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Kommunikations- und Austauschplattformen im Öffentlichen Gesundheitsdienst
Digitalization Driver Pandemic? Communication and Exchange Platforms in the Public Health Service
Einleitung
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat die öffentliche Verwaltung vor erhebliche systemische Herausforderungen gestellt. Insbesondere der für den Infektionsschutz verantwortliche Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) kam relativ unvorbereitet an seine strukturellen Grenzen. Seit Jahrzehnten politisch eher unbeachtet, mussten synchron zur Pandemiebewältigung zentrale Verwaltungsstrukturen transformiert und aufgebaut werden. Durch den 2020 verabschiedeten, bis 2026 laufenden und mit vier Milliarden Euro ausgestatteten Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (Bundesministerium für Gesundheit 2020) wurde eine finanzielle Grundlage für diesen strukturellen Aufbau geschaffen. Zentral für die effiziente Ausschüttung des Paktes waren und sind jedoch koordinierende Instanzen und eine effiziente Kommunikation aller relevanter Akteurinnen und Akteure, insbesondere im Hinblick auf den föderalen Aufbau des ÖGD und die im ÖGD auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene agierenden Institutionen, die nach den jeweiligen Gesundheits(dienst)gesetzen mit unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet sind (Arnold u. Starke 2021).
Die SARS-CoV-2-Pandemie als Stresstest für den ÖGD
Aus praktischer Sicht kann die SARS-CoV-2-Pandemie als Stresstest für den ÖGD hinsichtlich zukünftiger Herausforderungen und sogenannter Wicked Problems (engl.: komplexe Probleme) gesehen werden: Durch den Klimawandel werden der Ausbruch von Infektionskrankheiten und Pandemien sowie verstärkte Fluchtbewegungen immer wahrscheinlicher. Der ÖGD übernimmt hier grundlegende öffentliche Aufgaben, die diese Felder adressieren. Hierzu gehören der Infektionsschutz, aber auch die medizinische Erstversorgung von Geflüchteten oder anderer Bevölkerungsgruppen, die erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind. Der aktuelle demografische Wandel und der Mangel an Personal in der öffentlichen Verwaltung und dem ÖGD sorgen für eine zunehmende Relevanz von effizienten Prozessen im ÖGD.
Ebenso wie für die allgemeine öffentliche Verwaltung wird die Digitalisierung als übergreifender Lösungsansatz für die zukünftigen Herausforderungen des ÖGD betrachtet. Um „Digitalisierung“ vollumfänglich zu begreifen, bietet sich eine Dreiteilung des Begriffs wie im englischsprachigen Raum an. Hier differenziert man zwischen Digitisation, Digitalisation und Digital Transformation. Digitalisierung im Sinne von „Digitisation“ bezieht sich auf den technischen Prozess der Umwandlung von bereits existierenden analogen Dokumenten in digitale Daten (Iyamu et al. 2021). Im Gegensatz dazu konzentriert sich „Digitalisation“ auf die organisatorischen und kulturellen Anpassungen, die notwendig sind, um digitale Technologien in Prozesse zu integrieren und dauerhaft aufrechtzuerhalten (Iyamu et al. 2021). Der Terminus „digitale Transformation“ schließlich bezieht sich übergreifend auf umfassende kulturelle, organisatorische und relationale Veränderungen als Teil eines komplexen Prozesses, der die Zielsetzungen im ÖGD grundlegend umgestaltet (Iyamu et al. 2021; Mergel et al. 2019). Diese Dreiteilung macht die Komplexität des Ziels der „Digitalisierung des ÖGD“ deutlich: Nicht nur müssen viele Akteurinnen und Akteuren im Großen auf unterschiedlichen föderalen Ebenen möglichst synchron einen (digitalen) Transformationsprozess durchlaufen, sondern auch im Kleinen sind viele möglichst standardisierte Schritte notwendig.
