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Betriebliche Gesundheit

Arbeitsmedizinische Regel (AMR) Nr. 3.3

Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge unterstützt und kontrolliert in hervorragender Weise die Wirksamkeit der betrieblichen Gesundheitsstrategie (BGS)

AMR 3.3 – Holistic occupational health care provides excellent support and control for the effectiveness of the occupational health strategy (OHS)

„Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge im Sinne dieser AMR berücksichtigt alle Arbeitsbedingungen und alle arbeitsbedingten Gefährdungen sowie die individuellen Wechselwirkungen von Arbeit und physischer und psychischer Gesundheit“ (ArbMedVV § 2 Abs. 1 Nr. 2). „Ganzheitlich“ bedeutet also, dass bei der eigentlichen Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge (Beratung und ggf. Untersuchung) nicht nur Einzelfaktoren, sondern das inte­grierte Gesamtergebnis aus Arbeits- und Gesundheitssituation betrachtet werden soll.
Als einfaches handlungsleitendes Motto der Arbeitsmedizinischen Vorsorge kann formuliert werden: „Wir prüfen regelmäßig und systematisch, ob Arbeit und Gesundheit zueinander passen“ (s. Tabelle 1: 7A, 7D).

Arbeitsmedizinische Vorsorge als „Erwartung/Funktion“ im Dienst der betrieblichen Gesundheitsziele

Es können Missverständnisse auftreten, wenn der Betrieb zum Beispiel eine Tauglichkeitsprüfung für die Qualitätsoptimierung oder einen allgemeinen Fitnesscheck erwartet, die Betriebsmedizin aber eine Vorsorge mit Blick auf die Beschäftigungsfähigkeit bei der konkreten Tätigkeit liefert. Die arbeitsmedizinische Vorsorge unterstützt die betrieblichen Gesundheitsziele besonders wirksam, wenn alle Beteiligten eine adäquate „Erwartung“ an die zentrale „Funktion“ der Vorsorge haben. Diese lässt sich gut mit dem oben genannten Motto (s. Tabelle 1: 7A) beschreiben. Der normative – das heißt nicht beliebige und enttäuschungsfeste – Charakter ergibt sich aus dieser generalisierten Erwartung an die Vorsorge. Es ist nicht möglich und erforderlich, jeden einzelnen Befragungs- und Untersuchungsbestandteil festzulegen. Im Sinne der Systemtheorie ist die Funktion der Vorsorge nicht nur eine zu bewirkende Wirkung, sondern eine abstrahierte Problemstellung, unter der alternative Problemlösungen als Äquivalente erscheinen (Luhmann 2021). Diese Problemstellung „Vorsorge“ stabilisiert sich wechselseitig mit den übrigen Erwartungen/Funktionen der betrieblichen Gesundheitsstrategie. Wenn das Motto der Vorsorge im Betrieb verstanden wird, dann wird auch akzeptiert, dass Betriebsärztinnen und -ärzte eine Information zu den Arbeitsbedingungen und den Gefährdungsbeurteilungen brauchen und dass sie sich für Arbeitsorganisation, Kommunikation, betriebliche Kennzahlen, Lernangebote, Qualitätsziele und für die Führungs- und Betriebs­kultur interessieren (müssen).

Zusätzlich definiert die AMR 3.2 „Arbeitsmedizinische Prävention“: „Arbeitsmedizinische Vorsorge kann technische und organisatorische Schutzmaßnahmen wirksam ergänzen, nicht aber ersetzen“ (vgl. AMR 3.2). Das bedeutet, dass sich neben der arbeitsmedizinischen Vorsorge weitere generalisierte Erwartungen/Funktionen im Kontext der betrieblichen Gesundheitsziele ergeben. Hieraus folgt eine weitere Verständnismöglichkeit von „Ganzheitlichkeit“, nämlich die sinnvolle Vernetzung der arbeitsmedizinischen Vorsorge mit allen anderen betrieblichen Erwartungen/Funktionen des arbeitsbezogenen Gesundheitsschutzes. Diese Art von Ganzheitlichkeit der Vorsorge kommt insbesondere dann zur Geltung, wenn Betriebsärztinnen und Betriebsärzte die gesamte betriebliche Gesundheitsstrategie kennen und in der Lage sind, darauf Bezug zu nehmen beziehungsweise bei Bedarf darauf zu verweisen oder auch bei deren Weiterentwicklung mitzuwirken (Gesamtübersicht siehe ➥ Tabelle 1).

