Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit
Performance After a Long Illness – Assessment by the Medical Service of the Federal Employment Agency
Einführung
Der Ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit berät und begutachtet vor Ort für die lokalen Arbeitsagenturen unter den Fragestellungen des Sozialgesetzbuches III und für die Jobcenter, die als gemeinsame Einrichtung Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach Sozialgesetzbuch II sind (Kralj 2021a).
Im Folgenden werden die Arbeitslosen und Arbeitssuchenden (SGB III, SGB II) wie im Sprachgebrauch der Arbeitsagentur üblich als „Kundinnen und Kunden“ bezeichnet.
Die beauftragenden Stellen innerhalb der Arbeitsagentur beziehungsweise des Jobcenters werden als „Auftraggebende“ bezeichnet.
Beauftragung des ärztlichen Dienstes
Die Beauftragung des ärztlichen Dienstes durch die Auftraggebenden erfolgt auf elektronischem Weg. Die Auftraggebenden übermitteln Informationen zu den
Weiterhin wählen die Auftraggebenden aus dem vorgegebenen Zielfragenkatalog Begutachtungsfragen für den Ärztlichen Dienst aus (Kralj 2021b).
Zeitgleich zur Beauftragung des ärztlichen Dienstes durch die Auftraggebenden sendet die Kundin/der Kunde in einem von der Arbeitsagentur bereitgestellten und entsprechend „zur Vorlage im Ärztlichen Dienst“ gekennzeichneten Briefumschlag ihre/seine Unterlagen an den Ärztlichen Dienst.
Dabei handelt es sich um den von ihr/ihm ausgefüllten
die die Kundin/der Kunde dem Ärztlichen Dienst zur Verfügung stellt.
Begutachtung
Der Ärztliche Dienst beginnt mit seiner Arbeit, wenn sowohl die elektronische Beauftragung durch die Auftraggebenden als auch die Unterlagen der Kundin/des Kunden im Ärztlichen Dienst vorliegen und einander zugeordnet werden konnten (Kralj 2022).
Je nach Fragestellung und je nach Art der geltend gemachten Gesundheitsstörungen sowie nach Art und Umfang der bereits beigebrachten Kundenunterlagen wird die Art und Weise der Begutachtung vorbereitet. Die Gutachtenerstellung erfolgt entweder als sozialmedizinische Stellungnahme „ohne Kundenkontakt“, das heißt als Aktenlage, oder „mit Kundenkontakt“ mit persönlicher Untersuchung beziehungsweise Telefonkontakt zwischen den Begutachtenden und der Kundin/dem Kunden.
Die sozialmedizinische Stellungnahme selbst wird dann in zwei unterschiedlichen Dokumenten verfasst. Der „medizinische Teil A“ enthält Angaben zu beigebrachten medizinischen Dokumenten, Diagnosen und den Ergebnissen der gutachterlichen Sachaufklärung. Dabei handelt es sich um diejenigen Daten, die unter dem Schutz der ärztlichen Schweigepflicht stehen. Dieses Dokument verbleibt im Ärztlichen Dienst genauso wie die vorliegenden medizinischen Unterlagen.
Der „Teil B“ enthält Angaben zu Funktionseinschränkungen, zum sozialmedizinischen Leistungsbild und die Antworten der Gutachterin oder des Gutachters auf die Zielfragen der Auftraggebenden. Dieses Dokument ist zur Weiterleitung an die Auftraggebenden bestimmt und wird diesen auf elektronischem Weg übersendet. Mit Übersendung des Teils B an die Auftraggebenden ist der Begutachtungsauftrag des ärztlichen Dienstes abgeschlossen.
Eine eventuell notwendig werdende Beantwortung ergänzender Zielfragen oder Ähnliches bedürfen der erneuten Beauftragung des ärztlichen Dienstes.
Beispiele aus der Praxis
Im Folgenden werden nun anhand von drei Fallbeispielen häufige Begutachtungsanlässe aus dem Bereich der Arbeitsagentur (SGB III) vorgestellt.
Fall 1: Beauftragung durch die Arbeitsvermittlung der Arbeitsagentur
Eine (männliche) Fachkraft für Lagerlogistik meldet sich arbeitslos und macht im Erstgespräch gegenüber dem Arbeitsvermittler geltend, dass er wegen Schulterschmerzen seine letzte berufliche Tätigkeit an einem Arbeitsplatz „Kommissionier“ nicht mehr verrichten könne.
