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Recht

Die PTBS eines Rettungssanitäters als Wie-BK anerkennungsfähig

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Urteil des Bundessozialgerichts vom 22.06.2023 – B 2 U 11/20 R

Post-Traumatic Stress Disorder of a Paramedic Can be Recognized as an Occupational Disease – Judgement of the Federal Social Court of 22.06.2023 – B 2 U 11/20 R

Sachverhalt

Der Kläger begehrt die Feststellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII (Wie-BK).

Der Kläger ist Rettungssanitäter. Im Juli 2016 legte er der Beklagten einen Rehaentlassungsbericht vor, in dem unter anderem eine PTBS festgestellt wurde. Der Bericht führte aus, der Kläger habe im Rettungsdienst viele traumatisierende Erlebnisse gehabt (z. B. Amoklauf, Suizide und andere, das Leben sehr belastende Momente). Gleichzeitig habe er über Personalknappheit und ähnliche ihn belastende Vorgänge in der Rettungswache berichtet. Konkret habe die beschriebene Symptomatik nach zwei Amokläufen begonnen, als der Kläger als Helfer eingesetzt worden sei, sowie nach Suiziden von zwei miteinander befreundeten Mädchen.

Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) auch als Wie-BK ab. Der gegen die Ablehnung der Wie-BK gerichtete Widerspruch sowie die Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Zur Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, es gehe davon aus, dass Rettungssanitäter1 wie der Kläger während ihrer Arbeitszeit einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt seien. Ausreichend gesicherte neue medizinische Erkenntnisse über ein deutlich erhöhtes Risiko bei Rettungssanitätern, eine beruflich verursachte PTBS zu entwickeln, lägen aber ebenso wenig vor wie der Nachweis, dass (allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung insbesondere materiellen Rechts (§ 9 Abs. 2 SGB VII). Der Senat hat nach Stellungnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten beim BMAS (ÄSVB) ein Sachverständigengutachten zum Auftreten und zu Ursachenzusammenhängen einer PTBS in der Berufsgruppe der Rettungssanitäter eingeholt.

Sekundäre Traumatisierung der Rettungssanitäter

Der Sachverständige hat in seinem Gutachten unter anderem festgestellt, dass Rettungssanitäter einer Personengruppe angehörten, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit ein erhöhtes Risiko für die Exposition mit traumatischen Ereignissen habe. Dies könne zu einer sekundären Traumatisierung dadurch führen, dass Rettungssanitäter nicht selbst Opfer, aber berufsbedingt als Zeugen und Helfer in die traumatische Situation anderer Menschen involviert seien. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Häufigkeit der Erkrankung an einer PTBS, das heißt der Prävalenz, spezifisch innerhalb der Gruppe der Rettungssanitäter hätten bislang nicht vorgelegen. Bezüglich des Ursachenzusammenhangs sei für die PTBS die Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne zu bejahen, wenn ein den Diagnosewerken entsprechendes Trauma und eine entsprechende Symptomatik festgestellt werden könnten.

Der Sachverständige hat zeitgleich eine Metaanalyse durchgeführt. Darin gelangten er und weitere Autoren zu der Feststellung, dass die 12-Monats-Prävalenz einer PTBS in der Gruppe der Rettungssanitäter im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fast siebenfach erhöht sei.

Rechtsanspruch auf Anerkennung einer Wie-BK

Der Senat konnte mangels hinreichender Feststellungen zu den individuellen Anerkennungsvoraussetzungen des Klägers nicht abschließend entscheiden, ob er einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung einer PTBS als Wie-BK hat. Er erkannte aber, dass für die PTBS eines Rettungssanitäters als nicht in der Berufskrankheitenverordnung (BKV) enthaltener Erkrankung die allgemeinen Voraussetzungen für ihre Bezeichnung als BK nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII vorlägen. Die zulässige Revision des Klägers sei daher im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Wie-BK ist § 9 Abs. 2 SGB VII. Danach haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern zum Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind. § 9 Abs. 2 SGB VII stellt keinen Auffangtatbestand und keine allgemeine Härtefallregelung dar, um im Einzelfall individuelle Härtelagen auszugleichen. Vielmehr darf die Anerkennung einer Wie-BK nur erfolgen, wenn neben den Voraussetzungen der schädigenden Einwirkungen aufgrund der versicherten Tätigkeit, der Erkrankung und der haftungsbegründenden Kausalität im Einzelfall auch die allgemeinen Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der BKen nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfüllt sind, der Verordnungsgeber die Krankheit also als neue Listen-BK in die BKV einfügen dürfte, aber noch nicht tätig geworden ist. Liegen die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII vor, ergäbe sich ein Rechtsanspruch auf Anerkennung einer Wie-BK, dessen Ablehnung uneingeschränkt gerichtlich überprüfbar sei.