Im Pakt für den ÖGD sind für die Unterstützung dieses Transformationsprozesses rund 800 Millionen Euro vorgesehen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat vor diesem Hintergrund einen Förderschwerpunkt „zur Steigerung der digitalen Reife im Öffentlichen Gesundheitsdienst“ auf den Weg gebracht, der zu drei Förderzeitpunkten ausgeschüttet wird. Zur Evalua-
tion, aber auch als Leitschnur für die Digitalisierungsprojekte, wurde ein Digitales Reifegradmodell (ReDiGe) erstellt, das in verschiedenen Dimensionen anzeigt, welche Voraussetzungen zur Steigerung der digitalen Reife gegeben sein müssen.
Erste wissenschaftliche Erkenntnisse: Mehr Koordination im ÖGD ist nötig
Der ÖGD ist aktuell ein wissenschaftlich wenig betrachtetes Feld der öffentlichen Verwaltung, erlangt jedoch seit der Pandemie eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ein besonderes
Augenmerk wird dabei auch auf digitale Transformationsprozesse des öffentlichen Verwaltungssystems des ÖGD gelegt. Die aktuelle Literatur diskutiert diverse Aspekte dieser
Transformationsprozesse. Auf einer übergeordneten Ebene machen Budd et al. (2020) deutlich, dass diese zunehmend digitale Zukunft der öffentlichen Gesundheit und des öffentlichen Verwaltungswesens nicht nur eine weitere Anpassung und Koordination von nationalen Digitalisierungsstrategien, sondern von internationalen Strategien benötigen.
Auch Klenk et al. (2021) verdeutlichen einen erhöhten Koordinationsbedarf im ÖGD. Die Autorinnen und Autoren identifizieren dabei drei unterschiedliche Koordinationsparadigmen: hierarchisch-funktional (klassische Hierarchiestrukturen der Verwaltung), lose verbunden (Verwaltungseinheiten sind lose verbunden, zeigen aber relativ geringe zentrale Autorität) und polyzentrisch (mehrere, autonome Verwaltungszentren). Sie zeigen, dass alle drei in der Struktur und im gesetzlichen Auftrag des ÖGD verankert sind. Insbesondere während der Pandemie wurden vermehrt polyzentrische Ansätze erprobt, da hierarchische Koordinationsformen nicht ausreichten (Klenk et al. 2021). Gleichermaßen diskutieren Nolte und Lindemann verschiedene Koordinations- und Governance-Konzepte1 in Krisensituationen. Ihre Forschung basiert auf Daten von 186 deutschen Gesundheitsbehörden und zeigt, dass dynamische Governance-Strategien, die Digitalisierung und Agilität einschließen, eng mit der Anpassungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltungen in Krisen zusammenhängen. Darüber hinaus betonen sie, dass Verwaltungen, die sich erfolgreich an veränderte Umgebungen anpassen möchten, auch eine statische Widerstandsfähigkeit demonstrieren müssen und kollaborationsorientierte Governance-Strategien in Betracht ziehen sollten, um den organisatorischen Erfolg indirekt zu steigern (Nolte u. Lindenmeier 2023).
Mit konkretem Bezug zum Umgang des ÖGD mit der Pandemie identifizieren Zimmermann et al. (2021) die Implementierung von digitalen Lösungen als essenziell für das Brechen von Infektionsketten. Sie halten fest, dass, obwohl geeignete Softwareanwendungen bereits seit Sommer 2020 im ÖGD verfügbar waren, es sich meist um nicht-standardisierte und lokale Lösungen handelte. Auch hier wird die Bedeutung der Festlegung geeigneter Arbeitsaufteilungen, entsprechender Prozesse und eines strengen Kontaktmanagements betont, um zusätzliche Unterstützungskräfte schnell und produktiv gemäß der aktuellen Pandemiesituation einsetzen zu können (Zimmermann et al. 2021). Diese Forderung wird auch von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestellt: Von Tsurikov et al. (2022) halten fest, dass die rund 400 deutschen Gesundheitsämter eine adäquate Softwareausstattung benötigen. Eine nachhaltige Digitalisierung des ÖGD erfordert daher die Standardisierung und Modularisierung von Prozessen, auf deren Grundlage geeignete und vielseitig einsetzbare Softwaremodule für verschiedene Aufgabenbereiche der Gesundheitsämter entwickelt und implementiert werden können (von Tsurikov et al. 2022).
