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Interview

Das Berufskrankheiten-System in Österreich

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The Occupational Disease System in Austria

ASU: Wie sind in Österreich Berufskrankheiten definiert?

DDr. Hochgatterer: Als Berufskrankheiten (BK) gelten in Österreich jene Erkrankungen, die in der Anlage 1 zu § 177 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) angeführt sind – unter den dort angegebenen Voraussetzungen, „wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht sind“. Es gibt bei einzelnen Berufskrankheiten auch noch weitere Einschränkungen, so gelten – ähnlich wie das bis 2021 auch in Deutschland der Fall war – zum Beispiel Hautkrankheiten (Lfd. Nr. 2.1 früher BK 19) nur dann als Berufskrankheiten, „wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen“. Von der übergeordneten Menge arbeitsbedingter Erkrankungen sind Berufskrankheiten also eine Teilmenge mit besonderer versicherungsrechtlicher Stellung.

ASU: Welche Kausalitätskriterien für die Aufnahme einer Erkrankung in die Anlage 1 zu § 177 des ASVG gelten in Österreich?

DDr. Hochgatterer: Die Aufnahme einer Erkrankung in die BK-Liste ist das Ergebnis einer politischen Entscheidung, die auf der strengen Anwendung des Kausalitätsbegriffes gründet. Dieser aus juristischer Sicht geforderte zeitlich-örtlich-ursächliche Zusammenhang ist dann gegeben, wenn:

  • eine Krankheit in einem strengen Kausalzusammenhang mit einer bestimmten Einwirkung steht,
  • diese Einwirkung bei einer bestimmten Tätigkeit in einem bestimmten Beruf vorkommt und
  • bei dieser Personengruppe in einer Häufigkeit auftritt, die über dem Durchschnitt der Morbidität der übrigen Bevölkerung liegt.
  • ASU: Gibt es in Österreich ähnlich wie in Deutschland einen ärztlichen Sachverständigenbeirat, der die österreichische Regierung bei der Aufnahme neuer Berufskrankheiten in Anlage 1 zu § 177 des ASVG berät?

    DDr. Hochgatterer: Leider nein, trotz Forderungen aus dem Bereich der österreichischen Arbeitsmedizin – auch wir haben uns als Österreichische Gesellschaft für Arbeitsmedizin dafür eingesetzt – hat der Gesetzgeber den Vorschlag zur Einrichtung eines entsprechenden Fachbeirats leider nicht aufgegriffen. Ein solcher Fachbeirat würde das Verfahren sehr viel transparenter gestalten und die wissenschaftliche Evidenz als Grundlage der Aufnahme neuer Erkrankungen deutlich stärken.

    ASU: Gibt es in Österreich eine Öffnungsklausel für Erkrankungen, die nicht in die Berufskrankheiten-Liste aufgeführt sind?

    DDr. Hochgatterer: In Österreich sprechen wir von einer sogenannten „Generalklausel“. Die Generalklausel ermöglicht es, eine Krankheit, die ihrer Art nach nicht in Anlage 1 im ASVG enthalten ist, im Einzelfall als Berufskrankheit anzuerkennen. Nämlich dann, wenn der Träger der Unfallversicherung aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse feststellt, dass diese Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer Beschäftigung entstanden ist, die von der versicherten Person ausgeübt wird.

    ASU: Wie ist die Beweislast bei Berufskrankheiten in Österreich geregelt?

    DDr. Hochgatterer: Bei Berufskrankheiten gilt eine Meldepflicht für Arbeitgeber, aber auch für jede Ärztin/jeden Arzt, die/der den begründeten Verdacht hegt, dass eine Berufskrankheit vorliegt. Anders als in Deutschland besteht beim Anerkennungsverfahren Beweislastumkehr. Das bedeutet: Nicht die geschädigte Person muss beweisen, wie und wodurch sie geschädigt wurde, sondern die Versicherung muss gegebenenfalls den Beweis erbringen, dass die Schädigung nicht durch eine Berufskrankheit erfolgte.

    ASU: Welche Leistungen werden in Österreich bei der Anerkennung einer Berufskrankheit gewährt?

    DDr. Hochgatterer: Nach § 173 ASVG können bei Einhaltung der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und abhängig von der Schwere der Erkrankung bei anerkannter Berufskrankheit in Österreich unter anderem folgende Leistungen gewährt werden:

  • Heilbehandlung,
  • Familien- und Taggeld,
  • berufliche und soziale Maßnahmen der Rehabilitation,
  • Bereitstellung von Hilfsmitteln,
  • Rente.
  • Im Falle des durch eine Berufskrankheit verursachten Todes der/des Versicherten:

  • Teilersatz der Bestattungskosten,
  • Hinterbliebenenrenten.
  • Im Falle einer durch eine Berufskrankheit verursachten Arbeitsverhinderung der/des Versicherten:

  • Zuschüsse zur teilweisen Vergütung des Aufwandes für die Entgeltfortzahlung.
  • ASU: Wann werden Berufskrankheiten in Österreich entschädigt oder berentet?

