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Interview

Die H-Markierung von Gefahrstoffen als Indikator für toxische ­Gefährdungen durch Hautresorption

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Fragen und Antworten zur Arbeitsgruppe „Hautresorption“ der MAK-Kommission

The H Designation of Hazardous Substances as an Indicator of Toxic Hazards Through Skin Absorption – Questions and Answers on the „Skin Absorption“ Working Group of the MAK Commission

ASU: Prof. Bader, bei vielen Arbeitsstoffen kann die Resorption durch die Haut erheblich zur inneren Belastung der Beschäftigten beitragen, wenn ein unmittelbarer Hautkontakt besteht. Ist das der Grund, warum sich die Arbeitsstoffkommission so intensiv mit dem Thema befasst und in diesen Fällen eine besondere Markierung vergibt?

Bader: Ja, das ist tatsächlich eine zentrale Erkenntnis: Bei mehr als einem Drittel aller Gefahrstoffe, die in Deutschland mit Grenzwerten belegt sind, kann die Resorption über die Haut auch ohne zusätzliche Risikofaktoren zu einer erhöhten und aus arbeitstoxikologischer Sicht auch relevanten Belastung führen. Diese Beobachtung fordert einen deutlichen Hinweis zur toxischen Gefährdung durch Hautkontakt beim Umgang mit diesen Stoffen, und das ist der wesentliche Sinn der „H“-Markierung.

ASU: Können Sie erklären, wie die „H“-Markierung zustande kommt?

Bader: Eine wichtige Größe zur Beurteilung der Hautresorbierbarkeit ist der sogenannte Flux. Darunter versteht man die Menge eines Stoffes, die pro Zeiteinheit und Fläche perkutan resorbiert wird. Ausgedrückt wird das in der Regel in Milligramm oder Mikrogramm pro Quadratzentimeter Haut und Stunde. Wir schauen immer zuerst, ob es wissenschaftliche Publikationen mit Beobachtungen aus der Arbeitswelt oder aus human-experimentellen Untersuchungen gibt. Das ist für uns der Goldstandard. Entscheidend ist dabei, ob die Hautresorption quantitativ untersucht wurde. Oft müssen wir allerdings auf tierexperimentell ermittelte Daten zurückgreifen oder auf Experimente mit sogenannten Diffusionszellen. Dabei wird die Penetration einer Chemikalie durch ein Hautpräparat in einer speziell dafür konstruierten kleinen Versuchsapparatur quantitativ bestimmt. Wenn gar nichts über die Gefahrstoffe bekannt ist, greifen wir auf Modellrechnungen oder Analogien zu bereits bewerteten Stoffen zurück.

ASU: Der Flux ist also ein wesentliches Kriterium für die Hautgängigkeit eines Stoffes. Heißt das, alle Gefahrstoffe mit hohen Flux-Werten erhalten dann eine „H“-Markierung?

Bader: Tatsächlich liefert der Flux einen wesentlichen Hinweis auf die Hautgängigkeit eines Stoffes und damit auch auf eine potenziell erhöhte Aufnahme am Arbeitsplatz bei unmittelbarem Hautkontakt. Damit das aber zu einer Empfehlung für eine „H“-Markierung führt, muss die resorbierbare Stoffmenge unter den Bedingungen des Arbeitsplatzes eine toxisch relevante Größenordnung erreichen. Deshalb berechnen wir zunächst die Stoffmenge, die innerhalb einer Stunde über eine Hautfläche von 2000 cm2 – das entspricht in etwa beiden Händen und Unterarmen beziehungsweise etwa 10 % der Körperoberfläche – aufgenommen werden kann. Ob der Hautkontakt nun tatsächlich dadurch entsteht, dass Beschäftigte ungeschützt mit beiden Händen und Unterarmen zum Beispiel in einem Tauchbad hantieren oder ob sich Fläche und Dauer additiv aus Flüssigkeitsspritzern auf verschiedene Hautareale oder Kontakt mit kontaminierter Arbeitskleidung ergeben – das ist eigentlich das realistischere Szenario –, ist dabei von untergeordneter Bedeutung.

ASU: Und ab welcher Stoffmenge wird dann von einer toxischen Relevanz ausgegangen?