Mit welchen anderen BGM-Erwartungen/Funktionen steht die arbeitsmedizinische Vorsorge in Verbindung?

Wenn eine betriebliche Gesundheitsstrategie (BGS) universell, branchenübergreifend und in jeder Betriebsgröße einsetzbar sein soll, dann muss die Anzahl der Erwartungen/Funktionen so klein wie möglich und nur so groß wie nötig sein. Die MECE-Regel1 (Ang 1984) hilft hier bei der Annäherung an eine nie vollständig erreichbare Idealstruktur. In Tabelle 1 sind neun Erwartungen/Funktionen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) zusammengestellt, anhand derer sich die wesentlichen Aspekte einer betrieblichen Gesundheitsstrategie betrachten, prüfen und weiterentwickeln lassen.

Dabei fokussiert jede BGM-Erwartung/Funktion auf jeweils eine wichtige Problemstellung im Kontext der betrieblichen Gesundheitsziele und darf nicht verwechselt werden mit konkreten Abteilungen, Personen oder Einzelmaßnahmen. Bei kleinen Betrieben können mehrere Erwartungen/Funktionen an die Person der oder des Inhabenden/Geschäftsführenden gebunden sein. Bei großen Betrieben gibt es in der Regel spezialisierte Organisationseinheiten für die verschiedenen Erwartungen/Funktio­nen. Durch diese Betrachtungsweise wird es möglich, die Gesundheitsstrategien von ganz unterschiedlichen Betriebsstrukturen im Hinblick auf die Erfüllung der allgemeingültigen Erwartungen/Funktionen zu vergleichen. Innerhalb eines Betriebs lassen sich ganz verschiedene Einzelmaßnahmen im Hinblick auf ihre Nützlichkeit für eine bestimmte Erwartung/Funktion vergleichen (Äquifinalität2, Luhmann in: Tacke u. Lukas 2022).

Warum ist die (An)Erkennung von ungezielten und anonymen Gesundheitswirkungen wichtig?

Die ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge will die Arbeitssituation möglichst umfassend betrachten. Daher sollten auch die ungezielten Wirkungen auf die Gesundheit betrachtet werden. Diese kommen bereits ohne gesundheitsbezogene Verabredungen und ohne die Einwirkung von Gesundheitsfachkräften zum Tragen. Zunächst resultieren solche Wirkungen aus den schwer kontrollierbaren Voraussetzungen wie Haltung, Arbeitsstil und Gruppendynamik bei Belegschaft und Führungskräften (s. Tabelle 1: Spalte B). Hinzu kommen Managementeffekte, bei denen primär gar nicht an die Gesundheit der Beschäftigten gedacht wurde (s. Tabelle 1: Spalte C). Diese Effekte können als „anonymes“ oder „implizites“ BGM bezeichnet werden, weil sie – möglicherweise unbeabsichtigt und unreflektiert – positive oder negative Wirkungen auf die Gesundheit entwickeln. Zu nennen sind hier Aktivitäten der Betriebe mit Blick auf Kundenorientierung, Produktqualität, Weiterbildung, Personalauswahl und Führungskräftequalifizierung (s. Tabelle 1 Spalte C). Die Maßnahmen im expliziten BGM wollen gezielte Wirkungen auf die Gesundheit auslösen. Sie lassen sich jeweils nur im Kontext mit den ungezielten Wirkungen adäquat beurteilen.

