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Recht

Basalzellkarzinome nach beruflicher UV-Einwirkung als Wie-Berufskrankheit anerkannt

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Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht vom 21.08.2023 - L 8 U 7/20 -

Basal Cell Carcinoma After Occupational UV Exposure Can Be Recognized as an Occupational Disease
Since 10.09.2020 – Judgement of the Schleswig-Holstein State Social Court of August 8th, 2023

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines im Jahre 2009 erstmals aufgetretenen Basalzellkarzinoms (BZK) im Bereich der linken Wange des Klägers als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII (Wie-BK).

Der 1956 geborene Kläger arbeitete seit dem 1. Juli 1981 als Starkstromelektriker im Bereich von Anlagen und Freiluftschaltanlagen bei der Nordwestdeutschen Kraftwerks AG, die nach Wechsel der Eigentumsverhältnisse als Schleswig-Holsteinische Netz AG firmiert. Hierbei war der Kläger überwiegend im Freien tätig und Sonnenbestrahlung ausgesetzt. Der Facharzt für Hautkrankheiten H. zeigte bei der Beklagten am 1. Juni 2015 einen Verdacht auf eine Berufskrankheit unter Hinweis auf ein bestehendes metatypisches Basaliom (heutige Bezeichnung: Basalzellkarzinom) an.

In der Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition zur beruflich bedingten Exposition von UV-Strahlung zur Berufskrankheit (BK) Nr. 5103 errechnete der Präventionsdienst der Beklagten eine berufliche Exposition gegenüber UV-Strahlung von 5813 Standard­erythemdosen (SED). Die private Exposition bis zur Erstdiagnose im Alter von 53 Jahren betrage 6890 SED. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der besagten BK würden als erfüllt gelten, wenn zur privaten Exposition mindestens ein beruflicher Lebenszeitanteil von 40 % hinzukomme. 40 % von 6890 SED ergäben 2756 SED. Da die berufliche Exposition mit 5813 SED höher als 2756 SED liege, seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt.

Prof. Dr. Dr. P. führte in seinem hautärztlichen Gutachten vom 5. April 2016 aus, der Kläger habe eine mäßig helle Haut, die normal bis leicht verlangsamt bräune. Er habe relativ volles Kopfhaar. Zum Schutz vor der Sonnenbestrahlung habe der Versicherte praktisch immer Schutzkleidung und Helm getragen. Im Jahre 2009 sei beim Kläger erstmals ein Basaliom an der linken Wange aufgetreten. Es habe sich um ein infiltrierendes, sklerosedemiformes Basaliom gehandelt, das aufgrund von Rezidiven viermal, zuletzt im Jahre 2015, habe nachgeschnitten werden müssen. Die hohe Anzahl von Rezidivoperationen zeige die starke Krankheitsaktivität des Tumors an. An Nase und Wange bestünden zahlreiche Teleangiektasien als Zeichen einer solaren Belastung der Haut. Im Nacken habe sich eine Vergrößerung der Haut mit Furchenbildung (Cutis rhomboidica nuchae) gezeigt. Die Entstehung der Rezidivbasa­liome des Klägers sei jedoch mit Wahrscheinlichkeit auf die mehr als 30-jährige Tätigkeit als Starkstromelektriker im Freien zurückzuführen. Allerdings sei ein Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit im Freien und der Entstehung der Basaliome versicherungsrechtlich bis jetzt nicht anerkannt. Nach der wissenschaftlichen Begründung des ÄSVB reichten die vorliegenden Indizien und Erkenntnisse nicht aus, um die Anforderungen des Gesetzgebers zur Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten zu erfüllen. Hier seien weitere Forschung zur Ermittlung und Bewertung der Risikofaktoren notwendig. Bei Basaliomen seien mit Wahrscheinlichkeit sowohl UV-Exposition in der Kindheit (einschließlich Sonnenbrände) als auch die lebenslange UV-Exposition von Bedeutung. Daher sei das Basaliom bisher noch nicht als Berufskrankheit bei UV-Exposition anerkannt.

Uneinheitliche Studienlage?