Vor diesem praktischen und theoretischen Hintergrund soll dieser Beitrag einen Einblick in die Entstehung von Kommunikations- und Austauschplattformen im Sinne agiler Kollaboration und Vernetzung des ÖGD geben und diese Perspektive erweitern. Die Darstellung von Praxisbeispielen wird mit zukünftigen Handlungsfeldern des ÖGD verzahnt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick, der gleichzeitig an Handlungsempfehlungen gekoppelt ist.
Praxiseinblick
Das massive Hereinbrechen der SARS-CoV-2-Pandemie hat den gesamten ÖGD überrascht, nicht zuletzt die Gesundheitsämter in den Städten und Landkreisen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass diese Ausnahmesituation den ÖGD weitestgehend unvorbereitet getroffen hat. Es gab keine einheitliche Fachanwendungssoftware für das Pandemiemanagement. Aus diesem Grund war insbesondere die Datenübermittlung von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt mehr als schwerfällig und kann auch heute datenschutzkonform nach wie vor nur per Fax vorgenommen werden.
Beispiel 1: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“ (Erich Kästner)
Mit der Pandemie kam plötzlich eine neue, umfangreiche Kommunikationsaufgabe auf die Gesundheitsämter zu, die Isolationen und Quarantänen verfügen mussten und dabei auch den Anspruch hatten, die Bevölkerung mit wichtigen Informationen zu versorgen. Zu Beginn mussten die Ämter die neuen Arbeitsabläufe improvisieren: Papier, Excel, vorhandene Software, zweckentfremdete Software (z. B. Katastrophenschutzanwendungen) – die Lösungen waren genauso vielfältig wie die Landschaft der 377 Gesundheitsämter in Deutschland. Dabei bewegten sich die Gesundheitsämter in dem Spannungsfeld zwischen Leistungs- und Ordnungsverwaltung. Es entstanden improvisiert kreative Lösungen:
Beispiel 2: „Hallo liebe Neuköllnerinnen, liebe Neuköllner, hier ist der völlig inoffizielle offizielle Feierabendfunk aus Deinem Gesundheitsamt Neukölln“
Im Oktober 2020 starteten Dr. Christine Wagner und Serkan Cetinkaya als Hosts den „Feierabendfunk“, einen Podcast aus dem Gesundheitsamt Berlin-Neukölln (s. „Weitere Infos“). Den ersten Folgen merkt man das Suchende und Improvisierende noch sehr an, aber gerade das machte den Reiz des Podcasts aus: Direkt, unkompliziert und auch sehr unterhaltsam lieferten die beiden Hosts aktuelle Informationen zur Pandemielage und damit wichtige Informationen für die Bewohnerinnen und Bewohner von Neukölln. Hier wurde kein Amtsdeutsch gesprochen, sondern auf Augenhöhe kommuniziert. Nicht zuletzt durch die Vorstellung von Mitarbeitenden wurde die Arbeit des Gesundheitsamts anschaulich gemacht.
Und auch ohne gleich „den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu digitalisieren“, gewöhnten sich die Gesundheitsämter in Deutschland zunehmend an den Einsatz kleinerer digitaler Tools, die Kommunikation aus dem Homeoffice heraus überhaupt erst möglich machten, wie beispielsweise Videokonferenzen oder virtuelle Whiteboard-Systeme (Miro, ConceptBoard, Jamboard).
In Flensburg entstand der Podcast „Keine Faxen – Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitswesen“, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Akteurinnen und Akteuren im ÖGD die unterschiedlichsten Digitalisierungsthemen nahe zu bringen (s. „weitere Infos“). Dabei wurden Persönlichkeiten aus und um den ÖGD eingeladen, um ganz praktisch aus ihren aktuellen Projekten rund um die Digitalisierung zu berichten – und die Freude am Handeln zu wecken. Mitarbeitende in Gesundheitsämtern konnten sich über den Podcast über relevante Digitalisierungsthemen für den ÖGD wie Agora, das Reifegradmodell oder das Forschungsprojekt LOKI (Lokales Kontrollsystem für Infektionsausbrüche) informieren.