Einfache Heuristik für die ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge: Was ist der Zielzustand und welche handlungsrelevanten Kennzahlen können hilfreich sein?

Das Zusammenspiel von Arbeitssituation und Gesundheit ist vielschichtig und bidirektional. Insofern sind die elementaren Gesundheitskennzahlen wie Blutdruck, Gewicht, Funk­tionsmaße, Laborwerte etc. wichtig, aber nicht ausreichend für die Beantwortung der Prüffrage (s. Tabelle 1: 7A) bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Mit wissenschaftlich-formaler Strenge sind die Zusammenhänge von Motivation, Beanspruchung und Arbeitsleistung beispielsweise in dem Job-Demand-Resources Model beschrieben (Bakker et al. 2017).

Für die betriebsärztliche Praxis seien hier beispielhaft zwei Arbeitshilfen erwähnt, die sowohl in den Alltag integriert als auch für Auswertungen und wissenschaftliche Fragestellungen verwenden werden können: Eine feingliedrige Darstellung des subjektiven Gesundheitserlebens findet sich unter dem Konzept „Meine Positive Gesundheit“ von Machteld Huber (s. „Weitere Infos“) Dort lassen sich auch frei verfügbare Arbeitshilfen in deutscher Sprache herunterladen. Ein weiteres, langjährig eingeführtes und validiertes Konzept mit frei verfügbaren Arbeitshilfen ist der Arbeitsbewältigungsindex (ABI) beziehungsweise Work Ability Index (WAI, s. „Weitere Infos“).

Für die alltägliche Praxis sind möglicherweise auch solche gut strukturierten und vorgefertigten Arbeitshilfen noch zu aufwendig und zu kompliziert. Als weitere Alternative wird daher eine einfache arbeitsmedizinische Anamnesefrage als Einstieg in die Vorsorgeberatung vorgeschlagen: „Wie geht es Ihnen gesundheitlich mit Ihrer Arbeit?“. Diese Frage kann in jedem arbeitsanamnestischen Vorsorgegespräch gestellt werden. Als expliziter oder impliziter Referenzpunkt dient das integrierte allgemeine Gesundheitszielbild „Mir geht’s gut und meine Arbeit gelingt“. Die Antwort der Beschäftigten auf die Frage dient dann als komplexer handlungsleitender Indikator („Kennzahl“) für jeden Einzelfall. Wenn dieses Zielbild mit Blick auf die nächsten zwei Jahre bejaht wird, dann ergibt sich – trotz einer gegebenenfalls bestehenden Gesundheitsstörung, Behinderung, etc. kein Handlungsbedarf für den Betrieb. Im gegenteiligen Fall öffnet sich für die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte das ganze Feld der differenzialdiagnostischen Überlegungen. Sind Anpassungen bei der Tätigkeit erforderlich? Wenn ja, welche? Wie ist der Weg zur Umsetzung? Sind spezielle – der Schweigepflicht unterliegende – gesundheitsbezogene Maßnahmen sinnvoll und erforderlich? Wenn ja, welche? Inwiefern und wie weit möchten die Beschäftigten dabei betriebsärztlich unterstützt werden? Im persönlichen Gespräch über dieses Motto lassen sich auch schnell Missverständnisse zum Fokus der arbeitsmedizinischen Vorsorge („Ich habe heute Schnupfen“, „Können Sie meine Warze operieren?“ etc.) und unrealistische Erwartungen („Ich muss perfekt sein“, „Arbeit darf nie anstrengend sein“ etc.) ausräumen.