Da die Arbeitsvermittlung bestrebt ist, ihre Kundinnen und Kunden wieder in die letzte berufliche Tätigkeit zu vermitteln, stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit diese Fachkraft für Lagerlogistik wieder ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit verrichten kann.
Die Zielfragen der Arbeitsvermittlung lauten daher im Wesentlichen:
Den Unterlagen des Kunden ist zu entnehmen, dass er sich letztmalig vor vier Wochen in orthopädischer Behandlung befand. Andere Gesundheitsstörungen werden nicht genannt beziehungsweise nicht geltend gemacht.
Mit gültiger Schweigepflichtentbindung wird ein Befundbericht des behandelnden Orthopäden beigezogen, aus dem hervorgeht, dass der Betroffene sich erstmals vor sechs Monaten wegen einer akuten Schultersteife links in Behandlung befand, zusammenfassend konservativ behandelt wurde und längerfristig arbeitsunfähig erkrankt war. Der letzte Kontakt habe vor vier Wochen stattgefunden.
Zur Klärung der aktuellen Funktionseinschränkungen sowie des positiven und negativen Leistungsbildes wird der Kunde in den „Ärztlichen Dienst“ zur Begutachtung eingeladen.
In der Begutachtungssituation klärt sich, dass der Kunde aktuell kaum Funktionseinschränkungen hat. Dies wird darauf zurückgeführt, dass er seit nunmehr drei Monaten arbeitslos ist und seiner Tätigkeit am Kommissionier-Arbeitsplatz nicht mehr nachgeht.
Weiterhin gibt der Kunde an, dass er über einen sogenannten „Gabelstaplerführerschein“ verfügt, an einer betrieblichen Eignungsuntersuchung teilgenommen hat und bei Tätigkeiten als Gabelstaplerfahrer, die er bisher nur gelegentlich ausführte, keine Schulterbeschwerden zu verzeichnen hatte. So eine Tätigkeit kann sich der Betroffene weiterhin gut vorstellen.
Im Teil A der sozialmedizinischen Stellungnahme werden die Angaben zum Befundbericht, die Diagnosen, die Ergebnisse der Anamnese und körperlichen Untersuchung, sowie die sozialmedizinische Beurteilung dokumentiert. Im Teil B wird eine „Minderbelastbarkeit der linken Schulter“ mitgeteilt sowie ein vollschichtiges Leistungsbild erstellt mit den qualitativen Einschränkungen:
Im positiven Leistungsbild wird vermerkt: „Angabe gemäß Gabelstaplerführerschein vorhanden“; in der sozialmedizinischen Beurteilung wird vermerkt: Eine Tätigkeit am Kommissionier-Arbeitsplatz ist nicht mehr leidensgerecht. Eine Tätigkeit als Gabelstaplerfahrer bleibt möglich. Weitere betriebsärztliche Eignungsuntersuchung bleibt nach Maßgabe des zukünftigen Arbeitgebers erforderlich.
Fall 2: Beauftragung durch die Leistungsabteilung
Ein Kunde meldet sich bei der Arbeitsagentur und macht geltend, dass er wegen „einer schweren Krankheit“ bereits seit 78 Wochen krankgeschrieben ist, dass er aktuell aus dem Krankengeld „ausgesteuert“ wurde und dass er sich nun – wie im Schreiben seiner Krankenkasse empfohlen – bei der Arbeitsagentur melde.
In diesem Fall geht es um die Klärung der Frage, ob der Kunde Leistungen nach § 145 SGB III im Rahmen der sogenannten „Nahtlosigkeitsregelung“ beanspruchen kann. Diese Regelung soll verhindern, dass ein Langzeiterkrankter wegen einer prognostisch noch länger als sechs Monate andauernden Leistungsunfähigkeit und somit fehlender Verfügbarkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt weder Leistungen der Arbeitsagentur noch Leistungen der Rentenversicherung erhält, da zum Zeitpunkt der Aussteuerung noch kein Antrag auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt beziehungsweise solch ein Antrag noch nicht bewilligt wurde.
Die Beauftragung erfolgt durch die Leistungsabteilung unter den Voraussetzungen des Verfahrens nach § 145 SGB III.
Die wesentliche Zielfrage lautet: Ist das Leistungsvermögen des Kunden für länger als sechs Monate oder auf Dauer aufgehoben?
Den Kundenunterlagen waren in diesem Fall aktuelle Krankenhausberichte beigefügt, aus denen hervorging, dass der Langzeiterkrankte aktuell wegen einer akuten Leukämie auf eine Stammzelltransplantation vorbereitet werde.