Mit Bescheid vom 24. Mai 2016 lehnte die Beklagte es ab, die Erkrankung des Klägers als BK Nr. 5103 und mit Bescheid vom 29. Juli 2016 als Wie-BK anzuerkennen. Bisher lägen keine neuen, wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse darüber vor, dass Outdoor-Worker durch ihren beruflichen Kontakt gegenüber natürlicher UV-Strahlung in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung an BZK erkrankten. Die Studienlage sei uneinheitlich. Nach dem aktuellen Sachstand empfehle der Spitzenverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) nicht die Anerkennung eines Basalioms nach UV-Einwirkung. Mit ähnlicher Begründung wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 12. Januar 2017 vor dem Sozialgericht (SG) Schleswig Klage erhoben. Mit Urteil vom 18.11.2019 hat das SG der Klage stattgegeben. Entgegen der Auffassung der Beklagten lägen die Voraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung des Klägers an BZK wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII vor. Der Kläger sei der Gruppe der Outdoor-Worker zuzurechnen, die in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung der UV-Strahlung ausgesetzt seien. Wissenschaftlich erwiesen sei, dass diese Personengruppe, der der Kläger zweifelsfrei zuzurechnen sei, durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung sonnenbedingter UV-Strahlung ausgesetzt sei.

Die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft seien auch neu im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII. Wie sich aus der Information über das Forschungsprojekt „Durch UV-Strahlung induzierte …“ vom Mai 2016 (s. „Weitere Infos“) ergäbe, habe hinsichtlich des BZK der Nachweis dafür erbracht werden können, dass Personen mit hoher beruflicher Exposition gegenüber natürlicher UV-Strahlung ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko aufwiesen. Personen mit hoher beruflicher UV-Strahlung hätten im Vergleich zu Personen mit mittlerer beruflicher Exposition ein mehr als doppelt so hohes Risiko, an einem BZK zu erkranken. Ein gegenüber früheren Studien weiteres wesentliches neues Ergebnis sei der Nachweis von positiven Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen kumulativer Gesamtexposition gegenüber natürlicher UV-Strahlung und dem Risiko, an einem BZK der Haut zu erkranken. Für die im Rahmen der Studie ermittelte berufliche UV-Exposition ließen sich für das BZK im Gegensatz zur außerberuflichen natürlichen UV-Exposition Verdopplungsdosen ermitteln.

BMAS sieht weiteren Klärungsbedarf

Soweit aus Sicht des BMAS jedoch noch eine Reihe offener Punkte zu klären seien, wie zum Beispiel die Bestimmung der besonders betroffenen Personengruppe und somit die Abgrenzung der beruflichen von der außerberuflichen Exposition und die Frage, wie mit der intermittierenden Strahlung und den verschiedenen Hauttypen umzugehen sei, seien diese offenen Punkte für das vorliegende Verfahren nicht relevant. Zweifellos gehöre der Kläger der Gruppe der Outdoor-Worker an. Intermittierender Strahlung sei der Kläger nicht ausgesetzt gewesen. Am Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen bestünden keine Zweifel. Wie sich aus den Berechnungen der Präventionsabteilung der Beklagten ergeben habe, sei der Kläger aufgrund der bereits im Jahre 2016 festgestellten Lebenszeitbestrahlung einer beruflichen solaren UV-Strahlenexposition von insgesamt 5813 SED ausgesetzt gewesen, so dass die berufliche UV-Exposition mindestens einen Anteil von 40 % der privaten UV-Exposition erreicht habe.

Die individuellen Voraussetzungen für die Feststellung der Erkrankung des Klägers an BZK als Wie-BK lägen in der Person des Klägers nach dem Gutachten Prof. Dr. Dr. P. vor. Da der Kläger laut Gutachten des Prof. Dr. Dr. P. über relativ volles Kopfhaar verfüge, bei der Arbeit einen Helm trage und am Körper durch Kleidung geschützt sei, liege das Auftreten beruflich bedingter Lichtschädigungen im ungeschützten Gesicht nahe. Die Hauterscheinungen in Form von zahlreichen Teleangiektasien an Nase und Wangen und einer Vergröberung der Haut mit Furchenbildung im Nacken sowie auch die BZK bestünden in Bereichen, die der unmittelbaren UV-Strahlung ungeschützt überwiegend ausgesetzt gewesen seien.