Das integrierte Gesundheitszielbild „Mir geht’s gut und meine Arbeit gelingt“ klingt im ersten Moment möglicherweise banal und beliebig. Es fasst aber praxistauglich die unendliche Fülle von individuellen Kombinationsvarianten zwischen Motivation, Beanspruchung und Arbeitsleistung zusammen und kann in jedem Einzelgespräch ein erster Einstieg in die Frage sein: Besteht Handlungsbedarf oder nicht? Dieses Zielbild würdigt in seiner Offenheit zudem die „psychosomatische Wende“, die auch die Arbeitsmedizin erfasst hat. Die Antwort: „Mir geht es gesundheitlich nicht gut“ kann auf somatopsychische und/oder psychosomatische Zusammenhänge hinweisen. Die Beschäftigten selbst haben häufig nur rudimentäre Konzepte hierzu und merken einfach, dass etwas nicht stimmt oder nicht in Ordnung ist. Und schließlich nimmt der Satz Rücksicht auf die subjektive Perspektive („Mir …“ und „meine …“), die bei einer Gesundheitsbetrachtung von Personen durch objektive Parameter zwar ergänzt und gestützt, aber nicht ersetzt werden kann. Bei Bedarf kann eine objektivierende Erweiterung auf Betriebsebene durch einfache statistische Auswertungen hinzugefügt werden. Die quantitative Analyse würde dann anzeigen, wie viele Beschäftigte im Betrieb antworten können: „Mir geht’s gut und meine Arbeit gelingt“. Wenn von Anfang an klar ist, dass ganz konkrete Fragestellungen statistisch ausgewertet werden sollen, dann empfiehlt sich eher die Nutzung eines Instruments vergleichbar zum ABI/WAI (s. oben).

Arbeitsmedizinische Vorsorge – Der Weg zum betriebsärztlichen Urteil

Motto: „Wir prüfen regelmäßig und systematisch, ob Arbeit und Gesundheit zueinander passen“

„Regelmäßig“ bedeutet, dass Beschäftigte in einem bestimmten Rhythmus zur Vorsorge eingeladen werden (vgl. AMR 2.1, „Weitere Infos“). „Systematisch“ bedeutet, dass die Verbindlichkeit (Angebots- oder Pflichtvorsorge) aus der Gefährdungsbeurteilung abgeleitet wird. „Systematisch“ bedeutet darüber hinaus, dass in jeder Vorsorge bestimmte Prüfdimensionen abgefragt werden. „Systematisch“ bedeutet schließlich auch, dass bei Bedarf die Vernetzung zu den betrieblichen und externen Unterstützungsangeboten hergestellt wird. Dadurch integriert die ganzheitliche Vorsorge das Potenzial für Prävention (regelmäßige Zuwendung und Prüfung) und bedarfsgerechte Unterstützung (s. Tabelle 1, 7D).

In der AMR 3.3, Abs. 5 und in der ArbMedVV ist das arbeitsmedizinische Vorgehen detailliert beschrieben:

  • Klassische Fragen zur Arbeitssituation: Wie genau sieht die Tätigkeit der Beschäftigten aus?„… Die ärztliche Anam­nese im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorge umfasst die aktuellen Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen, … darüber hinaus Angaben zur Erwerbsbiografie, … gefährdenden Bedingungen, … Unternehmensinformationen zu … Arbeitszeitsystemen, Expositionsdaten und zur Gefährdungsbeurteilung.“
  • Diese Fragen werden im Sinne der Ganzheitlichkeit ergänzt durch die Miterfassung der gesundheitsrelevanten Informationen3 zu den weiter unten beschriebenen betrieblichen BGM-Erwartungen/Funktionen.

  • Medizinische Fragen zur Gesundheit: Wie genau sieht die Gesundheitssitua­tion der Beschäftigten aus? „… Die ärztliche Anamnese im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorge umfasst [Fragen] zur physischen und psychischen Gesundheit, zur gesundheitlichen Vorgeschichte und bei Bedarf auch zur Familienanamnese …“.
  • Diese Angaben werden ergänzt durch objektive Befunde und den Eindruck der Ärztin oder des Arztes.

