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Sozialmedizin

Praktische Sozialmedizin am Beispiel des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit

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Practical Social Medicine Using the Example of the Medical Service of the Federal Employment Agency

Trotz ihrer medizinischen und sozioöko­nomischen Bedeutung bewegt sich die Sozialmedizin in „normalen“ (z. B. nicht-pandemischen) Zeiten in der Regel unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung; am ehesten noch wird sie von direkt Betroffenen als Amts- und Versicherungsmedizin wahrgenommen. Tatsächlich sind viele Medizinerinnen und Mediziner mit der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin (ca. 9250 im Jahr 2022; Bundesärztekammer 2022) in Deutschland überwiegend gutachterlich tätig, zum Beispiel bei den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, dem Medizinischen Dienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, im Bereich der Versorgungsverwaltung sowie im Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Der Sozialmedizin haftet – im Vergleich zu den kurativen Disziplinen – noch immer der Makel einer minderen Bedeutung an; nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung, auch innerhalb der medizinischen Profession. Dabei stellt eine (möglichst) langjährige Tätigkeit und Erfahrung in der kurativen Medizin eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine kompetente sozialmedizinische Begutachtung dar – neben einem breiten Wissen um die Lebenswirklichkeiten in der Gesellschaft und zumindest Grundkenntnissen in den Bereichen der oben genannten Nachbardisziplinen.

Die Entscheidung, sozialmedizinisch gutachterlich tätig zu werden, fällt typischerweise auf dem Boden langer Erfahrungen in der kurativen Medizin, als Weichenstellung hin zu einer individuell wie gesellschaftlich als sinnvoll und relevant erkannten neuen Aufgabe (Nüchtern et al. 2015). Hierbei werden nicht nur der Inhalt der Aufgaben, sondern häufig auch die Rahmenbedingungen der gutachterlichen Tätigkeit als befriedigend erlebt. Begutachtende in der Sozialmedizin können und sollen durch ihre Stellungnahmen dazu beitragen, dass Kundinnen und Kunden der BA individuell maßgeschneiderte Leistungen erhalten. Sie tragen weiterhin dazu bei, nicht erforderliche oder nicht Erfolg versprechende Leistungen zu benennen und damit Risiken für das Individuum sowie unnötige Kosten für die Gesellschaft (aus Versichertenbeiträgen und Steuergeldern) abzuwenden. Neben individueller Begutachtung und Beratung können Sozialmedizinerinnen und -mediziner die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme durch Systemberatungen ihrer Auftraggeber mitgestalten.

Der Ärztliche Dienst (ÄD) der Bundesagentur für Arbeit

Die BA stellt eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung dar; als größte Bundesbehörde waren 2023 etwa 113.000 Mitarbeitende beschäftigt. Der Zentrale der BA in Nürnberg nachgeordnet sind zehn Regionaldirektionen sowie 150 Agenturen für Arbeit mit ca. 600 Niederlassungen. 301 Jobcenter sind als gemeinsame Einrichtungen (nach §44b SGB II) von den Agenturen für Arbeit vor Ort zusammen mit den kreisfreien Städten beziehungsweise Landkreisen gebildet worden; 104 Jobcenter befinden sich bei zugelassenen kommunalen Trägern in der alleinigen Verantwortung der Kommunen.

Drei Fachdienste unterstützen die Fachkräfte der Agenturen für Arbeit in ihrer Aufgabenerledigung. Die Jobcenter können als gemeinsame Einrichtungen die Fachdienste der Agenturen im Rahmen von Dienstleistungsverträgen optional in Anspruch nehmen. Neben dem Ärztlichen Dienst (ÄD) sind dies der Berufspsychologische Service (BPS) sowie der Technische Beratungsdienst (TBD).

Kernaufgaben des BPS umfassen die Mitwirkung im Rahmen beruflicher Beratung und Vermittlung in Arbeits- oder Ausbildungsstellen; so erfolgen beispielsweise standardisierte Eignungsuntersuchungen zur Abklärung von Fähigkeitsprofilen und Empfehlungen bezüglich eines adäquaten (und falls erforderlich unterstützenden) Ausbildungsrahmens. Häufig erfolgt die Einschaltung des BPS nach initialer Abklärung der medizinischen Leistungsfähigkeit durch den ÄD.

