Vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir stellen ein gemeinsames Positionspapier der DGAUM und des VDBW zum Thema „ganzheitliche Vorsorge“ zur Diskussion. Wir sind überzeugt, dass dies ein wichtiges, strategisches Zukunftsthema für unsere betriebsärztliche Tätigkeit ist. Das präventive Potenzial der arbeitsmedizinischen Vorsorge soll und muss zukünftig besser genutzt werden mit dem Ziel der Gesunderhaltung und Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit.
Mit diesem Positionspapier möchten wir die Diskussion zum Thema „ganzheitliche Vorsorge“ anregen und zu einem Einstieg in die Weiterentwicklung der arbeitsmedizinischen Vorsorge motivieren. Der Ausschuss für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat einen Arbeitskreis gegründet, der sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt.
Gerne nehmen wir Ihre Anregungen aus Praxis und Wissenschaft zu dieser Thematik entgegen.
Prof. Dr. med. Thomas Kraus
Präsident DGAUM
Dr. med. Wolfgang Panter
Präsident VDBW
Einleitung
Ganzheitliches Vorsorgedenken und -handeln ist eine wesentliche Aufgabe des Fachgebiets Arbeitsmedizin. Sie stellt die Gesunderhaltung der Beschäftigten in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen, indem sie sich mit den Wechselbeziehungen von Arbeit und Gesundheit in Wissenschaft und Praxis befasst. Dazu gehören die Einflüsse der Arbeit auf die Gesundheit und ebenso die Auswirkungen individueller Gesundheit auf die Beschäftigungsfähigkeit arbeitender Menschen.
Arbeitsmedizinische Vorsorge erreicht bereits einen großen Teil der etwa 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Das Setting der arbeitsmedizinischen Vorsorge ist für eine ganzheitliche Vorsorge zu nutzen und sollte allen Beschäftigten niedrigschwellig zugänglich werden.
Die ArbMedVV hat der arbeitsmedizinischen Vorsorge ausdrücklich eine breite präventive Zielsetzung gegeben:
Das setzt voraus, dass Betriebsärztinnen und Betriebsärzte die Gesamtheit ausgeübter Tätigkeiten und arbeitsbedingter Belastungen berücksichtigen – nicht allein den Vorsorgeanlass.
Das Gleiche gilt für die Früherkennung und Verhütung arbeitsbedingter Erkrankungen sowie den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit: Anamnesefragen, angebotene Untersuchungen und die betriebsärztliche Beratung müssen die individuelle Gesundheit der Beschäftigten umfassend berücksichtigen – ohne Beschränkung auf den aktuellen Vorsorgeanlass.
In der Praxis werden allerdings die präventiven Potenziale arbeitsmedizinischer Vorsorge und die Chancen von Synergien oft noch nicht ausgeschöpft. Eine Beschränkung der Vorsorge auf ihren aktuellen Anlass war in einer Zeit der obligaten ärztlichen Beurteilung und Übermittlung möglicher gesundheitlicher Bedenken gegen die Ausübung der jeweiligen Tätigkeit an den Arbeitgeber konsequent – ist aber längst nicht mehr gerechtfertigt.
Vorteile
Eine ganzheitliche Vorsorge lässt möglicherweise noch asymptomatische Erkrankungen mit hoher Häufigkeit und möglichem Arbeitsbezug früh erkennen. Dies gilt insbesondere für die arterielle Hypertonie, koronare Herzerkrankungen, Diabetes mellitus, Erkrankungen des Bewegungsapparats und psychische Störungen sowie weitere Krankheitsbilder, die im frühen Stadium noch gut zu beeinflussen sind. Zugleich gehören diese Erkrankungen zu den häufigsten Ursachen einer beeinträchtigten Beschäftigungsfähigkeit.