Mit ihrer Berufung hatte die Beklagte argumentiert, es fehle zur Anerkennung an den „neuen gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen“. Der ÄSVB beim BMAS habe seine Beratungen zur beruflichen Verursachung von BZK durch UV-Strahlung noch nicht abgeschlossen. Die Auswertung der Studien obliege letztendlich dem ÄSVB beim BMAS und könne nicht auf den einzelnen UV-Träger oder gar den Kläger „heruntergebrochen“ werden. Solange noch Beratungen in den angegebenen Gremien stattfänden, käme eine Anerkennung als „Wie-BK“ nicht in Frage. Dies gebiete letztlich auch der Gleichbehandlungsgrundsatz.

Der Kläger verteidigte das angefochtene Urteil und sah nach den von der DGUV selbst beauftragten, finanzierten und veröffentlichten Forschungsergebnissen des Projekts-Nr. FB 181, Teil 2, völlig unstreitig neue Erkenntnisse zum BZK nach beruflicher UV-Exposition vorliegen. So werde ausgeführt: „Für das BZK brachte die durchgeführte Studie neue Erkenntnisse. Neben einer Risikoverdopplung beim Vergleich von hoch und mittelstark beruflich exponierten Personen konnte eine Dosis-Wirkungs-Beziehung mit entsprechender Verdopplungsdosis nachgewiesen werden. Dies sollte Anregungen geben, über eine mögliche Aufnahme von Basalzellkarzinomen der Haut durch natürliche UV-Strahlung als neue Berufskrankheit in die bisherige BK-Liste in den zuständigen Gremien zu diskutieren.“

Wissenschaftlicher Erkenntnisstand entscheidend

Der Kläger betonte, für die Entscheidung nach § 9 Abs. 2 SGB VII komme es nicht darauf an, ob die DGUV oder der ÄSVB beim BMAS neue (rechtliche) Erkenntnisse haben. Entscheidend sei nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift der Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft. Die Beklagte verwechsle zudem das Vorhandensein neuer medizinischer Erkenntnisse mit der rechtlichen Umsetzung dieser Erkenntnisse durch die genannten Gremien. Es sei ratio legis des § 9 Abs. 2 SGB VII und zentraler Zweck dieser Vorschrift, dass bei Vorliegen neuer Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft sowie verzögerter rechtlicher Umsetzung beim Verordnungsgeber die Entscheidungskompetenz und -verpflichtung auf den einzelnen Unfallversicherungsträger übergehe.

Wenn die Beklagte letztlich die Frage der Gleichbehandlung anspreche, so sei diese sicherlich nicht davon abhängig, dass ein Verein des privaten Rechts, die DGUV, eine Empfehlung ausspreche. Die öffentlich-rechtlichen Hoheitsträger der Unfallversicherungsträger würden von dieser Meinung weder präjudiziert, noch entfalte die Meinung der DGUV für den Träger oder dessen Einzelfälle eine Bindungswirkung. Die UV-Träger blieben vielmehr mit oder ohne Empfehlung in ihren Einzelfallentscheidungen frei. Ein Problem der Gleichbehandlung der Versicherten sei da schon viel eher, dass die Beklagte dem Kläger die Entscheidung nach § 9 Abs. 2 SGB VII in seinem Einzelfall auf unabsehbare Zeit verwehren wolle, obgleich nach den Veröffentlichungen der DGUV bereits in mindestens zwölf gleichgelagerten Fällen Anerkennungen des BZK nach § 9 Abs. 2 SGB VII erfolgt seien.

Erkenntnisse der Dresdner Multicenterstudie

Überdies seien die in der Berufungsbegründung geäußerten Zweifel der Beklagten am Vorliegen neuer gesicherter Erkenntnisse spätestens seit der am 10. September 2020 veröffentlichten Dresdner Multicenterstudie ausgeräumt. In dieser von der DGUV geförderten Multicenterstudie unter der Leitung von Prof. Dr. Andrea Bauer, stellv. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Berufs- und Umweltdermatologie der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, hätten die noch offenen Fragen zur beruflichen Verursachung des BZK nunmehr eindeutig geklärt werden können. Die Forschergruppe sei zu folgenden Ergebnissen gekommen: „Teilnehmer mit hoher versus keiner (OR 2,08; 95%-Konfidenzintervall [95%-KI], 24–3,50; p = 0,006) oder versus moderater (OR 2,05; 95%-KI 1,15–3,65; p = 0,015) beruflicher UV-Exposition zeigten ein mehr als zweifach signifikant erhöhtes UV-Exposition-Risiko, BZK an häufig UV-exponierten Körperstellen zu entwickeln. Die multivariate Regressionsanalyse zeige keinen Einfluss des Phototyps oder des histologischen Subtyps auf die Risikoschätzungen. Die Beschränkung der Analyse auf BZK-Fälle an häufig sonnenexponierten Körperstellen hatte keinen Einfluss auf die Risikoschätzungen. Die berufliche UV-Dosis, die zu einem 2-fach erhöhten BZK-Risiko führte, betrug 6126 Standard-Erythemdosen“. Das Risiko, an einem BZK bei beruflich hoch UV-exponierter Haut zu erkranken, sei konsistent verdoppelt worden, unabhängig von histologischem Subtyp, Tumorlokalisation und Fitzpatrick-Phototyp.