Die Mitarbeitenden (Ingenieurinnen/In­genieure) des TBD unterstützen unter anderem die passgenaue Ausstattung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen. Auch hier finden sich Schnittstellen zur Tätigkeit des ÄD; beispielweise die Beratung in Bezug auf eine behinderungsgerechte Kfz-Hilfe, nachdem vom ÄD die medizinische Notwendigkeit zum Erreichen oder Erhalt einer beruflichen Integration evaluiert worden ist.

Struktur und Kennzahlen des ÄD

Der Ärztliche Dienst der BA umfasst bundesweit etwa 350 festangestellte ärztliche Mitarbeitende unterschiedlicher Fachrichtungen (Bundesagentur für Arbeit 2024). Die Mehrheit der hauptamtlichen ärztlichen Mitarbeitenden verfügt über mindestens eine Facharztbezeichnung; als Mindestanforderung ist eine vierjährige klinische Tätigkeit festgelegt. Bei Kapazitätsengpässen wird auf externe Vertragsärztinnen und -ärzte zurückgegriffen. Diese verfügen in der Regel über eine breite Erfahrung in ihrem Fachgebiet und gutachterliche Vorerfahrungen; sie erhalten innerhalb des ÄD zusätzlich eine strukturierte Einarbeitung. Ihre Gutachtenprodukte unterliegen einer standardisierten und regelmäßigen internen Produktprüfung. Für besondere Fragestellungen (z. B. komplexe psychiatrische Sachverhalte) können bei Bedarf externe Fachärztinnen und -ärzte beauftragt werden.

Das ärztliche Personal des ÄD wird in seinen Aufgaben von nicht-ärztlichen Mitarbeitenden unterstützt. Analog zum ärztlichen Bereich finden sich beim Assistenzpersonal häufig berufliche Quereinsteiger, die zuvor im kurativ-medizinischen Bereich (z. B. als Medizinische Fachangestellte) oder in einer administrativen Bürotätigkeit (z. B. in anderen Bereichen der BA) tätig waren.

In der Zentrale in Nürnberg befassen sich zwei Fachbereiche mit Managementaufgaben und sozialmedizinischen Dienstleistungen. Die zweite organisatorische Ebene bilden fünf Regionalverbünde ab, und schließlich sind die 150 Dienststellen des ÄD in 39
Agenturverbünden zusammengefasst.

Für jedes Jahr werden im Rahmen eines sogenannten Service Level Agreement Plan­zahlen für das zu erwartende Auftragsvolumen des ÄD festgelegt; der Umfang bewegt sich jährlich in einer Größenordnung von 500.000 „Inhaltlichen Auftragsabschlüssen“ (= sozialmedizinische Stellungnahmen, mit und ohne Kundenkontakt). Zusätzlich zu den Begutachtungen bietet der ärztliche Dienst Beratungsgespräche für Mitarbeitende an, die bei der Beurteilung der Gesundheit von Kundinnen und Kunden mit unklarem Krankheitsbild unsicher sind. Von diesen sogenannten Beratungsvermerken wurden bundesweit im Jahre 2016 insgesamt 28.700 geleistet; im Jahr 2021 waren es 42.200.

Während der Corona-Pandemie kam es zu einem Rückgang im Anteil der Auftragsgutachten für die Jobcenter durch den ÄD. Dies kann unter anderem möglicherweise damit erklärt werden, dass viele Kundinnen und Kunden (und damit ihre potenziellen gesundheitlichen Probleme) insbesondere in den Lockdown-Phasen nicht mehr persönlich in den Jobcentern gesehen wurden und in der Folge keine Begutachtung durch den ÄD zur Beauftragung kam.