Hier wird für die schnellstmögliche Beantwortung der leistungsrechtlichen Fragestellung die Begutachtung nach Aktenlage („ohne Kundenkontakt“) gewählt.
Im Teil A des Gutachtens wird der Krankenhausbericht ausgewertet. Im Teil B wird für die Leistungsabteilung ohne Nennung von Funktionseinschränkungen lediglich die Mitteilung gegeben, dass der Kunde dem allgemeinen Arbeitsmarkt für länger als sechs Monate nicht zur Verfügung steht.
Die Leistungsabteilung fordert den Kunden nun auf, innerhalb eines Monats einen Antrag auf medizinische Rehabilitation oder einen Antrag auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu stellen. Wenn der Kunde diesen Antrag gestellt hat, wird bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ein „vollschichtiges Leistungsvermögen fingiert“, so dass der Kunde Arbeitslosengeld 1 erhält, ohne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen.
Fall 3: Beauftragung durch die Reha-Abteilung
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verpflichtet die Träger von (beruflichen) Reha-Maßnahmen (u. a. die Bundesagentur für Arbeit), frühzeitig drohende oder bestehende Behinderungen zu erkennen und mit entsprechenden Reha-Maßnahmen die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.
In einem konkreten Fall macht eine arbeitslose Erzieherin im Erstgespräch geltend, wegen „psychischer Probleme“ ihre letzte berufliche Tätigkeit als Erzieherin in einer Kindertagesstätte nicht mehr leisten zu können. Sie habe einen Grad der Behinderung (GdB) von 30. Wegen „langer Arbeitsunfähigkeitszeiten“ sei ihr gekündigt worden.
Die Aufgabe des Ärztlichen Dienstes ist in so einem Fall, die geltend gemachte Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX nachzuvollziehen und die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zum aktuellen Zeitpunkt zu klären.
Dementsprechend sind die Zielfragen an den Ärztlichen Dienst formuliert:
Die Kundin legt einen Bescheid über einen GdB von 30 wegen einer „psychischen Erkrankung“ sowie einen aktuellen Reha-Entlassungsbericht einer psychosomatischen Reha vor, in dem die letzte berufliche Tätigkeit als nicht mehr leidensgerecht eingeschätzt wird und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben empfohlen werden. Die Entlassungsdiagnose lautete „mittelgradige depressive Episode“. Von Seiten der Reha-Klinik wird ein Leistungsbild erstellt, in dem pflegerische oder pädagogische Tätigkeiten sinngemäß zusammenfassend ausgeschlossen werden.
Veranlasst wird in diesem Fall eine Begutachtung mit telefonischem Kundenkontakt. Es soll ergänzend geklärt werden, ob die Kundin bereits eine realistische berufliche Perspektive entwickeln konnte und ob sie schon einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt hat.
Im Telefonat klärt sich, dass die Betroffene sich für eine kaufmännische Bürotätigkeit interessiert und noch keinen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt hat.
Im medizinischen Teil A der sozialmedizinischen Stellungnahme werden wieder die vorliegenden Dokumente sowie die Angaben der Betroffenen im Telefonat dokumentiert. Im Teil B wird die Frage nach der Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX bejaht ebenso wie die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Prüfung von Erforderlichkeit der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, so dass die weitere Beratung der Kundin durch die Reha-Abteilung der örtlichen Arbeitsagentur erfolgt, unabhängig davon, von welchem Sozialleistungsträger in diesem konkreten Fall Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben letztendlich erbracht werden müssen.
Interessenskonflikt: Die Autorin und ihr Koautor sind hauptamtliche/r Ärztin/Arzt der Bundesagentur für Arbeit.
Literatur
Kralj N: II-3.1 – Aufgaben und Organisation der Arbeitsverwaltung. In: Gostomzyk JG, Hollederer A (Hrsg.): Angewandte Sozialmedizin 39. Ergänzungslieferung 5/21. Landsberg am Lech: ecomed, 2021a.
Kralj N: II-3.2 – Die ärztliche Begutachtung in der Arbeitsverwaltung. In: Gostomzyk JG, Hollederer A (Hrsg.): Angewandte Sozialmedizin 39. Ergänzungslieferung 5/21. Landsberg am Lech: ecomed, 2021b.
Kralj N: Gesetzliche Arbeitslosenversicherung – Arbeitsvermittlung. In: Breuer J et al. (Hrsg.): Die Ärztliche Begutachtung. Stuttgart: Springer Reference Medizin, 2022.
doi:10.17147/asu-1-301889
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