Bader: Entscheidend ist, ob die berechnete Stoffmenge größer ist als 25 % der systemisch tolerablen Menge für den Menschen. Letztere wird aus tierexperimentell ermittelten NOAEL (No Observed Adverse Effect Level) oder NOAEC (No Observed Adverse Effect Concentration) für den empfindlichsten adversen Effekt eines Stoffes abgeleitet. Die MAK-Kommission hat dazu toxikologisch gut fundierte Vorgehensweisen implementiert. Stützt sich der MAK-Wert auf die systemische Toxizität eines Gefahrstoffs– und das ist der Regelfall – kann vereinfachend gesagt werden: Wenn die Hautresorption ein Viertel der Belastung liefern kann, die durch achtstündige Inhalation unter MAK-Bedingungen aufgenommen wird, empfehlen wir eine Markierung des Stoffes mit „H“. Dann reicht auch der einfache Blick auf die Stoffkonzentration in der Luft nicht mehr aus, um einen adäquaten Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten.

ASU: Gilt das grundsätzlich für alle Gefahrstoffe?

Bader: Das ist das Grundprinzip, ja. Für Stoffe, bei denen sich der MAK-Wert an lokalen Wirkungen orientiert – etwa der Reizwirkung am Auge oder in der Lunge – müssen wir dann aber zunächst den NOAEL für die empfindlichste Wirkung im Körper finden und gegebenenfalls selbst erst vom Tier auf den Menschen skalieren. Ein Sonderfall sind die genotoxischen Kanzerogene: Hier gibt es keine Schwellenwerte und zusätzlich dermal resorbierte Stoffmengen führen zu einer inakzeptablen Erhöhung des gesundheitlichen Risikos. In diesen Fällen genügt der qualitative Nachweis einer Resorbierbarkeit, unabhängig vom Flux. Das führt zum Beispiel dazu, dass eigentlich gering hautgängige Nickel- und Cobaltverbindungen trotzdem mit „H“ markiert werden.

ASU: Welche Eigenschaften eines Gefahrstoffes tragen denn besonders zur Erhöhung der Hautresorption bei?

Bader: Von der chemischen Seite aus betrachtet, sind das vor allem die Polarität eines Stoffes und das Molekulargewicht beziehungsweise die Molekülgröße. Eine mittlere Polarität bedeutet, dass der Stoff sowohl durch die lipophilen Außenseiten der Zellmembranen als auch durch das hydrophile Zellinnere oder den Interzellularraum gut diffundieren kann. Solche Eigenschaften werden als „amphiphil“ bezeichnet und sie setzen eine gewisse Molekülgröße voraus. Oberhalb eines Molekulargewichtes von 500 Dalton wird es dann aber immer schwieriger, die Hautbarriere noch zu überwinden. Die meisten Gefahrstoffe haben deutlich geringere Molekülgrößen. Gute Indikatoren sind auch die Wasserlöslichkeit und der Octanol/Wasser-Verteilungs­koeffizient. In beiden Fällen sind Extremwerte eher ungünstig für die Hautresorption, denn, wie schon gesagt, ein Stoff benötigt zur Überwindung der Hautbarriere sowohl hydrophile als auch lipophile Eigenschaften. Und Gefahrstoffe mit hohem Dampfdruck, die schon bei Raumtemperatur sehr rasch in die Gasphase wechseln, verbleiben nur kurz auf der Haut und werden kaum perkutan resorbiert. Es muss allerdings immer bedacht werden, dass wir eine Bewertung für Reinstoffe auf gesunder Haut abgeben. Die Herausforderungen in der Praxis können ganz anders aussehen. Es gibt zum Beispiel Stoffe, die sehr gut über die Haut resorbiert werden und dabei andere Gefahrstoffe „mitschleppen“. Das ist zum Beispiel beim Dimethylsulfoxid und Polyethylenglykolen der Fall. Diese sogenannten „Pene­trationsförderer“ werden ja an anderer Stelle auch gezielt für die Einschleusung von Wirkstoffen eingesetzt, beispielsweise in Nikotin- oder Östrogenpflastern. Die gesunde Haut stellt eine gewisse Barriere für Gefahrstoffe dar, aber auf eine gereizte oder sogar vorgeschädigte Haut trifft das nicht unbedingt zu. Deshalb ist übrigens ein betriebliches Hautschutzprogramm zur Gesunderhaltung und Pflege der Haut beim Umgang mit Gefahrstoffen so bedeutsam. Eine Quellung des Stratum corneum durch Wasser, also zum Beispiel bei Feuchtarbeit oder Schweißbildung, kann die Hautgängigkeit von Stoffen ebenfalls erhöhen, auch wenn die Reinstoffe selbst keine ausgeprägte Resorptionsneigung haben. In der Praxis darf man sich daher nicht ausschließlich auf die „H“-Markierung verlassen, wenn die toxische Gefährdung durch Hautresorption abgeschätzt werden soll.