Beispiel 3: „SORMAS wieder abschaffen?“
Zur Vernetzung der Gesundheitsämter trug auch der zunehmende Einsatz der Pandemiesoftware SORMAS (Surveillance, Outbreak Response Management and Analysis System) bei. Am 16. November 2020 beschloss die Bund-Länder-Konferenz die einheitliche Nutzung von SORMAS in den Gesundheitsämtern und beauftragte die Bundesländer in einer Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, die Nutzung auch bundesweit durchzusetzen. Die SORMAS-Community wuchs stetig an und umfasste Mitte 2021 etwa ein Drittel der deutschen Gesundheitsämter. Durch den vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen (AÖGW) moderierten SORMAS-Erfahrungsaustausch entstand ein Gemeinschaftsgefühl und die Gesundheitsämter verstanden sich zunehmend als ein aktiver Teil der Weiterentwicklung des Programms. Zumindest für einen Teil der Gesundheitsämter gelang es, das Inseldasein von 377 lokalen Softwarelösungen in den Gesundheitsämtern aufzulösen.
Doch der Beschluss der bundesweiten Implementierung von SORMAS wurde nur der Form nach vollzogen. Fast alle Gesundheitsämter „installierten“ SORMAS, wobei „Installation“ hier lediglich die Beauftragung der Einrichtung einer SORMAS-Instanz beim Informationstechnikzentrum des Bunds (ITZ-Bund) bedeutete. Dennoch nutzen rund zwei Drittel der Gesundheitsämter diese SORMAS-Instanz nicht, wohl auch deshalb, weil die Länder, die am 16. November 2020 vereinbarte verbindliche Nutzung nicht durchsetzen konnten. Nur wenige Länder (mit der Ausnahme von Bayern, das sich maßgeblich für den landesweiten Einsatz von SORMAS eingesetzt hat) unternahmen Anstrengungen, die landesweite Einführung von SORMAS zu forcieren. Aus diesem Grund beschloss die Gesundheitsministerkonferenz im September 2022, die Nutzung von SORMAS nicht mehr für verbindlich zu erklären. Der Bund stellte seine finanzielle Förderung zum 31. Dezember 2022 ein und enttäuschte damit zumindest die Gesundheitsämter, die mit zum Teil hohem personellen und finanziellen Aufwand SORMAS eingeführt hatten. Zwar bestand für die Gesundheitsämter die Möglichkeit, die weitere Nutzung von SORMAS über den Pakt für den ÖGD zu finanzieren, doch wäre diese Finanzierung zeitlich befristet gewesen und es zeichnete sich ab, dass SORMAS nur noch von wenigen Gesundheitsämtern genutzt werden würde.
Lessons learned – der ÖGD und die schöne digitale Welt?
Die DigitalService GmbH des Bundes entwickelte 2021 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums die Kollaborationsplattform Agora, die den Gesundheitsämtern bundesweit eine unkomplizierte Kommunikation und einen Austausch von Dateien ermöglichen sollte.
Agora bietet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im ÖGD in unterschiedlichen Foren den Raum, aktuelle Themen des ÖGD zu diskutieren, Dokumente wie beispielsweise Digitalisierungsstrategien oder Prozessdarstellungen zu teilen und auch direkt mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gesundheitsämtern in den Dialog zu treten. Anfang 2023 wechselte die technische Betreuung Agoras zu Dataport und die inhaltliche zum Robert Koch-Institut (RKI). Das RKI übernimmt jedoch keine moderierende Funktion, sondern bietet lediglich Hilfestellungen in der Benutzung von Agora. Doch eine Moderation der Wissens- und Austauschplattform ist zu empfehlen. Denn schon die Erfahrung beispielsweise mit dem SORMAS-Austausch zeigte, dass es allein durch die Gesundheitsämter zu keinem strukturierten Austausch auf einer solchen Plattform kommt. Dabei gäbe es so viele Themen, zu denen sich die Gesundheitsämter bundesweit vernetzen könnten: Digitalisierungsstrategien, Prozessdigitalisierung, IT-Sicherheit. Ganz abgesehen davon gibt es Vernetzungsbedarf bei handfesten praktischen Themen, wie dem Anschluss an die Telematikinfrastruktur zur digitalen und sicheren Vermittlung von Gesundheitsdaten (z. B. elektronische Patientenakte), dem Einsatz agiler Methoden (z. B.SCRUM, Kanban Boards etc.) im ÖGD und Fachsoftware für den ÖGD. Dass Agora allen Mitarbeitenden des ÖGD offensteht, ist ein großes Plus.