Insgesamt wurden vor der Pandemie im Jahr 2016 rund 170.000 Menschen persönlich begutachtet; im Jahr 2021 waren es nur rund 26.200; dafür stieg die Anzahl der Begutachtungen ohne Kundenkontakt von 292.000 im Jahr 2016 auf 425.000 im Jahr 2021 (Lotz-Metz et al., eingereicht 2024).

Aufgaben des Ärztlichen Dienstes

Der ÄD leistet als Fachdienst einen Beitrag zur Erreichung der geschäftspolitischen Ziele der BA. In der Hauptsache besteht dieser Beitrag in der Unterstützung einer nachhaltigen Integration von gesundheitlich beeinträchtigen Menschen in den Allgemeinen (oder ersten) Arbeitsmarkt (AAM). In zweiter Linie gilt es, jene Personen zu identifizieren, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in den AAM integriert werden können und somit die Prüfung eines (Rechtskreis-)Wechsels in den Bereich eines anderen/zuständigen Trägers des Sozialsystems zu ermöglichen.

Sozialmedizinische Begutachtung und Beratung stellen die Kernaufgaben des ÄD dar. Die Auftraggeber (= interne Kunden) kommen aus dem Bereich der Arbeitsagenturen (Rechtskreis Sozialgesetzbuch (SGB) III) oder aber der Jobcenter (Rechtskreis SGB II,
2024). Die zu Begutachtenden werden als externe Kundinnen/Kunden oder Probandinnen/Probanden bezeichnet.

Die Rechtsgrundlage für die Einschaltung des ÄD ist in den jeweiligen Sozialgesetzbüchern festgelegt: Wer Sozialleistungen be­antragt oder erhält, soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind (allgemeine Grundlage; § 62 SGB I). Die Agentur für Arbeit soll ratsuchende Jugendliche und Erwachsene mit ihrem Einverständnis ärztlich und psychologisch untersuchen und begutachten, soweit dies für die Feststellung der Berufseignung oder Vermittlungsfähigkeit erforderlich ist (spezifische Grundlage; § 32 SGB III). Als zentrale Aspekte sind somit die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Zweckgebundenheit der Begutachtung hervorzuheben.

Beurteilt wird die quantitative und qualitative Leistungsfähigkeit der Kundinnen und Kunden; in der Regel für den AAM. Entscheidend hierfür sind die Funktion(sdiagnosen) im Kontext des biopsychosozialen Krankheitsmodells und basierend auf der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF-Klassifikation; Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, s. Online-Quellen). Breiten Raum nehmen auch Fragestellungen zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) ein (Bundesagentur für Arbeit 2024): Sind diese beruflichen Unterstützungsmaßnahmen der BA aus sozialmedizinischer Sicht für das Erreichen oder die Aufrechterhaltung einer beruflichen Integration erforderlich und wenn ja, in welcher Form? Beispiele für LTA sind unterstützte Ausbildungsmaßnahmen (z. B. in einem Berufsbildungswerk) für junge Menschen mit integrationsrelevanten gesundheitlichen (Funktions-)Einschränkungen oder Umschulungs- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen für bereits im Berufsleben Stehende (z. B. in einem Berufsförderungswerk), deren bisherige Tätigkeit sich als nicht mehr leistungsbildgerecht erwiesen hat. Möglich sind auch LTA im Sinne von technischen Hilfen, zum Beispiel in Form einer Fahrzeugumrüstung für Personen mit einer mobilitätseinschränkenden Behinderung. Mit LTA für Menschen mit Behinderungen bewegt sich die BA im Rechtskreis des SGB IX. In der dort sozialgesetzlich geregelten Zuständigkeit der potenziellen (Kosten-)Träger tritt die BA gegenüber Rentenversicherung, Unfallversicherung und Versorgungsverwaltung als nachrangiger Rehabilitationsträger auf; eine vorrangige Zuständigkeit der BA besteht gegenüber der Jugendhilfe und den Trägern der
Sozialhilfe.