  • Arbeitsmedizinische Beurteilung: Passen Tätigkeit (Arbeit) und Gesundheit (Medizin) zusammen? Diese Beurteilung ist das Kernstück der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Entweder ist das Prüfkriterium im Grünbereich („Mir geht’s gut und meine Arbeit gelingt“) oder es ergibt sich ein Handlungsauftrag durch die Aussage der Beschäftigten: „Mir geht es nicht gut mit meiner Arbeit, weil …“ – gegebenenfalls in Verbindung mit objektiven Befunden.
  • Unterstützungsangebote beziehungsweise Hinweis auf Unterstützungsmöglichkeiten: Je nach individueller Lage können die Betriebsärztinnen und -ärzte passgenau auf andere Erwartungen/Funktionen aus dem Bündel der BGM-Funktionen (s. Tabelle 1) oder bei Bedarf auch auf externe Angebote von Haus- und Fachärztinnen und -ärzten, Renten­versicherung etc. verweisen.
  • BGM-Erwartung/Funktion 1: Unsere Kundinnen/Kunden werden gut bedient

    Die Orientierung am Kundenbedürfnis hat mittelfristig eine hohe Bedeutung für die soziale Sicherheit und damit auch für die „ganzheitliche“ Gesundheit der einzelnen Beschäftigten, weil dadurch die Existenz von Betrieb und Beschäftigten gesichert wird. Auch bei öffentlichen Verwaltungen, die vordergründig nicht dem „Markt“ ausgesetzt sind, wird eine dysfunktionale Kundenorientierung Auswirkungen auf die längerfristige Gesundheit und Motivation der Beschäftigten haben. Die systematische Vernachlässigung der Kundenbedürfnisse gefährdet das Erleben von Sinnhaftigkeit bei den einzelnen Beschäftigten. Insofern kann die Bedeutung dieser Erwartung/Funktion für eine moderne Gesundheitsstrategie kaum überschätzt werden.

    Hinweis: Wenn ein Betrieb Eignungsuntersuchungen im Hinblick auf Produktqualitätsziele durchführen lässt, dann können diese unter dieser ersten BGM-Funktion/Erwartung eingeordnet werden. Den Betriebsärztinnen und -ärzten muss bewusst sein, dass solche Untersuchungen nicht zur arbeitsmedizinischen Vorsorge gehören, sondern primär der Kundenbindung und Produktqualitätssicherung dienen.

    BGM-Erwartung/Funktion 2: Wir sorgen für gute Arbeitsorganisation und freundliche Kommunikation

    Schlechte Arbeitsorganisation und unfreundliche Kommunikationsstile sind häufig die nicht-medizinische Vorstufe zu Gesundheitsstörungen. Erfahrene Betriebsärztinnen und -ärzte verstehen es, solche Hinweise aufzunehmen und konkretisierend nachzufragen. Man verfügt dann zunächst „nur“ über eine subjektive Einschätzung. Diese kann aber ein relevanter Beitrag zur gesundheitlichen Gesamtsituation der Beschäftigten sein. Zusätzlich bildet sich aus der Summe der Rückmeldungen vieler Beschäftigter ein balanciertes Gesamtbild vom Betrieb.

    BGM-Erwartung/Funktion 3: Wir vermeiden gemeinsam Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten (inkl. Infektionen) und arbeitsbedingte Erkrankungen