Am Beispiel der arteriellen Hypertonie und des Diabetes mellitus lässt sich aus der arbeitsmedizinischen Erfahrung in Übereinstimmung mit der wissenschaftlichen Literatur heraus nachweisen, dass eine frühe Diagnose dazu führt, dass Folgeschäden vermieden werden können, wie zum Beispiel KHK beziehungsweise Schlaganfall und weitere Gefäßschäden. Daneben ist dies auch durch einfache Verhaltensänderungen in vielen Fällen möglich, so dass eine medikamentöse Therapie nicht erforderlich ist. Dabei unterstützt die gezielte Vermittlung gesundheitsfördernder Maßnahmen als Routine im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorge. Auch für psychische Störungen ist eine Früherkennung von größter Bedeutung. Hier können langdauernde psychotherapeutische Behandlungen durch frühe Intervention vermieden werden. Die Erfahrung zeigt, dass belastende Konflikte am Arbeitsplatz oder im Privatleben oft nur unter dem Schutz der ärztlichen Schweigepflicht zur Sprache kommen – und sich in beiden Bereichen im Sinne eines Circulus vitiosus negativ auswirken. Gerade bei den psychischen Störungen kann eine betriebsärztliche Beratung und Unterstützung in der Arbeitssituation in Richtung Verhältnisprävention, aber auch die Vermittlung in Selbsthilfegruppen in Frühphasen hilfreich sein. Sowohl die Integration eines Depressions-Screenings als auch von Elementen einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in die arbeitsmedizinische Routineanamnese haben sich bewährt.
Im betriebsärztlichen Beratungsgespräch wird zudem immer wieder ein konkreter Rehabilitationsbedarf deutlich. Auch hier gilt, dass der niedrigschwellige Zugang zur arbeitsmedizinischen Vorsorge eine frühzeitige Intervention ermöglicht und einen Beitrag zur besseren „Allokation“ von Rehabilitationsmaßnahmen leisten kann.
Nicht zuletzt erlaubt eine professionelle Praxis und Dokumentation arbeitsmedizinischer Vorsorge die Auswertung betriebsärztlicher Erkenntnisse – und damit zum Beispiel die Identifikation gehäufter arbeitsbezogener Beschwerden oder Erkrankungen bei einzelnen Beschäftigtengruppen, gegebenenfalls eine Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung und die Ableitung präventiver Maßnahmen im Arbeitsbereich.
Insgesamt leistet die Arbeitsmedizin einen Beitrag zum Erhalt und zur Verbesserung der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung. Durch Änderung von Verhaltensweisen mit positivem Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden von Beschäftigten gibt es aber auch einen positiv ausstrahlenden Effekt auf die Gesamtbevölkerung, beispielsweise innerhalb der Familie.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil der Arbeitsmedizin ist der Zugang zu sozialen Schichten mit geringem Präventionsbewusstsein. Aus Vorsorgeanlässen nach der ArbMedVV, aber auch unabhängig davon, kann eine umfassende Diskussion mit den Beschäftigten entstehen – angefangen vom Impfstatus bis zur Krebsfrüherkennung. Die Arbeitsmedizin lebt von der Beeinflussung der Arbeitsbedingungen, daher sind auf der Basis der medizinischen Erkenntnisse stetig eine Überprüfung und Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung sowie eine entsprechende Ableitung von Maßnahmen erforderlich.
Die Arbeitsmedizin berät also sowohl den Arbeitgeber als auch die Beschäftigten, aber genauso die Betriebsvertretungen zu den Arbeitsplatzverhältnissen. Dies gilt auch für Fragen der Führungskultur in einem Unternehmen.
Für die Beschäftigten bietet sie die Beratung zu individuellen Gesundheitsmaßnahmen (z. B. Ernährung, Bewegung, psychische Gesundheit) an. Dies kann geschehen durch Hilfsangebote des Unternehmens (z. B. EAP-Programme) oder aber auch der Ärztin/des Arztes und die Weiterleitung an Spezialisten/Selbsthilfegruppen. Eine wichtige Aufgabe ist es, dass Betriebsärztinnen und Betriebsärzte bei Auffälligkeiten im Rahmen der ganzheitlichen Vorsorge Beschäftigte zu Haus- und Fachärztinnen und -ärzten vermitteln. Darüber hinaus ist aber auch die Vermittlung zu externen Hilfsangeboten wie zum Beispiel Schuldnerberatung, Sozialberatung und Suchthilfe ein wesentlicher Baustein.
Aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge kann sich ein Rehabilitationsbedarf ergeben. Durch viele Verträge mit den Rentenversicherungsträgern können Betriebs- und Werksärztinnen und -ärzte entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen gezielt einleiten. Durch die Verknüpfung von Arbeitsbedingungen und entsprechendem Reha-Bedarf entsteht ein deutlicher Mehrwert.
