Einleitung
Die Arbeitswelt verändert sich. Nicht nur die Pandemie hat in letzter Zeit gezeigt, dass nichts so beständig ist wie der Wandel. Seit vielen Jahren werden die Themen Digitalisierung und digitale Transformation diskutiert. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Beratung im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Lag 2019 der Fokus der Beratung noch auf Begehungen und arbeitsmedizinische Vorsorgen im Betrieb, verlagerte er sich während der Pandemie auf den Infektionsschutz und die Bildschirmarbeit zu Hause. Die Bedeutung des Arbeitsschutzes für die Fortsetzung der betrieblichen Arbeit unter Pandemiebedingungen gewann deutlich an Wertschätzung.
Nach zwei Jahren Pandemie, ist es an der Zeit die bisherige Beratung im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Veränderungen der letzten Jahre zu reflektieren und die Notwendigkeiten für eine weitere kontinuierliche Entwicklung der Arbeitswelt vorauszudenken, um die „neue“ Sichtbarkeit des Arbeits- und Gesundheitsschutzes weiter zu entwickeln.
Die neue Arbeitswelt
Durch Digitalisierung und digitale Transformation werden Möglichkeiten an Tätigkeiten eröffnet, die bislang nicht genutzt wurden. Die Informations- und Kommunikationstechnik entwickelt sich weiter und Algorithmen sowie Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen Aufgaben. Beschäftigte arbeiten global zusammen, sind vernetzt und nutzen gemeinsame Clouds. Zentrale Kennzeichen dieser kontinuierlichen Veränderung sind:
Corona hat die Veränderung der Arbeitswelt beschleunigt. Bodin et al. (2021) geben an, dass sich der Anteil der Beschäftigten, die im Homeoffice arbeiten, im Vergleich zu vor der Pandemie verdoppelt hat, auch wenn zuletzt eine leicht rückläufige Tendenz zu beobachten war. 38 % der abhängig Beschäftigten arbeiteten im September 2021 stundenweise im Homeoffice, im Februar 2021 waren es noch 49 %. Nach Adolph et al. (2021) nutzten zum Zeitpunkt der Befragung 66 % der befragten Betriebe die Option des Homeoffice.
Dies hat Auswirkungen auf die sicherheitstechnische Betreuung. Adolph et al. (2021) und Zittlau (2022) haben ermittelt, dass in 66 % der Fälle beziehungsweise zum überwiegenden Teil die Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifas) in betriebliche Maßnahmen zum Umgang mit Corona eingebunden waren. Für die Fachärztinnen und -ärzte für Arbeitsmedizin dürfte die Einbindung noch größer gewesen sein, da sie zusätzlich zum Thema Infektionsschutz gefragt wurden.
Die Gefährdungsbeurteilung wurde als klassisches Arbeitsschutzinstrument als überwiegend hilfreich beurteilt (Adolph et al. 2021; Zittlau 2022). Das Thema Unterweisung und aktive Kommunikation wurde als wichtige, weit verbreitete Maßnahme ermittelt, die 91 % der befragten Betriebe als umgesetzt angaben (Adolph et al.
2021).
Im Zusammenhang mit der Sichtbarkeit des Arbeitsschutzes geben Adolph et al. (2021) und Zittlau, (2022) an, dass eine gestiegene Wertschätzung und positivere Haltung gegenüber dem Arbeitsschutz in der Corona-Pandemie entstanden ist (➥ Abb. 1).
Auch Tisch et al. (2021) haben ermittelt, dass der betriebliche Arbeits- und Gesundheitsschutz im Zuge der Corona-Pandemie eine enorme Aufmerksamkeit bekommen hat. Trotz befristeter Maßnahmen trat eine Sensibilisierung der Betriebsverantwortlichen für arbeitsschutzrelevante Themen ein, die auch zukünftig den betrieblichen Arbeitsschutz stärken kann. In der Befragung vom August 2021 gaben 63 % der Betriebsverantwortlichen an, dass sie den Arbeitsschutz bei betrieblichen Entscheidungen zukünftig stärker berücksichtigen werden (Tisch et al. 2021).