    Theoretisch und gemäß der „reinen Lehre“ sollten Betriebsärztinnen und -ärzte vorab alle relevanten Gefährdungen durch die Gefährdungsbeurteilung und Begehungen in systematischer Weise bekannt sein. In der Praxis zeigt sich, dass viele Gefährdungsbeurteilungen trotz besten Absichten lückenhaft sind. Teilweise ist dies auch der hohen Komplexität und Dynamik moderner Arbeitsprozesse geschuldet. Diese Lücke lässt sich in hervorragender Weise durch die arbeitsmedizinische Anamnese bei der ganzheitlichen Vorsorge schließen. Die Beschäftigten beschreiben ihre tatsächlichen Tätigkeitsbestandteile über den Verlauf eines Tages oder einer Woche häufig konkreter und präziser als die notwendigerweise abstrahierenden Gefährdungsbeurteilungen. So ergeben sich im Einzelgespräch wertvolle Hinweise, die bei der Begehung und der Gefährdungsbeurteilung übersehen wurden. Diese Informationsquelle ist besonders dort von Bedeutung, wo sich Gefährdungen aus sporadischen oder verborgenen Tätigkeiten ergeben, die bei Routineprüfungen leicht übersehen werden. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte werden nicht leichtfertig jeden individuellen Hinweis als relevante Tatsache einschätzen. Sie werden diese Hinweise aber in ihre Gesamtschau vom Betrieb einordnen und gegen andere Quellen abwägen. Weiterhin können sie diese Informationen in anonymisierter Weise bei Arbeitsschutzausschusssitzungen, Begehungen oder sonstigen betrieblichen Besprechungen zur Verbesserung der Verhältnisprävention einbringen.

    Hinweis: Wenn ein Betrieb Eignungsuntersuchungen im Hinblick auf Fremdgefährdungen durchführen lässt, dann können diese unter dieser dritten BGM-Funktion/Erwartung eingeordnet werden. Betriebsärztinnen und -ärzten muss bewusst sein, dass solche Untersuchungen nicht zur arbeitsmedizinischen Vorsorge gehören, sondern primär Kolleginnen und Kollegen oder weitere Beteiligte vor Fremdgefährdung schützen sollen.

    BGM-Erwartung/Funktion 4: Kolleginnen und Kollegen helfen sich ­gegenseitig

    Der kollegiale Zusammenhalt zwischen Beschäftigten und ihrem Umfeld ist immer wieder ein Thema bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Aus den wiederkehrenden Vorsorgegesprächen mit verschiedenen Personen aus verschiedenen Bereichen ergibt sich für Betriebsärztinnen und -ärzte nach mehreren Monaten bis einigen Jahren, eine Vorstellung von der jeweiligen betrieblichen Lage. Auch hier gilt, dass die subjektive Einschätzung ein relevanter Beitrag zur gesundheitlichen Gesamtsituation der Beschäftigten sein kann.

    BGM-Erwartung/Funktion 5: Wir nutzen die Angebote für lebenslanges Lernen und entwickeln unseren Arbeitsstil und Lebensstil

    Nebenbei erfahren die Betriebsärztinnen und -ärzte, welchen Stellenwert das Thema „Lernen“ in einem Betrieb und für die einzelnen Personen hat. Für die fachlichen Bildungs- und Lernangebote zur Verbesserung des Arbeitsstils sind in erster Linie die Fachvorgesetzten zuständig. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte können aber im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge grob abschätzen, ob Beschäftigte eher durch zu viel oder zu wenig Anforderungen an die jeweilige Lernfähigkeit belastet sind. Eine Anregung zur Nachjustierung in die eine oder andere Richtung ist daher ein möglicher Beratungsinhalt der Vorsorge. Manche Tätigkeiten produzieren „aus sich heraus“ so viele Veränderungen und schnell wechselnde Herausforderungen, dass sich daraus ein übersehenes oder unterschätztes Potenzial für lebenslanges Lernen „on-the-job“ ergibt. Gegebenenfalls müssen Beschäftigte gegen „Überstimulation“ geschützt werden. In anderen Fällen mag ein gesundheitsgefährdender Mangel an Anregung oder an Qualifikationen vorliegen. Bei guter Vernetzung können Betriebsärztinnen und Betriebsärzte dann hilfreiche Hinweise geben, beispielsweise zu Angeboten, die neue Mitarbeitende bisher übersehen haben und die sie bei der stabilen Erledigung ihrer Arbeitsaufgaben unterstützen können. Durch die kumulierten Rückmeldungen über Monate und Jahre können sich Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ein Bild vom kollektiven betrieblichen Arbeitsstil, von expliziten Lernangeboten sowie von der Akzeptanz dieser Angebote im Betrieb machen.