Mit seiner Berufungsentscheidung hat der Senat die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, der Kläger habe einen Anspruch auf Anerkennung seiner Erkrankung am Basalzellkarzinom wie eine Berufskrankheit nach § 9 II SGB VII, allerdings bestehe der Anspruch erst ab dem 10. September 2020, weshalb die Klage im Übrigen abzuweisen war.

Voraussetzungen des § 9 II SGB VII

Nach § 9 II SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind (sog. Öffnungsklausel). Sinn des § 9 Abs. 2 SGB VII sei es, ausnahmsweise vom Listensystem abweichen zu können, um solche durch die Arbeit verursachten Krankheiten wie eine BK zu entschädigen, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Liste noch nicht vorhanden waren oder vom Verordnungsgeber nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Die Anerkennung einer Wie-BK knüpfe damit an dieselben materiellen Voraussetzungen an, die der Verordnungsgeber auch nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII für die Aufnahme einer Erkrankung in die Liste zu beachten habe.

Für die Anerkennung einer Krankheit „wie eine Berufskrankheit“ seien demnach folgende Voraussetzungen im Einzelfall zu prüfen: die generelle Eignung der angeschuldigten besonderen Einwirkungen zur Verursachung oder wesentlichen Verschlimmerung der diagnostizierten Erkrankung; die Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer Personengruppe, die den schädlichen Einwirkungen aufgrund ihrer Arbeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt ist als die übrige Bevölkerung sowie neue, allgemein anerkannte medizinische Erkenntnisse zur Entstehung der Erkrankung. Der Versicherungsfall träte dann nach § 9 Abs. 2 und 2a Nr. 2 SGB VII rückwirkend mit dem Beginn der Erkrankung, aber nicht vor dem Tag ein, an dem die neuen Erkenntnisse vorlagen oder der Beschluss des ÄSVB erfolgte.

Neue Erkenntnisse am 10.09.2020 gesichert

Gemessen daran seien die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Wie-BK erst ab dem 10. September 2020 erfüllt. Der Kläger leide mit dem BZK an einer Krankheit, die nicht in der Berufskrankheitenliste bezeichnet sei. Die zur Anerkennung notwendigen gesicherten neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft lägen seit 10. September 2020 vor.

Auch wenn die ultraviolette (UV-)Strahlung als ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung von BZK angesehen werde, habe der den Verordnungsgeber beratende ÄSVB bis zur Veröffentlichung seiner wissenschaftlichen Begründung im August 2013 zur Einführung der BK-Nr. 5103 keine abschließende Aussage über einen Zusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Belastung mit UV-Strahlung und der Entstehung dieser Form des Hautkrebses machen können. Zu diesem Zeitpunkt wäre die epidemiologische Erkenntnislage zum Abschluss dieser Beratungen noch nicht ausreichend gewesen. Die Arbeitsgruppe zur Überarbeitung der Bamberger Empfehlung habe ebenfalls noch keine ausreichenden neuen Erkenntnisse über den Wirkungszusammenhang mit der arbeitsbedingten UV-Strahlenexposition feststellen können.

