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Lärmvorsorge

Neuer Standard für die ­arbeitsmedizinische Lärmvorsorge1

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

New Standard for Occupational Noise Prevention

Die Berufskrankheit „Lärm“ (BK 2301) ist immer noch die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit. Gehörschäden des Innenohrs sind irreversibel und werden anfangs von den Betroffenen meist nicht bemerkt. Arbeitsschutzdefizite, wie das Nicht-Tragen von Gehörschutz, fallen meist ohne einen Gehörtest jahre- oder jahrzehntelang nicht auf. Die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) setzt in Verbindung mit der Arbeitsmedizinischen Regel (AMR) 2.1 „Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge“ an, um arbeitsbedingten Gehörschäden vorzubeugen.

Die im Sommer 2022 erschienenen „DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen“ dienen Betriebsärztinnen und Betriebsärzten als „Best Practices“. Sie lassen ihnen den Spielraum, Beratungen und Untersuchungen so zu gestalten, wie es aufgrund der jeweiligen individuellen Gegebenheiten geboten erscheint. Die Empfehlungen stellen einen sozialpartnerschaftlich und wissenschaftlich getragenen Konsens dar und repräsentieren den allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin. Rechtsverbindlichkeit besitzen sie jedoch nicht. Das gilt auch für die DGUV Empfehlung „Lärm“.

DGUV Empfehlung „Lärm“: Das ist neu, das ist anders

„Der G 20“, wie der DGUV Grundsatz 20 umgangssprachlich genannt wird, gehörte sicherlich zu den in Deutschland am häufigsten durchgeführten Vorsorgen mit in der Praxis bewährtem Ablauf. Der Arbeitskreis (AK) 1.6 im Ausschuss Arbeitsmedizin der Gesetzlichen Unfallversicherung (AAMED-GUV), dem die Überarbeitung zufiel, war sich dessen bewusst und beschloss, nur das zu ändern, was unbedingt erforderlich war. Zwei Kernaspekte traten hierbei in den
Vordergrund:

  • Die Neuauflage der DIN EN ISO 7029:2017 „Akustik – Statistische Verteilung von Hörschwellen in Bezug auf das Alter und das Geschlecht“, die das Hörvermögen gesunder, nicht lärmbelasteter Menschen dokumentiert.
  • Die Überarbeitungen der Königsteiner Empfehlung für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit.
  • DIN EN ISO 7029

    Für die Neuauflage der DIN EN ISO 7029:2017
    wurden die vorhandenen Datensätze vom zuständigen Normenausschuss kritisch betrachtet und es wurden nur noch die qualitativ besten Daten einer neuen Analyse unterzogen. Die wichtigste Feststellung war: Der altersbedingte Hörverlust ist geringer als bisher angenommen. Vermutlich wurde früher dadurch ein Teil lärmbedingter Hörverluste fälschlicherweise dem altersbedingten Hörverlust zugerechnet. Hier lag also dringender Anpassungsbedarf vor. Für die neuen Werte, ab denen eine Ergänzungsuntersuchung nach Lärm II beziehungsweise die erweiterte Ergänzungsuntersuchung nach Lärm III zu empfehlen sind, war bei der Durchführung des Audiogramms das 10 %-Perzentil der ISO 7029:2017 plus ein Fehlerzuschlag von 5 dB der Maßstab.

    Königsteiner Empfehlung

    In der Königsteiner Empfehlung zur Begutachtung der Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit (s. „Weitere Infos“) wurden in den vergangenen 20 Jahren die Werte für die Beurteilung von Hörverlusten gesenkt. Das führte zu der absurden Situation, dass manche Beschäftigte von der Betriebsärztin oder dem Betriebsarzt bei der Vorsorge nach Lärm I die Auskunft bekamen: „Passt schon.“ HNO-Ärztinnen und -Ärzte, die nicht nach der Königsteiner Empfehlung handelten, sandten jedoch eine Berufskrankheiten-Anzeige an die Berufsgenossenschaft, die den Beschäftigten ein Hörgerät bezahlte.

    Junge Beschäftigte

    Die Altersgruppe der unter 30-Jährigen wurde im Bereich der höheren Frequenzen noch einmal speziell betrachtet. Die Werte, die einen Gehörverlust definieren, wurden gesenkt, denn lärmbedingte Hörverluste zeigen sich zuerst und besonders ausgeprägt im Bereich von 4 kHz. Außerdem soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich Gehörschäden in den ersten zehn Berufsjahren entwickeln und dann eine gewisse „Sättigung“ eintritt, sprich: Der Hörverlust pendelt sich auf einem gewissen Niveau ein. Eine möglichst frühzeitige Diagnose, verbunden mit entsprechenden Präventions­maßnahmen, soll das noch vorhandene Hörvermögen erhalten.

    Einzelne Reaktionen von Betriebsärztinnen und Betriebsärzten auf die neue DGUV Empfehlung lauteten: „Die Werte sind zu niedrig, das ist doch noch Normalhörigkeit.“ Dazu ist zu sagen: Die Empfehlung „Lärm“ ist nicht dazu da, der Betriebsärztin oder dem Betriebsarzt die Beurteilung abzunehmen. Ist der geringe Hörverlust eindeutig nicht durch Lärmbelastung verursacht oder liegen Erkenntnisse aus der Versichertenhistorie vor, die dies nahelegen, sollte dies im abschließenden Beratungsgespräch klar kommuniziert werden.