    DDr. Hochgatterer: Die Entschädigung bei Berufskrankheiten erfolgt durch die zuständige Unfallversicherung. Generell gilt, dass Berufskrankheiten erst ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % berentet werden. Im Falle der Meldung über die Generalklausel wird erst ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 % berentet.

    ASU: Anfang 2024 kam es in Österreich zu einer gesetzlichen Änderung bei Berufskrankheiten. Um welche Änderungen handelte es sich im Einzelnen?

    DDr. Hochgatterer: Mittlerweile hat ein Gesetzesantrag den Gesundheitsausschuss des Parlaments passiert, wurde am 28.02.2024 im Parlament beschlossen und ist zum 01.03.2024 in Kraft getreten. Im Einzelnen handelt es sich um eine vollkommen neue Strukturierung der Berufskrankheiten-Liste. Die neue Gliederung der österreichischen BK-Liste lautet wie folgt:

  • Lfd. Nr. 1.: Erkrankungen der Atemwege und der Lunge
  • Lfd. Nr. 2.: Erkrankungen der Haut
  • Lfd. Nr. 3.: Infektionskrankheiten, Erkrankungen durch Parasiten, Tropenkrankheiten
  • Lfd. Nr. 4.: Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats
  • Lfd. Nr. 5.: Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
  • Lfd. Nr. 6.: Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten
  • Lfd. Nr. 7.: Maligne Erkrankungen
  • Lfd. Nr. 8.: Sonstige
  • Zudem wurde nach deutschem Vorbild die BK-Liste um folgende Erkrankungen erweitert:

  • Lfd. Nr. 5.2.2: Hypothenar-/Thenar-Hammer-Syndrom
  • Lfd. Nr. 5.2.3: Fokale Dystonien bei Instrumentalmusikerinnen/-musikern
  • Lfd. Nr. 7.4.2: Plattenepithelkarzinom, aktinische Keratosen der Haut durch UV-Exposition
  • Lfd. Nr. 7.7.1: Ovarialkarzinom nach Asbestexposition
  • Die novellierte österreichische Berufskrankheiten-Liste umfasst aktuell 74 Positionen und kann unter anderem bei der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) im Internet abgerufen werden (s. „Weitere Infos“).

    ASU: Welche Berufskrankheiten sind ak­tuell in Österreich häufig?

    DDr. Hochgatterer: Im Jahr 2022 wurden in Österreich insgesamt 8349 Berufskrankheiten anerkannt. Ähnlich wie in Deutschland war bis zur Corona-Pandemie in Österreich die Lärmschwerhörigkeit (n2022 = 635) die häufigste Berufskrankheit. Durch COVID-19 wurde dieser Spitzenplatz an die Infektionskrankheiten (n2022 = 7.348) abgegeben. Auf Platz 3 lagen in Österreich im Jahr 2022 Asbestose, bösartige Neubildungen durch Asbest (n2022 = 100) und auf Platz 4 Hauterkrankungen (n2022 = 88). Im Vergleich mit den deutschen Zahlen müssen die unterschiedlichen Einwohnerzahlen (Österreich2022 = 9,042 Millionen; Deutschland2022 = 83,8 Millionen) bedacht werden.

    ASU: Was bedeuten die Änderungen im Berufskrankheitenrecht für die österreichische Ärzteschaft?

    DDr. Hochgatterer: Nach Beschluss der Änderungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ist es notwendig, die österreichischen Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner, aber auch die gesamte Ärzteschaft über diese Neuerungen zu unterrichten. Diese Information hat auch vor dem Hintergrund zu geschehen, dass jede Ärztin/jeder Arzt in Österreich verpflichtet ist, bereits den begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit bei einer Patientin/einem Patienten der zuständigen Unfallversicherung zu melden! Im Falle einer Nichtmeldung sind Regressforderungen möglich. Unter anderem ist es auch Aufgabe der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin, die Ärzteschaft in adäquater Form hierüber zu informieren.

    ASU: Herzlichen Dank für das Gespräch!

    Das Interview führte unser Redaktionsmitglied Prof. Dr. Dipl.-Ing. Stephan Letzel, Mainz.

    Weitere Infos

    AUVA: Aktuelle Liste der Berufskrankheiten – § 177 und Anlage 1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG)
    https://www.auva.at/cdscontent/load?contentid=10008.541831

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