    Manche Betriebe bieten zusätzlich Lern- und Trainingsangebote für einen gesunden Lebensstil an. Hier kann sich aus der Verzahnung von betriebsärztlicher Vorsorgeberatung, Diagnostik und dem Verweis auf konkrete Interventionsangebote eine positive Dynamik ergeben.

    BGM-Erwartung/Funktion 6: Wo drückt der Schuh? Unsere Führungskräfte wirken mit Fürsorgegespräch und Klärungsgespräch als „first responder“

    Zwischen den Zeilen oder explizit erfahren Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, welchen Stellenwert die Leitungs- und Führungskultur in einem Betrieb hat. Werden Führungskräfte systematisch ausgewählt und vorbereitet? Gibt es klare Erwartungen an Organisations-, Leitungs- und Führungsaufgaben? Gibt es eher zufällige Ernennungen und Aufgabenverteilungen? Durch die kumulierten Rückmeldungen über Monate und Jahre können sich Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ein Bild vom Umgang mit Führungsstilen im Betrieb machen und diese Informationen in balancierter Weise für ihre Beratungsleistung gegenüber dem Betrieb einfließen lassen.

    BGM-Erwartung/Funktion 8: Hier erhalte ich vertrauliche Beratung und Gesprächsangebote: Betriebsärztin/-arzt, Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung, Fort- und Weiterbildung, Psychologischer Dienst, Sozialdienst, Personalabteilung etc.

    Die Beratung im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge hat typischerweise einen gesetzlich fundierten äußeren Anlass (gefährdende Tätigkeit). Durch das Instrument der Wunschvorsorge kann zusätzlich auch der Bedarf der Beschäftigten die Beratung auslösen. Der Inhalt der Beratung ist in jedem Fall immer vertraulich und kann häufig nur dadurch seine volle Wirkung entfalten.

    Es ist wichtig, dass Betriebsärztinnen und Betriebsärzte das Gesamtpaket der Beratungsangebote im Betrieb kennen und je nach Problemlage darauf verweisen. Wenn diese Vernetzung funktioniert, erhöht sich das Potenzial der ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge.

    BGM-Erwartung/Funktion 9: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM): Notwendige Abstimmungen zwischen Gesundheitssituation und indivi­dueller Arbeitsorganisation

    Nebenbei erfahren Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, welchen Stellenwert und welchen Umsetzungsgrad das BEM in einem Betrieb hat. Auch bei einer gegebenenfalls unterentwickelten „BEM-Kultur“ können Betriebsärztinnen und Betriebsärzte im Einzelfall aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge heraus immer ein BEM-Verfahren anstoßen. Durch die kumulierten Rückmeldungen über Monate und Jahre können sich Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ein Bild vom Umgang mit dem BEM im Betrieb machen und diese Informationen in balancierter Weise für ihre Beratungsleistung gegenüber dem Betrieb einfließen lassen. Wenn diese Vernetzung funktioniert, erhöht sich das Potenzial der ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge.