Eine häufige Fragestellung in den Gutachtenaufträgen der Jobcenter betrifft die Erwerbsfähigkeit von Kundinnen und Kunden, die an multiplen und/oder chronischen Erkrankungen leiden, mit oft konsekutiver Langzeitarbeitslosigkeit und vorliegender langjähriger Arbeitsmarktferne. Als erwerbsfähig gilt hierbei, wer unter den üblichen Bedingungen des AAM mindestens drei Stunden täglich erwerbsfähig sein kann (§ 8 SGB II).

Bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zeigte sich der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit sowie körperlichen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen in der sogenannten Marienthalstudie (Jahoda et al. 1975). Dieser Zusammenhang wurde für diverse Erkrankungen (somatisch, psychisch, psychosomatisch) seither in verschiedenen Studien immer wieder wissenschaftlich belegt (Nolte-Troha et al. 2023).

Rechtskreisunabhängig nimmt der ÄD mit seinen sozialmedizinischen Stellungnahmen eine rein beratende Funktion ein; die rechtsverbindliche Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen obliegt stets der zuständigen Behörde.

Häufige Anlässe und Fragestellungen für die Einschaltung des ÄD sind in ➥ Tabelle 1 zusammengefasst.

Prozessablauf der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung

Die Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst erfolgt in der Regel in schriftlicher Form und einzelfallbezogen; möglich sind aber auch mündliche Beratungen und Systemberatungen von beauftragenden Organisationseinheiten der Arbeitsagenturen, beispielsweise der Reha-Abteilung. Inhaltlich geht es um die Abklärung des medizinischen Sachverhalts mit Erstellung eines erwerbsbezogenen und ressourcenorientierten Leistungsbildes sowie von bedarfsorientierten sozialmedizinischen Empfehlungen. Der Beratungsaspekt der gutachterlichen Tätigkeit des ÄD erstreckt sich hierbei nicht nur auf die Auftraggeber (interne Kunden), sondern potenziell auch auf die Probandinnen und Probanden (externe Kunden), insbesondere wenn eine Begutachtung mit persönlichem Kundenkontakt erfolgt.

Die sozialmedizinischen Stellungnahmen ohne Kundenkontakt („nach Aktenlage“) und mit Kundenkontakt (persönliche Begutachtung) stellen die Hauptprodukte/Gutachtenformate des ÄD dar. Eine Begutachtung nach Aktenlage ist dann möglich, wenn eine aussagekräftige, valide und aktuelle (externe) Befundlage vorliegt. Wenn diese Voraussetzungen nicht oder nur teilweise gegeben sind, ist die persönliche Begutachtung angezeigt. Typische Indikationen für einen persönlichen Kundenkontakt sind die Evaluierung von sozialmedizinisch relevanten Kontextfaktoren (z. B. detaillierte Berufs- und Arbeitsplatzanamnese, soziales Umfeld), die aus (kurativ-medizinischen) Fremdbefunden mitunter nur eingeschränkt abgeleitet werden können sowie das Vorliegen von psychomentalen oder Suchterkrankungen.

Im Laufe der drei letzten Jahrzehnte hat sich die Relation der Gutachtenformate in Richtung Begutachtung nach Aktenlage verschoben; präpandemisch lag das Verhältnis in einer Größenordnung von 80 zu 20 Prozent. Durch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen ist die Rate an persönlichen Begutachtungen weiter zurückgegangen; teilweise kompensiert durch das 2020 neu eingeführte Gutachtenformat der persönlichen Begutachtung über einen telefonischen Kontakt, wobei seit 2022 auch die technischen Voraussetzungen für eine videotelefonische Begutachtung geschaffen worden sind. Die telefonische Begutachtung hat sich als praktikables Instrument mit hoher Kundenakzeptanz erwiesen; gleichwohl stellt die persönliche Begutachtung weiterhin den Goldstandard für eine umfassende Bewertung von komplexen Fragestellungen dar.