Vorgehensweise
Die Basis einer ganzheitlichen Vorsorge ist eine gute Anamnese. Sie fragt nach der Situation am Arbeitsplatz und der eigenen Bewältigung der Arbeitsanforderungen, schließt die Familiengeschichte ein, sie geht auf Vorerkrankungen des Beschäftigten ein, sie nimmt die aktuellen Beschwerden auf, im Bezug zur eigenen Arbeit – aber auch im Sinne der vegetativen Anamnese – zum Thema Schlaf, Appetit, Verdauung, Rauchen, aktuelle Medikamente und dem Impfstatus. Gerade das Symptom Schlafstörungen kann beispielsweise ein wichtiges Signal im Sinne beginnender psychischer Störungen sein. Hier ist das Gespräch zu suchen und mit den Beschäftigten über Ursachen, aber auch über Lösungsmöglichkeiten zu sprechen. Die ausführliche Anamnese ist auch im Sinne der Früherkennung psychischer Veränderungen ein zentrales Instrument.
Fallbeispiele
Beispiel 1
Ein Beschäftigter stellt sich nach längerer Arbeitsunfähigkeit bei der Betriebsärztin vor mit der Frage, ob am vorherigen Arbeitsplatz ein weiterer Einsatz möglich ist oder gegebenenfalls Anpassungen erforderlich sind. Wegen eines Bandscheibenvorfalls wurde eine Operation und eine Anschlussheilbehandlung durchgeführt. Der Hausarzt hat ihn als arbeitsfähig für die zuletzt verrichtete Tätigkeit als Schlosser beschrieben. Der Beschäftigte schildert Zweifel an seiner Arbeitsfähigkeit. Im Rahmen der Beschwerdeanamnese fällt der Betriebsärztin auf, dass der Beschäftigte einen niedergeschlagenen Eindruck macht. Er thematisiert diesen Sachverhalt und es stellt sich im Gespräch heraus, dass erhebliche Beziehungsprobleme den Beschäftigten belasten. Die Betriebsärztin skizziert Hilfs- und Behandlungsangebote und vermittelt mit Einverständnis des Beschäftigten Unterstützung durch eine Sozialberatung mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit. Gleichzeitig wird die Möglichkeit einer stufenweisen Wiedereingliederung geprüft.
Beispiel 2
Eine Gesundheits- und Krankenpflegerin kommt zur Betriebsärztin für eine arbeitsmedizinische Vorsorge mit dem Anlass Infektionsgefährdung. Die Betriebsärztin berät zum Thema Infektionsgefährdung und überprüft anhand des Impfpasses den Impfstatus. Dabei wird bezüglich der beruflich indizierten Impfungen Vollständigkeit des Impfschutzes festgestellt, jedoch die Notwendigkeit einer Auffrischimpfung für Diphtherie, Pertussis und Tetanus gesehen. Die Betriebsärztin bietet an, diese Impfung durchzuführen und rechnet mit der Krankenversicherung der Krankenschwester diese Leistung ab.
Beispiel 3
Ein Beschäftigter kommt zur Lärmvorsorge und es fällt sofort ein hinkender Gang auf. Im Rahmen der Anamnese berichtet der Beschäftigte, dass er von Seiten des Gehörs keine Probleme bemerke, im Vordergrund derzeit starke Schmerzen im Knie stünden. Der Orthopäde habe Abnutzungserscheinungen in beiden Knien festgestellt. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung werden unauffällige Befunde im Bereich der Ohren dokumentiert, die Audiometrie ist unauffällig. Das rechte Knie ist geschwollen und überwärmt. In der Arbeitsanamnese ist dokumentiert, dass der Beschäftigte vor seiner aktuellen Tätigkeit fast 30 Jahre als Fliesenleger tätig war. Es wird der Verdacht auf eine Gonarthrose als Berufskrankheit geäußert.
Beispiel 4
Eine 58-jährige Beschäftigte stellt sich im Rahmen der Vorsorge Bildschirmarbeitsplatz betriebsärztlich vor. In der vegetativen Anamnese wird über seit längerem bestehende Stuhlunregelmäßigkeiten und nun vor einer Woche auch über Blut im Stuhl berichtet. Neben der Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge wird die Beschäftigte über Möglichkeiten der Diagnostik, der Früherkennung und entsprechende Angebote der Krankenkassen informiert. Darüber hinaus wird die dringende Empfehlung gegeben, kurzfristig eine fachärztliche Abklärung des Beschwerdebildes durchzuführen. Betriebsärztlicherseits wird Unterstützung bei Fragen der Hausärztin/des Hausarztes oder der beteiligten fachärztlichen Kolleginnen/Kollegen angeboten („Lotsenfunktion“).