Bei aller Veränderung in den letzten Jahren sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Veränderung der Arbeitswelt neben der Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit weitere Neuerungen mit sich bringt. Relevant sind Begriffe wie Industrie 4.0, Arbeit 4.0, Internet der Dinge, cyberphysische Systeme und Künstliche Intelligenz.
Menschen, Maschinen und Produkte sind durchgängig vernetzt. Produkte und Prozesse werden von autonomen und selbstlernenden Softwaresystemen gesteuert. Neue Möglichkeiten der Arbeit entstehen beispielsweise durch Sensorik, technische Assistenzsysteme, Virtual und Augmented Reality, Robotik und additive Fertigungsverfahren. Dabei spielt der Umgang mit Daten eine zentrale Rolle.
Die technischen Möglichkeiten der Arbeitswelt 4.0 verändern die Arbeit der Beschäftigten. Die neuen Technologien bieten beispielsweise die Chance, dass physische Belastungen für die Beschäftigten sinken oder besonders gefährliche Tätigkeiten durch autonome Systeme substituiert werden. Die Gefährdungen der Beschäftigten verlagern sich eher hin zu psychischen Belastungen, wie Arbeitsverdichtung, Fremdsteuerung und Überwachung, Komplexität, Unterbrechungen, Unklarheit der Rolle sowie Omnipräsenz (Gimpel et al 2019). Neue Technologien bringen neue Themen in die Beratung.
Bisherige Beratung und Kritik am Beratungsansatz
Janda u. Guhlemann (2019) haben schon vor der Corona-Pandemie ermittelt, dass aus der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort durch die Digitalisierung eine Herausforderung für das Arbeitsschutzsystem erwächst, weil der Arbeitsschutz und seine Strukturen (nach wie vor) der Logik der Normalarbeit im Betrieb folgen.
Arbeitsschutz ist alten Leitbildern durch den Schwerpunkt auf einfach messbare und quantifizierbare Gefährdungen unterworfen. Psychische und soziale Belastungen rund um ständige Erreichbarkeit, mobile Arbeit
und Entgrenzung wurden selten problematisiert.
Von Bedeutung ist der Zugang des Arbeitsschutzes zum Betrieb (Janda u. Guhlemann 2019). Es existieren vielerorts keine Kenntnis sowie wenig Problembewusstsein für die Anliegen des Arbeitsschutzes und Kommunikationskanäle fehlen häufig. Arbeitsschutz lässt sich jedoch kaum ohne die Kooperation mit den Betrieben wirksam umsetzen.
Durch die Flexibilisierung von Arbeit entstehen Zugriffsprobleme für den Arbeitsschutz (Janda u. Guhlemann 2019). Beschäftigte werden nicht mehr gesehen und erlebt. Gelegenheitsbegegnungen, die auch eine Plattform für den informellen Austausch zu Sicherheit und Gesundheit sind, fallen weg. Beschäftigte sind im mobilen Arbeiten selbst für die Herstellung guter Arbeitsbedingungen verantwortlich, da Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber keinen Zugriff auf diese Arbeitsplätze haben (z. B. zu Hause, im Zug, im Hotel). Beschäftigte benötigen die entsprechenden Kompetenzen, um die Arbeitsbedingungen selbst beurteilen und Maßnahmen ergreifen zu können.
„Mit der Digitalisierung, darin liegt ein zentraler Forschungsbefund, geraten den Arbeitsschützern die Arbeit und die Beschäftigten aus dem Blick“ (Janda u. Guhlemann 2019, S. 13).
Das Arbeiten im Homeoffice wird auch nach der Pandemie bestehen bleiben, allerdings eher reduziert auf ausgewählte Tage während einer Arbeitswoche (Bodin et al. 2021). Auf diese Veränderungen und die damit einhergehenden Zugriffsprobleme muss sich der Arbeitsschutz in Zukunft einstellen.