Ermittlungsbefugnis des BSG bei ­generellen Tatsachen

Das Bundessozialgericht (BSG) sei zur Ermittlung der allgemeinen Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, insbesondere der generellen Geeignetheit, befugt und könne daher auch im Revisionsverfahren ein Sachverständigengutachten zu den zugrunde liegenden generellen Tatsachen einholen. Allgemeine (generelle) Tatsachen (Rechtstatsachen) seien dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur für die Rechtsfindung im Einzelfall, sondern für eine Vielzahl von Fällen gleichermaßen bedeutsam seien. Welche Bedeutung ihnen zukomme, könne daher nicht von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht unterschiedlich bewertet werden. Es sei vielmehr Aufgabe des Revisionsgerichts, durch Ermittlung, Feststellung und Würdigung derartiger Tatsachen die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherzustellen und so die Rechtseinheit zu wahren.

Krankheitsbegriff und PTBS

Die PTBS sei eine Krankheit im Sinne des § 9 SGB VII. In der Sozialversicherung umschrieben Rechtsprechung und Literatur Krankheiten auch im BK-Bereich als regel­widrigen Körper- und Geisteszustand. Erforderlich sei, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krankheitsbegriff). Hierzu sei es grundsätzlich notwendig, aber auch ausreichend, dass die Einwirkung über zunächst innerkörperliche Reaktionen oder Strukturveränderungen hinaus zu irgendeiner Funktionsstörung führe.

Die PTBS sei fester Bestandteil der anerkannten und gängigen Diagnosewerke (ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, WHO; DSM = Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, APA). Sie äußere sich in unterschiedlichen, indes auch eingegrenzten Symptomen, die ihrerseits für die Diagnose positiv festgestellt werden müssten. Die Vielfalt der Symptome einer PTBS hindere die Einordnung der PTBS als Krankheit im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII nicht.

Einwirkungen auf die Personengruppe

Die Personengruppe der Rettungssanitäter sei durch die versicherte Tätigkeit besonderen Einwirkungen in Gestalt traumatisierender Ereignisse in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Die positive Feststellung dieser Voraussetzung erfordere in einem ersten Schritt die Ermittlung der Einwirkungen innerhalb der betroffenen Personengruppe, in einem weiteren Schritt die Zurechnung zur versicherten Tätigkeit und Einwirkungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung in erheblich höherem Maße.

Dazu habe das Landessozialgericht (LSG) festgestellt, dass Rettungssanitäter einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt seien. Insoweit bestätige auch der Sachverständige D. in seinem Gutachten vom 19.06.2022, dass Rettungssanitäter während ihrer beruflichen Tätigkeit auch tatsächlich unter anderem potenziell traumatisierenden Erfahrungen in Gestalt erfolgloser Rettungsmaßnahmen, der Bergung von Schwerverletzten oder Unfalltoten, des Auffindens von Suizidenten und insbesondere des Auffindens und Bergens von Kindern ausgesetzt seien. Zu berücksichtigen sei auch, dass Rettungssanitäter regelmäßig als Ersthelfer in direkten und unverfälschten Kontakt mit schwerverletzten, verstümmelten oder sterbenden Menschen und der entsprechenden Auffindesituation gelangten und so dramatischen und schockierenden Eindrücken potenziell ausgesetzt seien. Es sei damit in der Gesamtschau für den Senat ohne Zweifel, dass die Personengruppe der Rettungssanitäter psychischen Einwirkungen in Form des wiederholten Erlebens von potenziell traumatisierenden Geschehnissen ausgesetzt sei.

