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Occupational Noise-Induced Hearing Loss from a Consultant Physician‘s Perspective
Einführung
Die beratungsärztliche Tätigkeit ist keine gutachterliche Tätigkeit im Sinne des § 200(2) des SGB VII, da den Versicherten unter anderem keine Möglichkeit einer Gutachterauswahl gegeben wird (s. auch Köhler 2021). Davon unabhängig können Beratungsärztinnen und -ärzte in einem anderen Verdachtsfall durchaus für Gutachten vorgeschlagen und bestellt werden (vgl. BSG-Urteil vom 05.02.2008 - B 2 U 8/07 R).
Im Zusammenhang mit der beruflichen Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) umfassen beratungsärztliche Fragestellungen in der Praxis praktisch das gesamte Verfahren von der Verdachtsmeldung über die Ermittlungen zur Lärmexposition, Art und Entwicklung der Schwerhörigkeit bis zur Anerkennung einer Berufskrankheit und der Bewertung ihrer Folgen. Darüber hinaus werden Beratungsärztinnen und -ärzte auch im Rahmen sozialgerichtlicher Auseinandersetzungen tätig. Dies soll im Folgenden dargestellt werden.
Ermittlungen, Audiogramme, Stufenverfahren
Mit der Anzeige des Verdachts auf eine berufliche Lärmschwerhörigkeit und der Vorlage eines Meldetonaudiogramms wird die Verwaltung ermittelnd tätig. In der Regel wird dabei zunächst die oder der Versicherte nach der Entwicklung ihrer/seiner Hörstörung, deren ärztlichen Behandlung (Hörgeräte?) und der Arbeitsvorgeschichte befragt. Auf dieser Grundlage werden verwaltungsseitig Ermittlungen des Präventionsdienstes hinsichtlich der beruflichen Lärmexposition und – sofern vorhanden – weitere Audiogramme zur Entwicklung der Lärmschwerhörigkeit herangezogen. Im Idealfall besteht bereits nach Aktenlage das typische medizinische Bild einer Berufskrankheit (BK) 2301.
Ist dies der Fall, kann seit 2002 verwaltungsseitig in einem Stufenverfahren in „Stufe 1“ auch ohne fachärztliche Begutachtung eine Lärmschwerhörigkeit anerkannt werden. Von dieser Möglichkeit wird häufig Gebrauch gemacht, wenn aus der Anerkennung keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) resultiert. Dies ist bei nur 5 % der anerkannten Verdachtsfälle der Fall und das Stufenverfahren führt zu einer deutlichen Verkürzung der Anerkennungsverfahren (Hecker et al. 2008).
Wenn in der Praxis die Aktenlage für Sachbearbeitende nicht eindeutig ist, kann die Beratungsärztin oder der Beratungsarzt hinzugezogen werden, die dann weitere Ermittlungen – beispielsweise eine Lärmmessung am Arbeitsplatz, die Überprüfung qualitativ zweifelhafter Audiometriebefunde oder die Beiziehung ergänzender Unterlagen – empfehlen oder aber eine Begutachtung anregen können.
Wurde bereits in der Vorgeschichte eine Lärmschwerhörigkeit festgestellt und ist seitdem eine versicherungsrechtlich erhebliche Zunahme der Erkrankungsfolgen (Schwerhörigkeit, Tinnitus) auffällig geworden, so kann beratungsärztlich beurteilt werden, ob dies mit den Folgen einer (andauernden) beruflichen Lärmexposition noch vereinbar ist oder ob Zeichen eines lärmunabhängigen Nachschadens überwiegen. Solche Fälle treten in der Praxis oft – aber nicht nur – im Zusammenhang mit initialen Ankerkennungen nach Stufe 1 des Stufenverfahrens auf. Auch hier wird die Beratungsärztin oder der Beratungsarzt im Zweifelsfall eine Begutachtung empfehlen.
Bewertung von Gutachten
Die Veränderungen in der Arbeitswelt (Lärmschutz) – und wohl auch die Einführung des Stufenverfahrens – haben dazu geführt, dass immer weniger Gutachten beauftragt werden. Damit stehen auch immer weniger Gutachterinnen und Gutachter zur Verfügung, die über eine ausreichende Erfahrung insbesondere in der Beurteilung von Grenzfällen verfügen.
Es werden daher mitunter Gutachten erstellt, die bereits im Verwaltungsverfahren erhebliche Zweifel an ihrer Qualität begründen und daher Beratungsärztinnen und -ärzten zur Bewertung vorgelegt werden.
Bestehen beratungsärztlich an einer sachgerechten Befunderhebung (Qualität der Hörtests!) keine begründeten Zweifel, kann auf der Grundlage der Königsteiner Empfehlung (Update 2020) und der gutachterlichen Literatur (Feldmann u. Brusis 2018) der Verwaltung oft eine abweichende Bewertung vorgeschlagen werden.