Die noch als offen formulierten Fragen wären maßgeblich für die tenorierte Anerkennung als Berufskrankheit mit der Veröffentlichung der Studie unter der Leitung von Prof. Bauer am 10. September 2020 geklärt worden. Insofern sei nach einer arbeitsmedizinischen und rechtlichen Bewertung inzwischen von einer „BK-Reife“ auszugehen. Als Folge hiervon sei der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 2 SGB VII eröffnet. Die Studie unter der Leitung von Prof. Bauer zeige, dass das Risiko, an einem Basalzellkarzinom bei beruflich hoch UV-exponierter Haut zu erkranken, konsistent verdoppelt werde, unabhängig von histologischem Subtyp, Tumorlokalisation und Fitzpatrick-Phototyp. Dabei habe die berufliche UV-Dosis, die zu einem zweifach erhöhten Basalzellkarzinomrisiko führe, bei 5870,5 Standard-Erythemdosen bestanden. Die fehlenden Erkenntnisse früherer Studien seien nach Überzeugung des Senats durch die Studie überwunden.

An der grundsätzlichen Geeignetheit der solaren UV-Strahlung, BZK zu verursachen, bestünde schon lange kein wissenschaftlicher Zweifel. Die Dresdner Multicenterstudie kläre die noch offenen Fragen. Sie zeigte für alle untersuchten Einflussgrößen einen hohen Grad an Stabilität und Robustheit. Die Analysen untermauerten die Ergebnisse zur Verdopplung des BZK-Risikos bei Außen­beschäftigten mit hoher beruflicher UV-Exposition (Bauer et al. 2021).

Herrschende Meinung gebildet

Nach der Auswertung der Studie erlaubten diese neuen und allgemein anerkannten medizinische Erkenntnisse die Feststellung der generellen Eignung der angeschuldigten besonderen Einwirkungen der UV-Strahlung bei Beschäftigten, die überwiegend im Freien arbeiten, zur Verursachung oder wesentlichen Verschlimmerung der diagnostizierten Erkrankung des BZK beziehungsweise die Feststellung der Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer Personengruppe, die den schädlichen Einwirkungen aufgrund ihrer Arbeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt ist als die übrige Bevölkerung (Elsner 2021). Für die Annahme gesicherter Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII genüge es zwar nicht, dass einzelne Medizinerinnen und Mediziner die Verursachung von Basalkarzinomen durch UV-Strahlung für plausibel oder wahrscheinlich halten, vielmehr müsse sich eine sogenannte herrschende Meinung im einschlägigen medizinischen Fachgebiet gebildet haben.

Davon könne bei der in Bezug genommenen Studie aufgrund einer Metaanalyse ausgegangen werden. Inzwischen fordere auch die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG) die Anerkennung des BZK als Berufskrankheit für „Outdoor Worker“ unter Verweis auf die Multicenterstudie (Bauer et al. 2020; Ärzteblatt 2020, s. „Weitere Infos“). Gegenstimmen zu der durch Bauer et al. formulierten Erkenntnislage existierten nicht.

Zeitpunkt im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII

Unter dem nach § 9 Abs. 2 SGB VII maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung sei der jeweils letzte Zeitpunkt im Laufe eines Verwaltungsverfahrens oder anschließenden gerichtlichen Verfahrens über eine Anerkennung „wie eine Berufskrankheit“ bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss zu verstehen. Damit sei auch unbedeutend, dass im vorliegenden Fall die neuen medizinischen Erkenntnisse nicht im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorgelegen hätten. Nach § 9 Abs. 2a Nr. 2 SGB VII seien Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, rückwirkend in den Fällen des Absatzes 2 wie eine Berufskrankheit frühestens ab dem Zeitpunkt anzuerkennen, in dem die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorgelegen haben. Die Dresdner Multicenterstudie sei am 10. September 2020 veröffentlicht worden. Ab diesem Zeitpunkt lägen neue gesicherte Erkenntnisse vor.

Zugehörigkeit zu einer Personengruppe

Ebenso ermöglichten die neuen medizinischen Erkenntnisse die Zuordnung des Klägers zu einer Personengruppe, die den schädlichen Einwirkungen aufgrund ihrer Arbeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt ist als die übrige Bevölkerung. Ab 5870,5 SED käme es innerhalb der Berufsgruppe der Hochexponierten zu einer Verdopplung des Risikos, an einem BZK zu erkranken. Der Senat stelle in seiner Beweiswürdigung gemäß § 128 SGG unter Zugrundelegung einer Verhältnisrechnung fest, dass die vom Kläger erreichten, 5813 SED beruflicher Jahresexposition für UV-Strahlung ausgereichend sind, um eine Verdopplung des Risikos zu bewirken. Prof. Dr. Dr. P. habe für den hier zu entscheidenden Fall in seinem Gutachten vom 5. April 2016 überzeugend ausgeführt, dass die Entstehung der Rezidivbasaliome des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf die mehr als 30-jährige Tätigkeit als Starkstromelektriker im Freien zurückzuführen seien.