Die vorgesehene Bearbeitungszeit („Laufzeit“ zwischen Auftragseingang und Gutachtenabschluss) wird jährlich bundesweit einheitlich anhand der vorhandenen Ressourcen und des zu erwartenden Auftragsvolumens festgelegt; sie war für 2024 mit 29 (Arbeits-)Tagen vorgesehen. Rechtliche Vorgaben, zum Beispiel des Bundesteilhabe-Gesetzes (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, s. Online-Quellen), determinieren in den betreffenden Fällen verbindlich einzuhaltende kürzere Laufzeiten.

Ist eine Einschaltung des ÄD vorgesehen, werden die Kundinnen und Kunden neben ihrem Einverständnis um das Ausfüllen eines sogenannten Gesundheitsfragebogens, von Schweigepflichtentbindungen für ihre Behandelnden und andere Institutionen der sozialen Sicherung sowie um das Einreichen von vorhandenen medizinischen Unterlagen gebeten. Gegebenenfalls kann dann bereits auf Grundlage der „Kunden­unterlagen“ eine Begutachtung nach Aktenlage erfolgen. Ist dies nicht der Fall, werden Befunde oder sogenannten Befundberichte (ein mit der Bundesärztekammer abgestimmtes strukturiertes Formular) von den Behandelnden angefordert. Wichtige Informationsquellen sind weiterhin Unterlagen anderer Sozialleistungsträger wie Reha-Berichte und Gutachten der Rentenversicherung, Gutachten des Medizinischen Dienstes, Betreuungsgutachten oder Pflegegutachten. Schließlich erfolgt bei nicht ausreichender externer Befundlage die Einladung zur persönlichen Begutachtung vor Ort oder via (Video-)Telefonie.

Gliederung der sozialmedizinischen Stellungnahmen des ÄD

Die sozialmedizinischen Stellungnahmen des ÄD gliedern sich in zwei Teile. Teil A stellt den medizinischen Teil dar, der der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt und beim ÄD verbleibt; er enthält Angaben zur Befundgrundlage, die integrationsrelevanten (Funktions-)Diagnosen sowie eine wertende ärztliche Stellungnahme. In den Fällen mit persönlicher Begutachtung erfolgen weitere Angaben zur (beruflichen und medizinischen) Anamnese sowie zu den eigenen erhobenen Befunden (in der Regel in Form einer klinischen Untersuchung; ggf. [Urin-]Drogenscreening, selten Labor- oder apparative Untersuchungen).

Teil B (➥ Abb. 1) geht an den Auftraggeber; in ihm werden die integrationsrelevanten psychomentalen und körperlichen Funktionseinschränkung in Anlehnung an die ICF-Klassifikation und unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht in laienverständlicher Sprache beschrieben. Teil B enthält weiterhin ein auf den AAM bezogenes Leistungsbild, das zunächst den zumutbaren zeitlichen (= quantitativen) Umfang einer Tätigkeit festlegt. Bei aufgehobener (unter drei Stunden täglich) oder quantitativ eingeschränkter (drei bis unter sechs Stunden täglich) Leistungsfähigkeit wird eine Prognose erwartet, die sozialrechtliche Relevanz hat: Haben die quantitativen Einschränkungen voraussichtlich über sechs Monate oder gar auf Dauer Bestand, so ist ein (Kosten-)Trägerwechsel zu prüfen – je nach Leistungsanspruch zum Beispiel zur Krankenversicherung, Rentenversicherung oder kommunalen Sozialhilfe. Bei einer voraussichtlich über sechs Monate aufgehobenen Leistungsfähigkeit für den AAM kann optional erfragt werden, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eingliederung in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen vorliegen.

Schließlich beinhaltet das Leistungsbild Angaben zu den qualitativen Parametern körperliche Arbeitsschwere und Arbeitshaltung. Im Klartext können ergänzende Beschreibungen eines positiven und ne­ga­tiven Leistungsbilds erfolgen, beispielsweise bezüglich Arbeitsorganisation (Nacht-/
Schichtdienstfähigkeit?) und Funktion der Sinnesorgane. Die Auftraggeber können aus einem definierten Katalog weitere (Ziel-)Fragen stellen, wobei es häufig darum geht, ob die bisherige Tätigkeit noch als leistungsbildgerecht eingestuft oder die Prüfung von LTA (= berufliche Reha-Maßnahmen) empfohlen wird. Optional kann der ÄD weitere Empfehlungen aussprechen, wie Einschaltung eines weiteren Fachdienstes, Beantragung einer medizinischen Reha-Maßnahme, stufenweise Wiedereingliederung, Suchtberatung und anderes mehr.