Weist ein Gutachten aber bereits bei der Befunderhebung schwere Mängel auf oder wurde eine offensichtliche Aggravation der Schwerhörigkeit nicht erkannt, so wird eine erneute gutachterliche Untersuchung oft unumgänglich sein.
Tinnitus
Ein Großteil der Lärmschwerhörigkeiten sind mit einem Begleittinnitus verbunden. Dieser steht oft im Vordergrund des Beschwerdebildes.
Bestehen Hinweise auf einen hohen Schweregrad des Tinnitus oder eine begleitende psychische Erkrankung, so kann die Beratungsärztin/der Beratungsarzt bereits im Verwaltungsverfahren eine nervenärztliche Zusatzbegutachtung empfehlen oder aber helfen, das Resultat einer Begutachtung einzuordnen.
Im Rahmen der Rehabilitation von Tinnitus-Betroffenen können Hinweise auf eine geeignete Behandlung gegeben werden. Dies umfasst beispielsweise die Durchführung eines Tinnitus-Beratungsgesprächs durch HNO-Fachärztinnen oder -ärzte laut Formblatt F7220 der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) die Möglichkeit einer apparativen Versorgung mit einem Hörsystem (Tinnitus-Instrument), eine ambulante Verhaltenstherapie oder aber eine stationäre Behandlung in einer dafür geeigneten Einrichtung.
Hörgeräte
Während die Gewährung einer Rentenzahlung für die Folgen einer Lärmschwerhörigkeit heute eher selten ist (s. oben), begründen die Erkrankungsfolgen immer häufiger eine Versorgung mit Hörsystemen. So hat sich die Fallzahl der mit Hörgeräten versorgten Erkrankungsfälle von 1993 bis 2005 nahezu verdreifacht (Hecker et al. 2008).
Werden die Hörgeräte am Arbeitsplatz und/oder im Lärmschutzbereich getragen, müssen Hörsysteme zusätzlich die Präventionsanforderungen des Arbeitsschutzes erfüllen (vgl. DGUV Grundsatz 312-002). Immer häufiger finden in diesem Zusammenhang Hörsysteme mit aktiver Schallunterdrückung, so genannte ICP-Systeme (Insulating Communication Plastic), Verwendung.
Für die Versorgung mit den genannten Hörsystemen haben die Träger der gesetzlichen Unfallversicherungen Rahmenverträge mit der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker abgeschlossen, die oft eine höherwertige Versorgung ermöglichen als dies zu den Festbeträgen der gesetzlichen Krankenversicherung möglich ist.
Vereinzelt werden durch Lärmschwerhörige dennoch Versorgungen eingefordert, die über das vertraglich vereinbarte Maß hinaus gehen. Beratungsärztinnen und -ärzte können in solchen Fällen die Notwendigkeit einer Hörgeräteversorgung bewerten und Alternativen vorschlagen. Sie stützen sich dabei auf die vorgelegten Anpassberichte der Hörgeräteakustik und ziehen gegebenenfalls beratende Fachkräfte für Hörgeräteakustik hinzu.
Sozialgerichtsverfahren
Nicht immer sind Versicherte mit der Bewertung ihrer Hörstörung einverstanden und fordern daher eine sozialgerichtliche Überprüfung ein. In der Regel werden dann Gutachterinnen und Gutachter beauftragt, die die Versicherten untersuchen.
Wie bereits im Verwaltungsverfahren entsprechen auch vor Gericht die vorgelegten Gutachten trotz mitunter überbordender Befunderhebung nicht immer den Qualitätsanforderungen, wie sie in der Königsteiner Empfehlung oder der Gutachtenliteratur formuliert wurden.
Bestehen auch vor Gericht Zweifel an Qualität und Inhalt der Gutachten oder liegen sich widersprechende Gutachten vor, so kann im Auftrag der beklagten Unfallversicherung eine beratungsärztliche Stellungnahme eingeholt werden. Diese kann sowohl den Zuständigen für Rechtangelegenheiten des Auftraggebers bei der Formulierung ihrer Stellungnahme unterstützen als auch dem Gericht vorgelegt werden. Es obliegt dann dem Gericht, ob und inwieweit die beratungsärztliche Stellungnahme bei der Urteilsfindung Berücksichtigung finden kann (Köhler 2021).
Weiteres
Über die Befassung mit konkreten Verdachts- oder Versicherungsfällen hinaus können Beratungsärztinnen und -ärzte die Geschäftsführung der gesetzlichen Unfallversicherung auch allgemein beraten und unterstützen.
Dies kann die (Weiter-)Entwicklung von berufsgenossenschaftlichen Verfahrensweisen wie beispielsweise die Einführung eines stufenweisen Behandlungskonzepts von Tinnitus-Betroffenen (s. oben) oder die Erstellung von Merkblättern betreffen.
Auch kann die Beratungsärztin oder der Beratungsarzt mit der Fortbildung der Beschäftigten beauftragt werden.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.