Die Fortbildungen der AÖGW (Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen) zum Thema Digitalisierung und Agilität sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie pragmatisch und in Hands-on-Mentalität digitale Kompetenzen an die Gesundheitsämter vermittelt werden können. Innerhalb der jeweiligen Fortbildungen finden ein reger Austausch und Netzwerkbildung statt. Doch leider vernetzen sich dort – und das liegt in der Natur der Sache – immer nur die jeweiligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer und nicht der ÖGD insgesamt.
In der Pandemie hat sich gezeigt, dass die dringende Erfordernis besteht, dass sich Gesundheitsämter schnell, digital und datenschutzkonform untereinander austauschen können. Eine einheitliche Lösung für den Infektionsschutz wäre etwa hilfreich und soll aktuell in Form einer sogenannten Kernanwendung durch das RKI entwickelt und in einer IT-Zielarchitektur für den ÖGD eingesetzt werden – doch diese gibt es bislang nicht. Im Rahmen der Förderung zur Digitalisierung innerhalb des Pakts für den ÖGD ist es den Gesundheitsämtern jetzt wieder selbst überlassen, sich für eine bestehende digitale Lösung für den Infektionsschutz zu entscheiden. Angebote zu Fachanwendungssoftwares gibt es viele: SurvNet, Octoware, ISGA-Covid, R23, SORMAS, mikado. Es ist davon auszugehen, dass sich nach dem Ausschütten der Förderung eine sehr heterogene Landschaft im Einsatz der unterschiedlichen Fachanwendungen in den Gesundheitsämtern ergibt. Zusätzlich hat das Bundesministerium für Gesundheit für Ende 2024 eine ÖGD-IT-Zielarchitektur angekündigt – es bleibt abzuwarten, ob die Gesundheitsämter in großer Zahl darauf setzen werden, zumal deren Nutzung freiwillig sein soll. Die Einführung der oben genannten unterschiedlichen Systeme wird bis 2023 bereits erheblich Zeit und Geld gekostet haben. Die Bereitschaft zu einem erneuten Systemwechsel auf die Strukturen des BMG könnte entsprechend gering ausfallen. Sollte am Ende dieser Entwicklung eine hohe Fragmentierung der Softwarelandschaft der Fachanwendungen im ÖGD stehen, wäre dies für eine mögliche nächste Pandemie fatal, denn die Gesundheitsämter müssten aufgrund fehlender Schnittstellen erneut auf das Fax zurückgreifen.
Problematisch ist jedoch nicht nur die heterogene IT-Landschaft, sondern auch die Suche nach Personal, das diese implementiert und betreut. Unter dem hohen Zeitdruck des Pakts für den ÖGD wird überall an der Digitalisierung der Gesundheitsämter gearbeitet. Ihnen wird im Rahmen des digitalen Reifegradmodells, das als Instrument zur Erhebung der digitalen Reife der Gesundheitsämter dient, ein großes Arbeitspaket auferlegt. Doch wer soll das umsetzen? Die Digitalisierungsverantwortlichen, die von allen Gesundheitsämtern gesucht werden, sind auf dem Arbeitsmarkt kaum zu finden. Erschwert wird die Suche nach qualifizierten Fachkräften in diesem Bereich durch die übliche Eingruppierung entsprechend dem Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst im ÖGD und durch die Befristung der Stellen, da diese an die Finanzierung durch den Pakt für den ÖGD gebunden sind. Also werden mangels eigenem Personal Unternehmensberatungen mit der Erstellung von Digitalisierungsstrategien, Prozessdokumentationen nach BPMN (Business Process Model and Notation) und Schulungskonzepten beauftragt. Doch was passiert, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist und die Digitalisierungskonzepte erstellt sind? Wer kümmert sich um deren Umsetzung und Weiterentwicklung? Eine nachhaltige Institutionalisierung, beispielsweise durch die Entfristung der durch den Pakt für den ÖGD aufgebauten Personalstellen, ist nicht gewährleistet. Eine dauerhafte Stärkung des ÖGD kann nur erreicht werden, wenn auch das Personal gestärkt wird. Das gilt sowohl für den medizinischen, gesundheitswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen als auch für den digitalen Bereich.