Interessenkonflikt. Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Abb. 1:  Aufbau der sozialmedizinischen Stellungnahme des ÄD für den Auftraggeber (Teil B) mit integrationsrelevanten Funktionseinschränkungen, Leistungsbild, sozialmedizinischer Beurteilung und möglichen ergänzenden (Ziel-)Fragen

Abb. 1: Aufbau der sozialmedizinischen Stellungnahme des ÄD für den Auftraggeber (Teil B) mit integrationsrelevanten Funktionseinschränkungen, Leistungsbild, sozialmedizinischer Beurteilung und möglichen ergänzenden (Ziel-)Fragen

Literatur

Nüchtern E et al.: Soziale Sicherheit braucht Sozialmedizin. Selbstverständnis von Ärztinnen und Ärzten in der sozialmedizinischen Begutachtung und Beratung. Gesundheitswesen 2015; 77: 580–585.

Lotz-Metz G et al.: Sozialmedizinische Begutachtungen im Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit. Bundesgesundheitsblatt (eingereicht 2024).

Jahoda M et al.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; 1975.

Nolte-Troha C et al.: Unemployment and substance use: an updated review of studies from North America and Europe. Healthcare 2023; 11: 1182 (Open Access: https://doi.org/10.3390/healthcare11081182).

doi:10.17147/asu-1-377907

Online-Quellen

Bundesagentur für Arbeit: Aufgabe des Ärztlichen Dienstes
https://www.arbeitsagentur.de/ueber-uns/aerztlicher-dienst

Bundesagentur für Arbeit: Leistungen zur Teilhabe am A­rbeitsleben
https://www.arbeitsagentur.de/datei/leistungen-zur-teilhabe-am-arbeitsl…

Bundesärztekammer: Ärztestatistik zum 31. Dezember 2022
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/…

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Struktur der ICF und Kodestruktur
https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/struktur.html

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bundesteilhabegesetz
https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/bundesteilh…

Sozialgesetzbuch (SGB)
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/

Kernaussagen

  • Der Ärztliche Dienst (ÄD) der Bundesagentur für Arbeit unterstützt die Fachkräfte der Arbeitsagenturen und der Jobcenter bei der beruflichen Integration von Kundinnen und Kunden mit gesundheitlichen Einschränkungen.
  • Die sozialmedizinischen Stellungnahmen des ÄD wirken an Entscheidungen von erheblicher medizinischer und sozioökonomischer Bedeutung mit.
  • Sozialmedizinische Begutachtung und Beratung stellen die Kernaufgaben des ÄD dar. Zentrale Aspekte dieser Dienstleistungen sind die Freiwilligkeit der Teilnahme sowie deren Zweckgebundenheit; beurteilt wird die quantitative und qualitative Leistungsfähigkeit der Kundinnen und Kunden.
  • Vorrangige Ziele sind der Erhalt einer Leistungsfähigkeit für den Allgemeinen Arbeitsmarkt und den Bezugsberuf. Die Prüfung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) kann empfohlen werden, wenn diese Ziele durch Krankheit oder (nach den Kriterien des SGB III vorliegender) Behinderung gefährdet sind.
  • KOAUTOR UND KOAUTORIN

    Prof. Dr. med., Dr. disc. pol., Andreas G. Franke, M.A.
    Hochschule der Bundesagentur für Arbeit, Campus Mannheim

    Dr. med. Gabriele Lotz-Metz
    Zentrale des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg

    Kontakt

    Prof. Dr. med. Hubert G. Hotz
    Ärztlicher Dienst der ­Bundesagentur für Arbeit; M5, 2–3; 68161 Mannheim

    Foto: privat

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