Die versicherte Tätigkeit der Rettungssanitäter – wie hier – als Beschäftigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII führe zwangsläufig zu einem Kontakt mit den beschriebenen Einwirkungen, so dass diese ihr zuzurechnen seien. Sie seien den benannten Einwirkungen in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Es komme dafür auf einen Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung an. Zu berücksichtigen seien Einwirkungen, denen die übrige Bevölkerung nicht ausgesetzt ist, weil dies zwangsläufig ein Ausgesetztsein in erheblich höherem Grade nach sich ziehe. Das Ausmaß, in dem Rettungssanitäter in ihrer versicherten Tätigkeit potenziell traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt seien, übersteige das zu vergleichende Ausmaß innerhalb der allgemeinen Bevölkerung deutlich. Die Feststellung der „Erheblichkeit“ erfordere nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII keinen zu ermittelnden Grenzwert etwa im Sinne einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos.

Generelle Eignung der psychischen Einwirkung

Über die generelle Geeignetheit im Sinne einer Einwirkungs- und Verursachungsbeziehung zwischen der auch wiederholten Wahrnehmung von traumatisierenden Ereignissen und der Entstehung einer PTBS lägen medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Die Einwirkungen, denen die Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit ausgesetzt sei, müssten abstrakt-generell nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft Ursache einer Erkrankung der geltend gemachten Art sein. Der Feststellung einer tatsächlich erhöhten Prävalenz innerhalb der versicherten Personengruppe bedürfe es hierfür nicht. Jedenfalls für die PTBS leite sich der abstrakt-generelle Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung aus den anerkannten Diagnosewerken sowie den aktuellen Leitlinien zur Klassifizierung psychischer Erkrankungen ab und sei für die Personengruppe der Rettungssanitäter zu bejahen.

Abstrakte Eignungsfeststellung

Die generelle Geeignetheit im Sinne des generellen Ursachenzusammenhangs zwischen den Einwirkungen und der Krankheit beurteile sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft. Die Feststellung unterscheide sich aufgrund der hierfür maßgeblichen Abstraktheit von der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität beim einzelnen Arbeitsunfall oder der Listen-BK im Einzelfall. Dennoch gelte auch insofern die Theorie der wesentlichen Bedingung. Insoweit müsse auch hier die naturwissenschaftliche/naturphilosophische Kausalitätsprüfung erfolgen. Es müsse mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, bestimmte Krankheiten zu verursachen. Entsprechende Erkenntnisse lägen in der Regel vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt sei. Hierbei müsse es sich um gesicherte sowie im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Erkenntnisse handeln.

Diese Erkenntnisse würden aufgrund der regelmäßig multifaktoriellen Ursache von Krankheiten oftmals erst durch statistisch-epidemiologische Studien zu erlangen sein. Insoweit treffe die Annahme der Beklagten zu, dass der „wissenschaftliche Goldstandard“ zur Ermittlung von Kausalitäten kontrollierte und prospektive Studien in definierten Stichproben mit definierten Kontrollgruppen seien, in denen eine Vielzahl von intervenierenden Variablen kontrolliert werde. Die wissenschaftlichen Fachdisziplinen seien indes rechtlich nicht an diese Erkenntnisquelle gebunden, sie seien nur eine von mehreren Methoden zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Liege umfangreiches Zahlenmaterial aus verschiedensten Veröffentlichungen vor, lasse sich unter Umständen bereits hieraus die generelle Geeignetheit erkennen.

Erhöhte Prävalenz nicht zwingend

Dem stehe nicht entgegen, dass der Verordnungsgeber bestimmte Einwirkungsdosen – mit einer damit verbundenen tatsächlichen Kausalitätsvermutung im Einzelfall – als Voraussetzung in den Tatbestand einer BK aufnehmen könne, wenn nur bei deren Erreichen die generelle Geeignetheit im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Beziehung wissenschaftlich gesichert sei. Gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft für die rechtliche Anerkennung einer Wie-BK erfordern danach nicht stets eine Absicherung durch die Feststellung einer erhöhten Prävalenz. Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck nach ließen sich der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII belastbare Hinweise dafür entnehmen, dass die rechtliche Anerkennung einer Wie-BK stets die Feststellung einer erhöhten Prävalenz erfordere, die Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit im Vergleich zur übrigen Bevölkerung also häufiger auftreten muss. Der Senat stelle insoweit klar, dass er an anderslautender früherer Rechtsprechung nicht ohne Ausnahme festhalte.