ASU: Können Sie uns ein Beispiel für einen besonders gut hautgängigen Arbeitsstoff nennen?

Bader: Ein sehr anschauliches Beispiel ist das N-Methyl-2-pyrrolidon, meist als NMP abgekürzt. Das ist ein sehr gutes Lösemittel für Polymere und ein Lösungsvermittler für organisch-wässrige Mischsysteme. Es wird auch in der Elektroindustrie eingesetzt, zum Beispiel bei der Herstellung von Wafern in der Halbleiterindustrie. Aufgrund der fruchtschädigenden Wirkung des NMP ist die Verwendung aber eingeschränkt und die Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz müssen besonders gut geprüft werden. Der aktuelle MAK-Wert beträgt 82 mg/m3. In acht Stunden werden unter diesen Bedingungen etwa 800 mg NMP eingeatmet. Davon verbleiben mehr als 700 mg im Körper. Durch human-experimentelle Untersuchungen wissen wir, dass der Flux von NMP durch die Haut etwa 5,5 mg pro Quadratzentimeter und Stunde beträgt. Die Benetzung einer einzigen Handinnenfläche von etwa 100 cm2 kann also innerhalb einer Stunde bereits zur dermalen Aufnahme von über 500 mg NMP führen. Die Kontamination auch kleinerer Hautareale und kurze Einwirkzeiten bewirken damit schon eine deutlich erhöhte innere Stoffbelastung, weshalb NMP daher eine solide Markierung mit „H“ bekommen hat. Auch ähnliche Lösemittel mit mittlerer Polarität und niedrigem Dampfdruck, zum Beispiel Glykolether und Dimethylformamid, gehören zu den besonders gut penetrierenden Gefahrstoffen.

ASU: Im Idealfall können Sie also experimentelle Daten für die Abschätzung der Hautresorption heranziehen. Aber Sie haben eingangs auch mathematische Modellierungen erwähnt. Wenn das gut etabliert ist, warum machen Sie das dann nicht immer? Wäre das nicht einheitlicher und einfacher?

Bader: Das ist auch mit Blick auf das stets aktuelle Thema der Vermeidung oder zumindest Reduktion von Tierversuchen eine sehr berechtigte und interessante Frage. Aus chemischer Sicht ist die Hautresorption eines Stoffes zunächst einmal ein klassischer Diffusionsprozess, der sich durch bekannte physikochemische Gesetzmäßigkeiten gut beschreiben lässt. Allerdings ist die lebendige Haut, egal ob vom Tier oder vom Menschen, kein einfaches Grenzkompartiment, sondern eine äußerst komplexe Welt – wir haben unterschiedliche Schichten mit unterschiedlicher Dicke und jede Schicht besteht aus Zellen, die selbst komplex aufgebaut sind und mit den Gefahrstoffen wechselwirken. Hinzu kommt der Einfluss des pH-Werts, der Hautfeuchte, der Temperatur und vieles mehr. Das alles lässt sich derzeit nur recht grob modellieren, zumindest wenn man ein Universalmodell für ein möglichst breites Stoffspektrum haben möchte. Die von uns verwendeten Modelle liefern deshalb keine perfekten, aber zur Bewertung der Hautresorption im Großen und Ganzen recht brauchbare Ergebnisse. Und mit Blick auf den Präventionsgedanken am Arbeitsplatz kann man immerhin konstatieren, dass die Modelle die Hautresorption häufiger über- als unterschätzen. Das betrachten wir an dieser Stelle nicht als Nachteil.