    Geschlechtsspezifische Betrachtung

    Bei der Überarbeitung der DIN EN ISO 7029:2017 kristallisierte sich ebenfalls heraus, dass das Hörvermögen von Frauen etwa ab dem 35. Lebensjahr weniger stark nachlässt als das von Männern. Die Abweichungen sind so signifikant, dass der AK 1.6 beschloss, zukünftig in der Empfehlung „Lärm“ getrennte Grenzen anzugeben, ab wann eine Ergänzungsuntersuchung für Frauen und für Männer empfehlenswert ist. Die Werte sind nun in zwei Tabellen aufgelistet. So ist sichergestellt, dass Frauen und Männern in einem vergleichbaren Stadium des lärmbedingten Hörverlustes eine Ergänzungsuntersuchung nach Lärm II empfohlen wird.

    Optional: Audiometrie mit eingesetztem Gehörschutz

    Ebenfalls neu aufgenommen wurde optional die Audiometrie mit eingesetztem Gehörschutz (Gehörschutzstöpsel, Otoplastiken). In Verbindung mit dem Wissen über den Arbeitsplatz des oder der Beschäftigten soll herausgefunden werden, ob der Gehörschutz die erforderliche Dämmung aufweist, um ausreichend zu schützen. Bei der optionalen Audiometrie mit eingesetztem Gehörschutz müssen also die laut Gefährdungsbeurteilung erforderlichen Dämmwerte exakt erreicht werden. Ist das nicht der Fall, sind die Beschäftigten beispielsweise im Einsetzen der Gehörschutzstöpsel ungenügend geschult oder sie verwenden möglicherweise den falschen Gehörschutz. Dies alles sind Aspekte für das abschließende Beratungsgespräch.

    Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Seit 2019 darf Persönliche Schutzausrüstung (PSA) nur noch in Verkehr gebracht werden, wenn sie der PSA-Verordnung EU 2016/425 entspricht. Darin wird Gehörschutz als Kategorie 3, also Schutz vor irreversiblen Schäden, geführt. In Verbindung mit der DGUV Vorschrift 1, § 31, sind bei PSA-Kategorie 3 Unterweisungen mit praktischen Übungen durchzuführen. Das heißt, die Beschäftigten in Lärmbereichen sollten beispielsweise in der Lage sein, ihre Gehörschutzstöpsel bestimmungsgemäß einzusetzen, weil sie es praktisch geübt haben.

    Ausblick

    Die zum Teil deutlich niedrigeren Werte für die Vorsorgen nach Lärm II und Lärm III sind im Sinne der Prävention gerechtfertigt. Ob das Ziel der frühzeitigen Erkennung von lärmbedingten Gehörschäden damit erreicht wird, wird die Zukunft zeigen. Die Mitglieder des AK 1.6 greifen gern Hinweise aus der Praxis auf.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    DGUV – Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung: DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen. Stuttgart: Gentner, 2022.

    DIN EN ISO 7029:2017-06: Akustik – Statistische Verteilung von Hörschwellen in Bezug auf das Alter und das Geschlecht (ISO 7029:2017); Deutsche Fassung EN ISO 7029:2017. Berlin: Beuth.

    doi:10.17147/asu-1-357404

    Weitere Infos

    DGUV Information 209-023: Lärm am Arbeitsplatz
    https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/445

    Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) - Königsteiner Empfehlung
    https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/2559

    Kernaussagen

  • Bereits mit dem Titel der DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen wird der Beratungsschwerpunkt hervorgehoben.
  • Die Tabellenwerte, ab denen Lärm II beziehungsweise Lärm III Vorsorgen angeraten werden, wurden deutlich abgesenkt.
  • Entsprechend dem unterschiedlichen Verlauf der Altersschwerhörigkeit wurden die Tabellen für Männer und Frauen getrennt.
  • Info

    Handlungsanlass ArbMedVV

    Arbeiten Beschäftigte unter Lärmeinfluss, müssen Arbeitgebende gemäß ArbMedVV ab Überschreiten des unteren Auslösewerts von 80 dB(A) eine arbeitsmedizinische Vorsorge anbieten. Ab einschließlich 85 dB(A) ist diese verpflichtend. Nach ArbMedVV § 5a gibt es auch noch die Wunschvorsorge. Eine Definition von „Lärm“ lautet: „Lärm ist jedes unerwünschte Geräusch.“ Es gibt nicht wenige Menschen, die unter dem Lärm eines Großraumbüros oder eines Callcenters leiden, auch wenn die 80 dB(A) nicht überschritten werden. Möglicherweise ergeben sich so aus einer Wunschvorsorge Hinweise für weitergehende Arbeitsschutzmaßnahmen für alle Beschäftigten, ganz im Sinne des Minimierungsgebots (§ 4 Arbeitsschutzgesetz).

    Kontakt

    Dipl.-Ing. (FH) Peter Hammelbacher
    Leiter des AK 1.6 im Ausschuss Arbeitsmedizin-GUV; Berufsgenossenschaft Holz und Metall; Isaac-Fulda-Allee 18; 55124 Mainz

    Foto: privat

    Lesetipp

    DGUV – Deutsche Gesetzliche Unfall­versicherung (Hrsg.):

    DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen

    ISBN: 978-3-87247-783-5

    Erhältlich unter:

    https://gentnershop.de/buchshop/DGUV-Empfehlungen-arbeitsmedizinische-B…

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