Ein Versuch der Definition von Qualitätskriterien
Neben den Herausforderungen an die Beratungspraxis durch die Veränderungen der Arbeitswelt stellt sich die Frage nach objektiven Qualitätskriterien der sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Betreuung. Stellvertretend für beide Professionen soll die Sifa-Langzeitstudie (Trimpop et al. 2012) näher betrachtet werden.
Diese untersuchte die Wirksamkeit und Tätigkeit von Fachkräften für Arbeitssicherheit in den Jahren 2004 bis 2012. Ziel war die Gewinnung von verlässlichen Informationen zur Wirksamkeit des Handelns der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in den Betrieben sowie die Beurteilung der relevanten Einflussfaktoren.
Wirksamkeitsfelder sind dabei die Wirksamkeit zur Gefährdungsreduktion, zur Arbeitsschutzorganisation und Arbeitsschutzkultur sowie zur menschengerechten Arbeitsgestaltung. Zudem wird Wirksamkeit durch betrieblichen Nutzen definiert. Der größte Zusammenhang zum betrieblichen Nutzen ist dabei die menschengerechte Arbeitsgestaltung (Trimpop et al. 2012).
Die Sifa-Langzeitstudie ermittelte folgende Einflussgrößen auf die Wirksamkeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der betrieblichen Betreuung:
Das heißt, dass für die Wirksamkeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit die im zu betreuenden Betrieb vorgefundenen Einsatzbedingungen entscheidend sind. Hier dürfte es eine Rolle spielen, inwieweit der Betrieb selbst Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit verfolgt. Der Zugang zur Geschäftsleitung, sowie betriebliche Kooperationen sind weitere wichtige Aspekte.
Der stärkste Einfluss auf die Tätigkeiten der Sifa geht von der Arbeitsweise aus, wenn diese konzeptionell ist und sich an Arbeitsschutzmanagementaufgaben ausrichtet. Weiterhin ist die Identifikation mit der eigenen Tätigkeit der Sifa und die eigene Haltung gegenüber dem Arbeits- und Gesundheitsschutz entscheidend.
Handlungsansätze für eine zukunftsfähige Beratung
Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Beratung im Arbeits- und Gesundheitsschutz kann aus den Veränderungen der Arbeitswelt, den Erfahrungen der bisherigen Beratungen in diesem Zusammenhang und dem Blick auf Qualitätskriterien geschehen. Mögliche Kategorien sind dabei die Beratung selbst, die Methodik der Beratung und die Inhalte (➥ Abb. 2).
Die Beratung selbst sollte darauf abzielen, Unternehmen ganzheitlich zu beraten und vom Nutzen der Investition in Arbeits- und Gesundheitsschutz zu überzeugen. Dazu gehört auch, Betriebe und weitere Akteure zu sensibilisieren und eine betriebsspezifische Strategie beziehungsweise Vorgehensweise zu entwickeln, die dem beratenen Unternehmen entspricht. Dabei kann die in der Pandemie erworbene „neue“ Sichtbarkeit genutzt werden, um weitere und bekannte Themen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes voran zu bringen. Ziel muss dabei auch sein, koordinierend tätig zu sein, andere Fachexpertinnen und -experten hinzuzuziehen und interdisziplinäre Kooperationen zu pflegen.
Eine ständige Veränderung und Weiterentwicklung der Arbeitswelt bedeutet auch, in Bezug auf den Erwerb des erforderlichen Wissens und der methodischen Kompetenzen flexibel zu sein.
Bei der Methodik sollte die ganzheitliche, zielgerichtete betriebliche Prävention im Fokus stehen, die der koordinierenden Tätigkeit entspricht. Die Gefährdungsbeurteilung ist und bleibt ein wichtiges Tool der Tätigkeit, muss jedoch ganzheitlich umgesetzt werden, also alle Gefährdungen und Belastungen sowie deren Wechselbeziehungen untereinander umfassen und eine Wirksamkeitskontrolle berücksichtigen.