Weiterentwicklung und Professionalisierung arbeitsmedizinischer Vorsorge
Im Rahmen ganzheitlicher arbeitsmedizinischer Vorsorge entsteht nur ein geringer Mehraufwand. So ist es zum Beispiel Standard, Größe, Gewicht und Blutdruck bei den klassischen Vorsorgeanlässen zu erfassen und bei vielen anderen auch die körperliche Untersuchung einschließlich Inspektion der Haut. Daher spricht viel dafür, dies in Vorsorgeanlässe zu integrieren, um den zusätzlichen Aufwand zu minimieren. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme unabhängig von Vorsorgeanlässen nach ArbMedVV muss aber ebenfalls gegeben sein (s. Beispiel 1).
Für die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt gibt es die Notwendigkeit einer guten Vernetzung. Werden Auffälligkeiten festgestellt, die einer weiteren diagnostischen Abklärung im KV-System bedürfen, sollten die entsprechenden Kontakte bestehen und die jeweiligen Fähigkeiten der externen Institutionen bekannt sein. Um auch für die Arbeitsmedizinerin und den Arbeitsmediziner einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu erreichen, ist die Notwendigkeit einer guten Kommunikation mit Feedback durch die Haus- und Fachärztinnen und -ärzte oder andere Einrichtungen von wesentlicher Bedeutung. Sie hilft im Sinne der eigenen diagnostischen Sicherheit, aber auch bei der Integration bei langdauernden Veränderungen in den Betrieb.
Es ist ausdrücklich nicht beabsichtigt, Inhalte der so genannten Check-up-Medizin (z. B. so genannte Manageruntersuchungen) in die betriebliche Praxis zu integrieren. Anamnesefragen und Untersuchungsinhalte sollten nicht beliebig erweitert, sondern auf wissenschaftlicher Grundlage ergänzt werden. Die Philosophie der „Choosing-Wisely-Initiative“ gibt hierzu eine Orientierung. Der Bezug zur Arbeit sollte – insbesondere über die Aspekte „arbeitsbedingte Erkrankungen“ und „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“ – grundsätzlich gewährleistet bleiben.
Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge ist geeignet, einen Mehrwert für Beschäftigte und Unternehmen zu generieren, besonders die Schnittstellen zur Gesundheitsförderung, betrieblichen Gefährdungsbeurteilung, kurativen Medizin und Rehabilitation zu optimieren und damit Synergien zu schaffen. Viele Betriebsärztinnen und Betriebsärzte nutzen bereits die Möglichkeiten des Präventionsgesetzes zur Erweiterung und Finanzierung betrieblicher Gesundheitsförderungsangebote – einschließlich evidenzbasierter Screening-Angebote (z. B. Koloskopie- oder Hautkrebs-Screening).
Empfehlung
Das Thema „arbeitsmedizinische Vorsorge“ ist durch Missverständnisse, unterschiedliche Erwartungen beteiligter Partner und die Historie einer versicherungsrechtlich geprägten Vorsorgephilosophie und -praxis gekennzeichnet – einschließlich möglicher Konsequenzen für die berufliche Einsetzbarkeit („gesundheitliche Bedenken“). Die
Zielsetzungen des Rechtsrahmens arbeitsmedizinischer Vorsorge ist aber längst „ganzheitlich“ – ohne bisher breite Akzeptanz und Umsetzung in der Praxis. Deshalb ist eine verbindliche Klarstellung durch eine AMR „Ganzheitliche arbeitsmedizinische Vorsorge“ anzuregen, in der die Standards einer guten Vorsorgepraxis – einschließlich wesentlicher Schnittstellen und der Kriterien für die Auswahl von Anamnese- und Untersuchungsinhalten – unmissverständlich beschrieben werden. Diese könnte nicht nur Betriebsärztinnen und Betriebsärzten, sondern auch ihren Partnern ein gemeinsames Verständnis der arbeitsmedizinischen Vorsorge vermitteln und zur Orientierung bei der Erarbeitung detaillierter Empfehlungen für die einzelnen Vorsorgeanlässe beitragen.
Kontakt für Anregungen und Kommentare:
Prof. Dr. med. Thomas Kraus
TKraus@ukaachen.de
Dr. med. Wolfgang Panter
wolfgang.panter@vdbw.de