    Zusammenfassung

    Die ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge ist in hervorragender und vielfältiger Weise geeignet, die Wirksamkeit der betrieblichen Gesundheitsstrategie zu erhöhen. Das gilt gleichermaßen für ganz unterschiedliche betriebliche Strukturen, weil die Vorsorge jeweils von der individuellen Arbeits- und Gesundheitssituation ausgeht. Die AMR 3.3 erlaubt eine Fokusverschiebung weg von der isolierten Betrachtung einzelner Arbeitsbelastungsfaktoren hin zur Gesamtbetrachtung der multifaktoriell beeinflussten Beanspruchungssituation der Beschäftigten. Dabei soll nicht die bürokratische Abarbeitung von aufwendigen Checklisten im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es um den Einsatz der arbeitsmedizinisch trainierten ärztlichen Urteilskraft. Der ganzheitlich-integrierende Ansatz identifiziert prototypische Beanspruchungssituationen und kann dadurch die jeweils wesentlichen Aspekte in der Vorsorge nach oben priorisieren. Die ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge steht weder zur haus- und fachärztlichen Versorgung noch zur betrieblichen Gesundheitsförderung in Konkurrenz, sondern ergänzt diese und vernetzt sich mit diesen in einer konstruktiven Weise. Bei der ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge fließen – wie nirgendwo sonst – die betrieblichen Informationen zur Arbeitssituation und die medizinischen Informationen zur Gesundheitssituation zusammen und ermöglichen damit eine fundierte arbeitsmedizinische Beurteilung, die zunächst den Beschäftigten zur individuellen Verfügung gestellt wird. Unter selbstverständlicher Beachtung der ärztlichen Schweigepflicht und des Selbstbestimmungsrechts können sich daraus im Einzelfall weitere betriebliche oder außerbetriebliche Interventionen ergeben. Unter den Bedingungen der Anonymisierung können sich daraus auch kollektive betriebliche Auswertungen und generalpräventive Maßnahmen ergeben. Hieran wird deutlich, wie sich durch die Vernetzung der arbeitsmedizinischen Vorsorge mit den übrigen BGM-Erwartungen/Funktionen ein zusätzlicher Aspekt von Ganzheitlichkeit und organisatorischer Stabilisierung ergibt.▪

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Ang A, Tang W: Probability concepts in engineering planning and design –volume II: decision, risk and reliability. Hoboken: John Wiley & Sons, 1984 (Die MECE-Regel ist ein grundlegender Ansatz der Entscheidungsfindung und wird universell verwendet.)

    Bakker AB, Demerouti E: Job demands–resources theory: Taking stock and looking forward. J Occup Health Psychol 2017; 22: 273–285.

    Luhmann N: Die Grenzen der Verwaltung. Berlin: Suhrkamp, 2021.

    Luhmann N: Äquifinalität … Zurechnung. In: Tacke V, Lukas E (Hrsg.): Schriften zur Organisation 5. Wiesbaden: Springer VS, 2022.

    doi:10.17147/asu-1-266299

    Weitere Infos

    AMR Nr. 2.1 „Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge“ (AMR 2.1) (Stand 10.05.2016)
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regel…

    AMR Nr. 3.2 „Arbeitsmedizinische Prävention“ (AMR 3.2) (Stand 15.03.2017)
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Re­geln/Regelwerk/AMR/AMR-3-2.html

    AMR Nr. 3.3 „Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge unter Berücksichtigung aller Arbeitsbedingungen und arbeitsbedingten Gefährdungen“ (AMR 3.3) (Stand 25.01.2023)
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regel…

    Arbeitsbewältigungsindex (ABI) bzw. Work Ability Index (WAI) („Eine Familie stellt sich vor“)
    https://www.wainetzwerk.de/uploads/z-neue%20Uploads/Literatur/WAI_Arbei…

    Huber M: „Meine Positive Gesundheit“
    https://www.iph.nl/en/positive-health/what-is-it/

    Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) (2008) (Stand 12.07.2019)
    https://www.gesetze-im-internet.de/arbmedvv/index.html

    Kernaussagen

  • Die Grundprinzipien der ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge (G-AMV) sind universell anwendbar.
  • G-AMV erfasst die wesentlichen Aspekte der Beanspruchungssituation, inklusive der anonymen und ungezielten Wirkungen auf die Gesundheit.
  • G-AMV ist inhaltlich vernetzt mit allen anderen BGM-Erwartungen/Funktionen.
  • G-AMV lebt von der ärztlichen Urteilskraft.
  • G-AMV unterstützt die Wirksamkeit der betrieblichen Gesundheitsstrategie.
  • Kontakt

    Dr. Stephan Schlosser
    Arbeitsmedizin – Innere Medizin; Landesvorsitzender VDBW Württemberg

    Foto: ALB FILS KLINIKEN/Alexander Beck

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