Keine Sperrwirkung durch Beratung

Dem Anspruch des Klägers stehe nicht eine eventuelle Sperrwirkung dadurch entgegen, dass die Anerkennung von BZK als Berufskrankheit gegenwärtig im ÄSVB diskutiert werde. Zwar habe das Bundessozialgericht entschieden, wenn sich bei den Feststellungen ergäbe, dass sich der Verordnungsgeber erkennbar mit den betreffenden Erkenntnissen befasse und diese als unzureichend für die Einführung einer BK abgelehnt habe, die Anerkennung und Entschädigung einer Krankheit wie eine BK durch Verwaltung und Gerichte ausgeschlossen sei. Allerdings gelte diese Sperrwirkung nicht bei veralteten Beratungen.

Bereits die Auffassung, wonach eine Sperrwirkung im zeitlichen Zusammenhang mit der Befassung eintreten könne, begegne Bedenken. Für eine Sperrwirkung fehle es an gesetzlichen Anhaltspunkten. Allenfalls aus den Gründen der Gewaltenteilung lasse sich eine solche konstruieren.

Ein Rechtsanspruch auf das Tätigwerden eines Verordnungsgebers, hier der Bundesregierung, bestehe nicht. Insofern bestehe auch kein Anspruch gegenüber den Sozial-
gerichten, sich an die Stelle des Verordnungsgebers zu setzen, wie dies bei einer schrankenlosen Anerkennung von Wie-BK‘en der Fall wäre. Hierauf komme es vorliegend nicht an. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne diese Sperrwirkung nur so lange gelten wie die Beratungen aktiv betrieben würden und ein Abschluss der Beratungen innerhalb einer sozial verträglichen Zeitspanne zu erwarten sei. Welche Zeitspannen nun für die jeweiligen Beratungen des Sachverständigenausschusses als noch sozial verträglich anzusehen seien und welche Aktivitäten im Sachverständigenbeirat beziehungsweise bei dem Verordnungsgeber stattfinden müssten, um noch von aktiv betriebenen Beratungen sprechen zu können, sei vom jeweiligen Einzelfall abhängig.

Keine sozial verträgliche Zeitdauer

Die Nachfragen des Senats beim BMAS zum Verfahrensstand und dem unklaren Beratungsstand des Ausschusses führten zu der Bewertung, dass keine Anerkennung in einem sozial verträglichen Zeitraum erwartet werden kann. Im vorliegenden Fall sehe es der Senat auch unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung des BSG nicht als gegeben an, dass der Abschluss der Beratungen im Sachverständigenrat in einer sozial verträglichen Zeitspanne zu erwarten sei. Zu berücksichtigen hierbei sei, dass bereits im Jahr 2013 die Anerkennung des BZK als Berufskrankheit für vorwiegend im Freien arbeitenden Personen diskutiert worden ist. Nach Ausführungen des BMAS vom
6. März 2023 laufen die Beratungen erneut seit März 2017, also seit mehr als sechs Jahren. Sie seien trotz der Studie aus dem Jahr 2020 immer noch nicht abgeschlossen. Diese Studie stelle den aktuellen anerkannten wissenschaftlichen Endpunkt einer Diskussion dar. Einen voraussichtlichen Abschluss der Vorberatungen konnte dem Senat nicht genannt werden, da entsprechende Informationen nicht bestehen. Der mangelnde Zeithorizont gehe zulasten des Verordnungsgebers.