Expositionsspezifische ­Risikoerhöhung

Bereits der Wortlaut des von § 9 Abs. 2 SGB VII in Bezug genommenen § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII stelle nicht auf die Häufung einer Erkrankung innerhalb einer bestimmten Personengruppe ab, sondern auf einen erhöhten Einwirkungsgrad. Damit komme es auf ein generelles Gefährdungspotenzial der versicherten Tätigkeit an (expositionsspezifische Risikoerhöhung), nicht aber auf die erhöhte Realisierung dieser Gefahr (vgl. hierzu auch den Wortlaut des Vermutungstatbestandes von § 9 Abs. 3 SGB VII). Für die Entbehrlichkeit einer gesicherten Erkrankungshäufung spreche auch der Sinn und Zweck der Voraussetzung der generellen Geeignetheit in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII. Dieser liege in der Feststellung des wissenschaftlich gesicherten abstrakt-generellen und damit allgemeinen Ursachenzusammenhangs. Zwar sei bei einem erhöhten Krankheitsauftreten innerhalb einer bestimmten versicherten Personengruppe eine entsprechende Korrelation mit konkret festgestellten Einwirkungen naheliegend. In solch einem Fall könnten dann möglicherweise vereinfachte Anforderungen an den sonst strengen Nachweis der Einwirkung und der Erkrankung gestellt werden.

Die positive Erkenntnis einer tatsächlichen Krankheitshäufung sei demgegenüber nicht zwingende Voraussetzung. Setze eine Krankheitsdiagnose nämlich nach den jeweils aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen bereits im Ansatz hinreichend geeignete und insoweit monokausale Einwirkungen von besonderer Qualität voraus, beruhe diese Diagnose ihrerseits auf hinreichend gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen. In diesen Fällen sei das Ziel der Gewissheit über die generelle Eignung auch ohne weitere gruppenbezogene Erhebungen erreicht. Der Verzicht auf das zwingende Erfordernis einer Prävalenz stelle insoweit auf normativer Ebene sicher, dass der Präventionsauftrag der Unfallversicherungsträger (§ 3 Abs. 1 Satz 1 BKV) nicht ins Leere laufe.

Umgekehrt schließe der Verzicht auf das zwingende Erfordernis einer Krankheitshäufung im Einzelfall Lücken im Versicherungsschutz und stellt auf diese Weise Einzelfallgerechtigkeit sicher, auf die § 9 Abs. 2 SGB VII jenseits einer Härtefallregelung gerade abziele. So habe der Senat schon in seinen früheren Urteilen auf eine Krankheitshäufung regelmäßig nicht tragend abgestellt und nicht deswegen die Anerkennung einer Wie-BK abgelehnt.

Erkenntnisquelle Diagnosewerke

Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten sich auch aus den internatio­nal anerkannten Diagnosewerken der ICD und des DSM oder aus den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) ergeben. Die Inhalte der ICD und des DSM beruhten auf einem jeweiligen Konsens innerhalb der betroffenen medizinischen Wissenschaften und deren Vertreter. Gleiches gelte für die jeweiligen Leitlinien der AWMF, sofern sie zumindest die Entwicklungsstufe einer konsentierten Begutachtungsleitlinie (Stufe S2) aufwiesen.