Die Beratung ist in Präsenz und digital möglich. Die jeweiligen Vor- und Nachteile sollten abgewogen und die jeweils optimalste Option gewählt werden. Dabei muss auch die Frage geklärt werden, wie Beschäftigte im mobilen Arbeiten erreicht werden können. Hier braucht es Konzepte, die die Beschäftigten mit einbeziehen.
Wo zunehmend Software, Algorithmen und KI eingesetzt werden, muss die Beratung schon bei der Planung beginnen, um Kosten der Nacharbeit zu sparen.
Beratende im Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen sich mit den neuen Themen der Arbeitswelt kontinuierlich auseinandersetzen. Dazu zählen nicht nur Technologien, sondern auch Arbeitsorganisationsformen und Diversität der Beschäftigten. Relevant sind die Stärkung der individuellen Gesundheitskompetenz von Beschäftigten, die Frage der psychischen Belastungen sowie die zunehmende Thematik der Beratung zu Homeoffice, mobiler Arbeit und Büro- sowie Arbeitsplatzkonzepten der
Zukunft.
Um die Verbesserung der eigenen Beratungsqualität zu erreichen, sollte eine reflexive Selbstbewertung in Betracht gezogen werden, um die eigenen Handlungsmöglichkeiten und eigenen Entwicklungspotenziale zu ermitteln und zu justieren.
Der VDSI (2018) ergänzt diese Ansätze dahingehend, dass der Arbeitsschutz als Teil der Unternehmensziele definiert, eine systematische und vorausschauende Prävention umgesetzt oder direkt Arbeitsschutz im Rahmen eines Managementsystems etabliert werden sollte.
Arbeits- und Gesundheitsschutz muss als Teil der betrieblichen Prozesse und Wertschöpfung verstanden werden. Die Beratung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz trägt zu deren Verbesserung und Weiterentwicklung bei. Dort, wo der Fokus auf das Finden und Binden von Fachkräften liegt, entstehen neue Ansatzpunkte für den Nutzen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Georg A, Guhlemann K: Wirksamkeit von Arbeitsschutzstrukturen in der flexibilisierten Arbeitswelt – Kurzbericht zum Forschungsprojekt F2411 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. 2019 (www.dofapp.de).
Zittlau K: Sichtbarkeit des Arbeitsschutzes und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der Corona-Pandemie. Studienarbeit an der Bergischen Universität Wuppertal, Fachgebiet Arbeitssicherheit, 2022, unveröffentlicht.
doi:10.17147/asu-1-211430
Weitere Infos
Adolph L et al.: SARS-CoV-2-Arbeits- und Infektionsschutzmaßnahmen in deutschen Betrieben: Ergebnisse einer Befragung von Arbeitsschutzexpertinnen und -experten. baua: Fokus, Projektnummer: 2513, 2021.
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/SARS-CoV-2-Befragun…
Barth C et al.: Bedarf an Fachkräften für Arbeitssicherheit in Deutschland. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund, 2017
www.baua.de/dok/8730194
Bodin H et al.: Arbeitssituation und Belastungsempfinden im Kontext der Corona-Pandemie im September 2021. FB 570/9. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin, 2021
https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb-570-…
Genz A et al.: Qualität in der Prävention. Betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung. DGUV, 2010
https://www.dguv.de/medien/iag/forschung/dokumente/qdp/qdp_abschluss/qd…
VDSI: Zur Rolle der Sifa in der Arbeitswelt 4.0. VDSI-Positionspapier. 2018
https://vdsi.de/media/vdsi-positionspapier_die_rolle_der_fachkraft_fuer…
Kernaussagen
der Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Fachärztinnen und -ärzte für Arbeitsmedizin an ihre Grenzen stößt.
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