Die sozialverträgliche Dauer bemesse sich nach der gesetzlichen Struktur. Sie bemesse sich nicht nach den gegebenenfalls nachvollziehbaren Bedürfnissen eines Beratungsgremiums, sondern sei zu objektivieren. Vorliegend hätten bereits im Jahr 2013 zahlreiche Anhaltspunkte im Sinne einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit bezüglich der Entstehung von Basalzellkarzinomen infolge beruflich bedingter UV-Exposition bestanden. Diese hätten verifiziert werden müssen, damit weitere Einflussgrößen (u. a. Hauttyp, Exposition in der Kindheit, Dauer der Exposition) auf die Entstehung des Karzinoms verifiziert werden konnten. Die Folge hiervon wäre die mehrfach zitierte Studie gewesen. Spätestens mit Vorliegen der Ergebnisse im Jahr 2020 hätte es wegen der Vorbefassung des Ausschusses und der Klärung lediglich letzter Details einer gerafften Beratung bedurft. Mögliche fehlende Beratungen sperrten die Anerkennung als Wie-BK nicht. Eine erneute Befassung im Rahmen der Vorprüfung, das heißt der kursorischen Vorprüfung, ob ein hinreichender Ursachenzusammenhang bestehe, sei für das vorgesehene Verfahren auf dem Weg zu einer Berufskrankheit nicht mehr akzeptabel. Sechs Jahre im Rahmen einer Vorprüfung, an die sich eine gegebenenfalls mehrjährige Beratung zur Kausalität anschließe, um in einem weiteren Schritt die gruppentypischen Risikoerhöhungen zu ermitteln, seien deutlich zu lang. Die Vorprüfung hätte wegen der vorbestehenden Erkenntnisse im Jahr 2021 abgeschlossen sein müssen, um dann spätestens im ersten Halbjahr 2022 zu einem Beratungsergebnis zu kommen. Würde man eine Sperrwirkung in einer solchen Situation annehmen, hätte es letztendlich der ÄSVB und in dessen Folge der Verordnungsgeber in der Hand, die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII ad absurdum zu führen.

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Bauer A, Haufe E, Heinrich L et al.: Basal cell carcinoma risk and solar UV exposure in occupationally relevant anatomic sites: do histological subtype, tumor localization and Fitzpatrick phototype play a role? A population-based case-control study. J Occup Med Toxicol 2020; 15: 20 (Open Access: doi.org/10.1186/s12995-020-00279-8).

Bauer A, Haufe E, Heinrich L et al.: Neues zum berufsbedingten Hautkrebs – Basalzellkarzinom und solare UV-Exposition. Der Hautarzt 2021; 72: 484–492.

Elsner P: Basalzellkarzinom: Neue Berufskrankheit im Werden. Der Deutsche Dermatologe 2021; 69:102–103.

doi:10.17147/asu-1-342893

Weitere Infos

DGUV: Teil 2 des Forschungs­projekts „Durch UV-Strahlung induzierte bösartige Hauttumore“: Berufliche und außerberufliche Exposition gegenüber UV-Strahlung und Hautkrebs. Projekt-Nr. FF-FB 0181. 05/2016
https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fb_0181.jsp

Basalzellkarzinome: Anerkennung als Berufskrankheit gefordert. Ärzteblatt v. 02.10.2020
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/117036/Basalzellkarzinome-Anerke…

Kernaussagen

  • Basalzellkarzinome von Outdoor-Workern können nach beruflicher UV-Einwirkung von mehr als 5870 SED ab dem 10.09.2020 als Wie-Berufskrankheit anerkannt werden.
  • Der Versicherungsfall einer Wie-BK tritt nach § 9 Abs. 2 und 2a Nr. 2 SGB VII rückwirkend mit dem Beginn der Erkrankung, aber nicht vor dem Tag ein, an dem die neuen Erkenntnisse vorlagen oder der Beschluss des ÄSVB erfolgte.
  • Ab der Veröffentlichung der Dresdner Multicenterstudie unter der Leitung von Frau Prof. Bauer am 10. September 2020 ist für am BZK erkrankte Versicherte mit beruflicher UV-
    Einwirkung der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 2 SGB VII eröffnet.
  • In der Berufsgruppe der Hochexponierten mit einer einer beruflichen UV-Einwirkung von 5.870,5 SED oder mehr ist das Risiko, an einem BZK zu erkranken, verdoppelt.
  • Würde man angesichts der sechsjährigen lediglich kursorischen Vorprüfung, an die sich die in der Dauer noch nicht absehbare Beratung zur Kausalität anschließe, eine Sperrwirkung wegen laufenden Beratungen des ÄSVB annehmen, hätte es letztendlich der ÄSVB und in dessen Folge der Verordnungsgeber in der Hand, die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII ad absurdum zu führen.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

    Foto: privat

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