Das ICD stelle ein weltweit anerkanntes System dar, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Das DSM sei ein auf psychische Störungen begrenztes Klassifikationssystem, das im Vergleich zum ICD stärker operationalisiert sei. Der Senat habe hierzu bereits festgestellt, dass insbesondere das DSM-V den repräsentativen aktuellen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie darstelle. Jedenfalls für die Erkrankung an einer PTBS sei der generelle Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-medizinischen Sinn anhand dieser Erkenntnisquellen zu bejahen. Nach dem allgemeinen Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft komme Ereignissen, die die Traumakriterien des DSM-V (oder der ICD-10/-11 oder der qualifizierten AWMF-Leitlinie) erfüllten, für die naturwissenschaftlich-medizinische Ursachenbeziehung mit den Symptomkri­terien und damit der abschließenden Diagnose PTBS eine herausgehobene Bedeutung zu. Denn die isoliert betrachteten unspezifischen Symptomkriterien würden erst durch ihre Verknüpfung mit einem geeigneten traumatischen Erlebnis zu einer als solche zu diagnostizierenden PTBS als Traumafolgestörung. Kämen mithin ohne ein geeignetes Trauma nur andere Traumafolgestörungen in Betracht, so rechtfertige umgekehrt die positive Feststellung eines geeigneten Traumas bei Vorliegen entsprechender Symptomkriterien den Rückschluss auf einen (damit monokausalen) Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-medizinischen Sinn.

Keine abstrakte Wesentlichkeits­prüfung

Hieraus ergebe sich zugleich, dass eine (weitere) Prüfung zur generell rechtlichen Wesentlichkeit der Ursächlichkeit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht erfolgt. Diese Wesentlichkeit würde für die PTBS bereits begrifflich unterstellt und bedürfe im Rahmen der abstrakten Prüfung
einer Wie-BK keiner weiteren eigenständigen Prüfung des Ursachenzusammenhangs im juristischen Sinne. Der Senat sei nicht gehindert, solche Erkenntnisse über generelle Kausalzusammenhänge heranzuziehen, denn sie stellten gerade die für die generelle Geeignetheit zu fordernden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse dar. Insoweit habe der Senat bereits in der Vergangenheit grundlegend ausgeführt, dass dann, wenn „eine bestimmte Diagnose ein Ereignis einer bestimmten Schwere voraussetze, von einem entsprechenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auszugehen sein“ werde.

Davon zu unterscheiden sei die recht­liche Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität im Einzelfall. Daher ergebe sich mit der hier vorzunehmenden Beurteilung auch kein Widerspruch zu der in der Literatur geäußerten Kritik an einer Heranziehung der Diagnosesysteme für die Beurteilung des rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhangs. Nach dem im DSM-V wiedergegebenen wissenschaftlich konsentierten Erfahrungssatz, der durch das ICD sowie die maßgebliche Begutachtungsleitlinie der AWMF gestützt werde, entspreche es dem aktuellen Erkenntnisstand, dass eine PTBS generell auch durch mehrere Ereignisse ausgelöst werden könne. Geeignet seien zu­dem die Beobachtung traumatischer Ereignisse an anderen Personen, zum Beispiel in Form drohender oder ernsthafter Verletzung, unnatürlicher Todesfälle, häuslicher Gewalt, Unfall oder Naturkatastrophe, ohne Selbstbetroffenheit des Beobachters (vgl. DSM-V F 43.10, Traumakriterium A.2: „Persönliches Erleben, eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse bei anderen Personen“, Traumakriterium A.4: „Die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen (z. B. Ersthelfer, die menschliche Leichenteile aufsammeln, oder Polizisten, die wiederholt mit schockierenden Details von Kindesmissbrauch konfrontiert werden)“.

Soweit der Senat in seiner früheren Entscheidung vom 20.07.2010 (B 2 U 19/09 R – juris Rd.Nr. 26) mit Bezug auf das Opferentschädigungsrecht nicht tragend ausgeführt habe, dass es im Fall der Beobachtung eines traumatischen Ereignisses an anderen Personen einer engen personellen Beziehung zum Opfer bedürfe, werde zu Recht darauf hingewiesen, dass dies nur für den Fall des „Erfahrens“ des Ereignisses im Sinne der Information durch Dritte darüber gelten könne.

Einer bestimmten „Dosis“ an Einwirkungen bedürfe es nach den Diagnosekriterien nicht. Bereits ein einmaliges Ereignis könne bei geeigneter Schwere eine PTBS auslösen, die dann indes einen Arbeitsunfall (§ 8 SGB VII) begründen könnte. Die wiederholte Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen, die in der Summe eine PTBS begründen, sei dagegen dem Bereich der BKen zuzuordnen. Dabei fehlten in den maßgeblichen Diagnosewerken Hinweise darauf, dass dies nur dann der Fall sein soll, wenn diese Erlebnisse eine bereits vorbestehende PTBS („Indextrauma“) reaktivieren oder in ihrer Ausprägung verstärken.