ASU: Haben Sie für eine modellgestützte Bewertung auch ein Beispiel?

Bader: Ja, ein recht aktuelles Beispiel ist das Morpholin, ein häufig anzutreffendes Zwischenprodukt in chemischen Synthesen und Hilfsmittel in chemischen Formulierungen. Es gibt derzeit keine experimentellen Daten zur Resorption durch die Haut. Mit unseren Modellen haben wir abgeschätzt, dass unter den schon genannten Rahmenbedingungen bis zu 10 mg dermal resorbiert werden. Die systemisch tolerable Dosis des Morpholins lässt sich aus den Dokumenten der MAK-Kommission ableiten. Sie beträgt etwa 450 mg für einen Menschen. Man erkennt sofort, dass der mögliche Beitrag einer dermalen Resorption zur Gesamtbelastung unter MAK-Wert-Bedingungen sehr gering ist. Deshalb haben wir für Morpholin auch keine „H“-Markierung empfohlen.

ASU: Wie viele Gefahrstoffe sind eigentlich mit „H“ markiert?

Bader: In der aktuellen TRGS 900 oder in der MAK- und BAT-Werte-Liste der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sind Luftgrenzwerte für knapp fünfhundert Arbeitsstoffe zu finden. Von denen sind etwa ein Drittel mit der „H“-Markierung versehen. Praktisch heißt das in diesen Fällen: Auch bei Einhaltung des Grenzwertes in der Luft kann die Hautresorption des Stoffes zu einer toxikologisch relevanten Belastung zu führen, wenn unmittelbarer Hautkontakt besteht. In diesen Fällen ist also besondere Umsicht geboten.

ASU: Was würden Sie beim Umgang mit diesen Gefahrstoffen tun?

Bader: Zunächst einmal gilt es, die Gefahr der Hautresorption im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu adressieren und entsprechende Schutzmaßnahmen vorzusehen. Das sind meist stofflich und tätigkeitsbezogen angepasste Handschuhe und spritzsichere Arbeitskleidung. Hier ist vielleicht noch ein kleiner Hinweis erlaubt: Es gibt Gefahrstoffe, die dermal auch aus der Luft am Arbeitsplatz gut resorbiert werden, also ohne direkten Hautkontakt zur Flüssigkeit über Tropfen, Spritzer und Arbeitskleidung. Dazu gehören die schon erwähnten Lösemittel NMP und Dimethylformamid, aber auch für Anilin ist die Resorption aus der Gasphase bekannt und sollte bei einer Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden. Sehr wichtig in der Praxis ist auch ein gutes betriebliches Hautschutzprogramm zur Gesunderhaltung der Haut und ihrer natürlichen Barrierefunktion. Und, last but not least, haben wir in der Arbeitsmedizin mit dem Human-Biomonitoring exakt das Instrument zur Verfügung, mit dem wir eine dermale Resorption von Gefahrstoffen besonders gut erkennen und quantifizieren können. Wenn die Gefährdungsbeurteilung also ergibt, dass Hautkontakt nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, ist die „H“-Markierung ein sehr starkes Auslöse­kriterium für ein Biomonitoring-Programm im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Damit lässt sich die Wirksamkeit von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen überprüfen und im Optimalfall dann ja auch belegen.

ASU: Vielen Dank für das Interview, Prof. Bader. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „H“-Markierung ein wichtiges Hilfsmittel für die arbeitsmedizinische Praxis ist, um eine Gefährdung durch dermale Resorption schnell und zuverlässig zu erkennen.

doi:10.17147/asu-1-371792

Kernaussagen

  • Mit der „H“-Markierung kennzeichnet die MAK-Kommission Gefahrstoffe, bei denen die Hautresorption am Arbeitsplatz ein relevanter oder sogar der wichtigste Aufnahmepfad sein kann.
  • Mehr als ein Drittel aller Gefahrstoffe mit MAK-Wert beziehungsweise Arbeitsplatzgrenzwert trägt eine „H“-Markierung.
  • Beim Umgang mit „H“-markierten Gefahrstoffen ist das Human-Biomonitoring ein adäquates Instrument zur Ermittlung und Bewertung der inneren Belastung.
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