Schlussfolgerung und Ausblick
Die SARS-CoV-2-Pandemie kann als Digitalisierungstreiberin und „Window of Opportunity“ für den ÖGD und seine digitalen Transformationsprozesse gesehen werden. Dennoch bedarf es zum aktuellen Zeitpunkt, zwei Jahre vor dem Auslaufen des Pakts für den ÖGD, einer Koordinierungs- und Austauschoffensive. Im Sinne einer gelungenen Public Governance – das heißt, es werden auch nicht-hierarchische und sektorenübergreifende Arten der Führung und Koordination gewählt – wäre ein über föderale Strukturen vernetzendes und multiperspektivische Akteurinnen und Akteure einbeziehendes Vorgehen sinnvoll, um schnelle Erfolge bei der digitalen Transformation des ÖGD zu erzielen.
Aus der hier vorliegenden Bestandsaufnahme leiten sich daher ganz konkret folgende Forderungen für die digitale Weiterentwicklung des ÖGD in Deutschland ab:
für den ÖGD geschaffenen Stellen sind zu entfristen und zu verstetigen.
Interessenkonflikt: Malin Siv Roppel gibt an, als Referentin für digitale Kompetenzen bei der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen über den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst befristet angestellt zu sein. Torge Korff verneint Interessenskonflikte.
Literatur
Starke D, Arnold L: Der ÖGD im 21. Jahrhundert. Chancen und Herausforderungen. In: BARMER Gesundheitswesen aktuell 2021. BARMER Verlag, 2021.
Budd J, Miller B, Manning E: Digital technologies in the public-health response to COVID-19. Nature Medicine 2020; 26: 1183 – 1192 (Open Access: https://doi.org/10.1038/s41591-020-1011-4).
Iyamu I, Xu AXT, Gómez-Ramírez O, Ablona A, Chang H‑J, Mckee G, Gilbert M: Defining Digital Public Health and the Role of Digitization, Digitalization, and Digital Transformation: Scoping Review (Preprint). 2021 (https://doi.org/10.2196/preprints.30399).
Klenk T, Cacace M, Ettelt S: Der öffentliche Gesundheitsdienst in der Corona-Krise: zwischen Hierarchie, loser Koppelung und polyzentrischer Koordination. dms – der moderne staat 2021; 14 (2).
Mergel I, Edelmann N, Haug N: Defining digital transformation: Results from expert interviews. Government Information Quarterly 2019; 36 (4): 101385.
Nolte IM, Lindenmeier J: Creeping crises and public administration: a time for adaptive governance strategies and cross-sectoral collaboration? Public Management Review 2023 (published online).
von Tsurikov A, Engert M, Hein A, Krcmar H: Prozessmodularisierung und -standardisierung als Grundlage für die Digitalisierung von Prozessen im Öffentlichen Gesundheitsdienst. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 2022; 59: 1461–1477.
Zimmermann R, Zimmermann I, Bornschlegl P et al.: Wellenreiten im Gesundheitsamt – Digitaler Wandel im Corona-Containment. HMD 2021; 58: 712–738 (Open Access: https://doi.org/10.1365/s40702-021-00735-x).
doi:10.17147/asu-1-323998
Weitere Infos
Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Digitales Gesundheitsamt
https://gesundheitsamt-2025.de/
Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/o/…
Podcast: Keine Faxen – Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitswesen
https://www.podcast.de/podcast/2970503/keine-faxen-digitalisierung-im-o…
Podcast: Feierabendfunk Gesundheit.Anders.Neu.Kommuniziert
https://www.podcast.de/podcast/2592617/feierabendfunk-gesundheitandersn…