Keine Prüfung des Verordnungsgebers

Die Erkenntnisse über das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII seien neu im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII. „Neu“ seien medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse auch dann, wenn sie zum Zeitpunkt der letzten Änderung der BKV zwar vorhanden, dem Verordnungsgeber aber noch nicht bekannt waren. Ebenso verhalte es sich, wenn der Verordnungsgeber sie noch nicht geprüft und gewürdigt oder die Aufnahme der Krankheit in die BKV nicht bewusst abgelehnt habe. Das Untätigbleiben des Verordnungsgebers nach Vorliegen neuer Erkenntnisse stehe einer (bewussten) Ablehnung nicht gleich.

Hier lägen die Erkenntnisse basierend auf dem DSM-V bereits seit dessen Gültigkeit in Deutschland ab 2013 vor und waren damit im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung objektiv
bereits „alt“, weil die letzte Änderung der BKV durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der BKV vom 29.06.2021 mit Wirkung vom 01.08.2021 erfolgte. Indes läge bis dahin keine Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme einer PTBS bei Rettungssanitätern in die BKV vor. Zuletzt habe das BMAS mit Schreiben vom 02.11.2021 gegenüber dem Senat bestätigt, dass der das BMAS beratende ÄSVB die PTBS bei Rettungssanitätern nicht (einmal) in die Vorprüfung aufgenommen habe. Der im Sinne des §9 Abs. 1 BKV maßgebliche Verordnungsgeber habe sich daher bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu keinem Zeitpunkt mit dem sich aus den Diagnosesystemen ableitbaren Ursachenzusammenhang auseinandergesetzt beziehungsweise eine Anerkennung oder Ablehnung der PTBS als (Listen-)BK bei Rettungssanitätern geprüft.

Zurückverweisung zur Individual­prüfung

Das LSG werde im weiteren Verfahren zu prüfen haben, ob in der Person des Klägers auch die individuellen Voraussetzungen für die Feststellung einer PTBS als Wie-BK vorliegen. Dies erfordere die Feststellung von Art und Umfang geeigneter traumatisierender Einwirkungen, denen der Kläger in seiner versicherten Tätigkeit ausgesetzt gewesen ist, ferner die Feststellung des Vorliegens einer PTBS sowie die Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität. Die Ermittlung der beruflich bedingten traumatisierenden Erlebnisse sei auch deswegen bedeutsam, um sie je nach Verursachungsbeitrag gegebenenfalls entweder dem Versicherungsfall des Arbeitsunfalls (§ 8 SGB VII) oder der hier gegenständlichen Wie-BK (§ 9 Abs. 2 SGB VII) zuzuordnen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

doi:10.17147/asu-1-364954

Kernaussagen

  • Für Rettungssanitäter liegen die allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung der ­Erkrankung an einer PTBS als Wie-BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII vor.
  • Die Personengruppe der Rettungssanitäter ist im Rahmen ihrer versicherten beruflichen ­Betätigung besonderen Einwirkungen in Gestalt potenziell traumatisierender Ereignisse in ­erheblich höherem Grad als die Allgemeinbevölkerung ausgesetzt.
  • Für die Anerkennung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII ist nicht zwingend ­erforderlich, dass eine Personengruppe im Vergleich zur Gesamtbevölkerung tatsächlich im erhöhten Maße an der betreffenden Krankheit leidet (erhöhte Prävalenz).
  • § 9 Abs. 2 SGB VII stellt nicht auf eine Häufung der Erkrankung, sondern auf einen erhöhten Einwirkungsgrad ab. Damit kommt es auf ein generelles Gefährdungspotenzial der versicherten Tätigkeit an (expositionsspezifische Risikoerhöhung), nicht aber auf die erhöhte Realisierung dieser Gefahr.
  • Die generelle Geeignetheit im Sinne eines abstrakt-generellen Ursachenzusammenhangs ­zwischen Einwirkungen und Erkrankung kann auch anhand der international anerkannten ­Diagnosewerken (International Classification of Disease, ICD, und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder, DSM, sowie die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften e. V., AWMF) beurteilt werden.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

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