischen Belastungen und der Stress durch Monotonie wurden durch Arbeitsplatzrotation verringert.5
  • Zum Schutz der Pflegekräfte in einem Altenpflegeheim hinsichtlich ihrer Rückenbelastung beim Transfer von Pflegebedürftigen waren kleine Hebe- und Tragehilfen vorhanden, aber sie wurden kaum genutzt. Für einen effektiveren Schutz wurden die Motivierung und Unterweisung der Pflegekräfte intensiviert, Kurse für wirbelsäulenschonende Hebetechniken (Bobath und Kinästhesie) wurden durchgeführt, durch Tätigkeitswechsel wurden psychische und physische Belastungssituationen abgemildert.5
  • Praxisbeispiele Gesundheitsförderung

    Im zweiten Bericht der GFMK von 2012 „Betriebliche Gesundheitsförderung geschlechtersensibel gestalten“ sind Beispiele für das Aufgreifen von Geschlechter- und Diversity-Aspekten im betrieblichen Gesundheitsmanagement und bei der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) aufgelistet (S. 38 ff.). Krankenversicherungen und Berufsgenossenschaften haben im Rahmen ihrer gesetzlichen Präventionsaufgaben den Kriterien Alter und Migrationshintergrund zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt und Pilotprojekte für interkulturelles betriebliches Gesundheitsmanagement, für älter werdende Belegschaften oder für Auszubildende als Zielgruppe durchgeführt.

    Dagegen war die Geschlechterperspektive weit weniger ein Thema. Wo das Kriterium „Geschlecht“ aufgegriffen wurde, ging es ausschließlich um die erfolgreiche Ansprache von Männern als Zielgruppe für Unfallverhütung und Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie darum, sie sensibel zu machen für gesundheitliche Selbstfürsorge. Das spiegelt sich auch in der Ressourcenverwendung der Krankenversicherungen für BGF. Dahinter steht die Vorannahme, dass Frauen ein höheres Gesundheitsbewusstsein haben und in ihrem privaten Setting, also außerhalb des Betriebs und der Arbeitszeit mehr für ihre Gesundheit tun, auch mit Kursen ihrer Krankenkasse, so dass allein schon von daher für Männer im Setting „Betrieb“ mehr Handlungsbedarf bestehen würde, auch ohne die Annahme, dass an ihren Arbeitsplätzen mehr gesundheitliche Belastungen vorliegen.

    Eine Durchsicht von aktuellen Präventionsberichten der gesetzlichen Krankenversicherungen und von Materialien der Berufsgenossenschaften führt zu dem Eindruck, dass sich an dieser Fokussierung bis heute kaum etwas geändert hat. Mit Ausnahme der systemrelevanten Pflegeberufe ist es weiterhin so, dass Frauen als Zielgruppe – oder der Präventionsbedarf der Beschäftigten in frauendominierten Industrie- und Dienstleistungsbranchen – bei der betrieblichen Gesundheitsförderung wenig beachtet
    werden.

    Ein Blick nach Österreich dagegen zeigt anhand vielfältiger Materialien, wie geschlechtergerechte betriebliche Gesundheitsförderung insbesondere für Frauen gestaltet werden kann. Das Büro für Frauengesundheit in der Abteilung Strategische Gesundheitsversorgung der Stadt Wien hat 2022 ein Handbuch zur betrieblichen Frauengesundheitsförderung herausgegeben, das auf langjähriger Praxiserfahrung basierend eine ausführliche und anschauliche Grundlage liefert, um einen Wissensgrundstock zu erwerben (s. „Weitere Infos“). Die dargestellten methodischen Ansätze, Umsetzungshilfen sowie konkreten betrieblichen Beispiele zeigen, wie man geschlechtergerechte BGF insbesondere für Frauen entwickeln und erfolgreich umsetzen
    kann.

    Gender und Diversity integrieren

    Es geht darum, die Geschlechter- und Diversity-Perspektive in das bestehende Arbeitsschutzmanagement zu integrieren, das heißt: Anreicherung und Konkretisierung des ganz normalen Arbeitsschutzhandelns, nicht Doppelarbeit. Das neue Denken und die Beseitigung blinder Flecken führen nicht zu einer Art Parallelwelt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, genauer hinzusehen, nicht allein auf die sachlich-technischen Messungen und Kriterien, sondern die Menschen in ihrer Vielfalt und mit ihren besonderen Schutzbedürfnissen im Blick zu haben. So wird mehr Wissen über Probleme und Handlungsbedarf generiert. Die Arbeitsschutzmaßnahmen können passgenauer bestimmt werden und den notwendigen Schutz für alle ermöglichen. Bei der Konkretisierung von notwendigen thematischen oder bereichsbezogenen Schwerpunkten wird es um Maßnahmen sowohl der Verhältnis- als auch der Verhaltensprävention gehen.

    Mit dem Start und ersten erfolgreichen Umsetzungen von geschlechter- und Diversity-sensiblen Maßnahmen wächst nicht nur die Kompetenz, sondern auch das Interesse und die Motivation. Dabei ist es wichtig, dass geschlechtergerechter Arbeitsschutz nicht nur als „Frauenprojekt“ etikettiert und missverstanden wird, sondern alle im Betrieb mitgenommen werden. Die Aussichten sind gut, dass dies gelingt: Verbesserungen von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, die zunächst bei denjenigen ansetzen, die bislang nicht hinreichend geschützt werden, kommen schlussendlich allen in der Betriebswelt zugute.

    Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Weg M, Stolz-Willig B: Agenda Gute Arbeit: geschlechtergerecht! Hamburg: VSA-Verlag, 2014, S. 46, Fn. 24.

    doi:10.17147/asu-1-280210

    Quellen und Weitere Infos

    BAuA: Stressreport Deutschland 2019
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Stressreport-201…

    Grundlagenmaterial und Handlungsanleitungen der Organisation für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (OSHA)  Muskel- und Skeletterkrankungen und Diversity:
    https://osha.europa.eu/de/publications/musculoskeletal-disorders-msds-i…

    Geschlechteraspekte im Arbeits- und Gesundheitsschutz und Berücksichtigung bei der Gefährdungsbeurteilung:
    https://osha.europa.eu/de/publications/factsheet-42-gender-issues-safet…
    https://osha.europa.eu/de/publications/factsheet-43-including-gender-is…

    Grundlageninformationen der Arbeitsschutzbehörden der Länder: Hamburg
    https://www.hamburg.de/themen/3981508/gender-mainstreaming/

    Grundlageninformationen der Arbeitsschutzbehörden der Länder: Hessen
    https://www.infoline-gesundheitsfoerderung.de/gender-mainstreaming/arbe…

    Initiative Gesundheit bei der Arbeit: iga-Report Nr. 35 (2017) „Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb, Schwerpunkt Gender“
    https://www.iga-info.de/veroeffentlichungen/igareporte/igareport-35

    Gewerkschaft ver.di: „Arbeitsbedingungen beurteilen – geschlechtergerecht“ (2018), Verfasser: Michael Gümbel: Handlungsanleitung, Schwerpunkt Psychische Belastungen, mit Beispielen
    https://gender.verdi.de/++file++52a88b0b6f684405ee0000dc/download/Gende…

    Stadt Wien: Handbuch zur betrieblichen Gesundheitsförderung für Frauen (2022)
    https://www.gesundearbeit.at/cms/V02/V02_1.17.a/1342664517820/arbeitneh…

    Kernaussagen

  • Für eine geschlechter- und Diversity-sensible betriebliche Arbeitsschutzpraxis gibt es ­mittlerweile erprobte Handlungsanleitungen und gute Beispiele.
  • Sie helfen dabei, neue Fragen zu stellen: zur Vielfalt bei den Beschäftigten sowie zum damit zusammenhängenden konkreten Schutzbedarf.
  • Daraus ergeben sich neue Sichtweisen und Ansatzpunkte für die Arbeitsschutzpraxis, um im Betrieb die Sicherheit und Gesundheit aller Betroffenen passgenau und wirksam zu schützen. Es ist nicht schwer, damit anzufangen.
  • Info

    Das Arbeitsschutzgesetz und die Beachtung von Geschlecht und Diversity

  • § 2 Abs. 1: Arbeitsschutz mit Maßnahmen zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit – Achtung: keine Beschäftigtengruppe darf ausgenommen werden.
  • § 4 Allg. Grundsätze: Psychische Belastungen werden ausdrücklich genannt ebenso § 5 Abs. 3: Beurteilung der Arbeitsbedingungen schließt die Gefährdung durch psychische Belastungen ein –
    Achtung: Deutliche Unterschiede in der Betroffenheit von Frauen und Männern.
  • § 4 Nr. 6: Berücksichtigung spezieller Gefahren für besondere Beschäftigtengruppen bei allen Arbeitsschutzmaßnahmen – Achtung: Besondere Gruppen im Hinblick auf Personenmerkmale (Gender, Diversity) und auf das Arbeitsverhältnis (Stammbelegschaft, prekär beschäftigte Randbelegschaft).
  • § 4 Nr. 3: Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse müssen bei allen Maßnahmen beachtet werden: vor allem bei Gefährdungsbeurteilung (§ 5) und Unterweisung der Beschäftigten (§ 12) – Achtung: Hierzu gehören auch die Daten und Erkenntnisse zu Gender und Diversity.
  • Info

    Gender-Facts zu Stress und psychischen Belastungen

    Zwischen etwa 40 und 70 % der Beschäftigten sind von Stress betroffen.

  • Termin- und Leistungsdruck sind für vollzeitbeschäftigte Frauen und Männer mit 56 bzw. 55 % nahezu gleich, für Teilzeitbeschäftigte bis zu 20 Stunden deutlich stärker: 65 %.
  • Multitasking, Störungen und Unterbrechungen, Arbeitshetze: In Vollzeit beschäftigte Frauen sind jeweils um rund 10 Prozentpunkte stärker betroffen als Männer.
  • Monotonie: In Teilzeit beschäftigte Frauen sind mehr als jede andere Gruppe betroffen – drei Viertel arbeiten monoton, ohne Handlungsspielraum.
  • Führungskräftestress: Bei Frauen in Führungspositionen spielen Multitasking und Störungen, bei Männern Verantwortung und Leistungsdruck eine entscheidende Rolle.
  • „Gender matters“:

  • Rollenzuweisungen können für beide Geschlechter belastend wirken: „Emotionsarbeit“ für Frauen, „Tough-Sein“ für Männer.
  • Diskriminierung sowie sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz: Beispiele dazu siehe DGUV-Forum 3/2023; hier gibt es Aufgaben auch für den Arbeitsschutz, nicht allein für Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragte.
  • Kontakt

    Foto: privat

    Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen