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Substanzgebrauchsstörungen, ihre Charakteristika und Folgen für die Leistungsfähigkeit
Addiction Medicine in the Socio-Medical Assessment – Substance Use Disorders, their Characteristics and Consequences for Performance
Einleitung
Der Bereich der „Suchtmedizin“ wird in einen substanzgebundenen und einen nicht-substanzgebundenen (z. B. Kaufsucht, Spielsucht) Bereich unterteilt. Dabei ist der nicht-substanzgebundenen Bereich noch deutlich weniger beforscht und einem gewissen taxonomischen und definitorischen Wandel ausgesetzt, wie die sich wandelnde Eingliederung in den Katalog der International Classification of Diseases (ICD) von der zehnten zur elften Revision zeigt (WHO 1993, 2019).
Der stoff- oder substanzgebundene Bereich ist deutlich besser beforscht und basiert chemisch auf bestimmten psychotropen Substanzen, die verschiedene (Substanz-)Charakteristika aufweisen und dementsprechend zu unterschiedlichen individuellen Folgen bei den Konsumierenden und deren Leistungsfähigkeit führen.
Zu den Kategorien der sogenannten „Substanzgebrauchsstörungen“ (substance use disorders, SUD) gehören gemäß der ICD (WHO 1993, 2019) akuter Rausch, schädlicher Gebrauch, Abhängigkeit, Entzugssyndrome mit oder ohne delirante Symptomatik (im Falle des Absetzens der psychotropen Substanz oder einer erheblichen Reduktion der konsumierten Mengen), psychotische Störungen, amnestische Störungen sowie weitere unspezifische Folgeerscheinungen (WHO 1993, 2019). Zu den psychotropen Substanzen gehören gemäß ICD Alkohol, Opioide, Cannabinoide, Sedativa und Hypnotika, Kokain, Stimulanzien (einschließlich Koffein), Halluzinogene, Tabak, flüchtige Lösungsmittel sowie der multiple Substanzgebrauch durch mindestens drei verschiedene der oben genannten psychotropen Substanzen, die gleichrangig von den Betroffenen konsumiert werden (WHO 1993, 2019).
Übersicht über die psychotropen Substanzen und ihre Prävalenzraten
Der Konsum psychotroper Substanzen in Deutschland gilt insgesamt als verbreitet. So haben nach Angaben des Epidemiologischen Suchtsurveys (ESA) 8,3 % der Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren im Verlauf der letzten zwölf Monate mindestens einmalig eine illegale Substanz konsumiert (Atzendorf et al. 2019). Im Gegensatz zu den illegalen psychotropen Substanzen gehören Tabak und Alkohol – teilweise auch Cannabis – zu den legalen psychotropen Substanzen beziehungsweise „Genussmitteln“ oder „Genussgiften“.
Zunächst erfolgt nun eine Betrachtung der einzelnen psychotropen Substanzen:
Tabak
Tabakkonsum wird auf dem Feld der Sucht- sowie Sozialmedizin nur wenig thematisiert. Die Zahl der Raucher in Deutschland hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. 22,4 % der Bevölkerung über 15 Jahren rauchen, es gibt 7,5 bis 9 Mio. Tabakabhängige in Deutschland (Batra et al. 2021). Die Prävalenz bei Männern liegt bei 26,4 %, für Frauen beträgt sie 18,6 %. Für die sozialmedizinische Begutachtung sind die Folgen hinsichtlich des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge von besonderer Relevanz, kaum jedoch die Tabakabhängigkeit selbst.
Alkohol
Hinsichtlich des Alkoholkonsums von reinem (!) Alkohol betrug der Pro-Kopf-Konsum in Deutschland 1980 noch 12,9 l pro Jahr und im Jahre 2000 insgesamt 9,6 l pro Jahr. Seither gibt es keine wesentlichen Veränderungen der Konsummenge. Dennoch entspricht dies einer Konsummenge alkoholhaltiger Getränke von immerhin einer gefüllten Badewanne (ca. 140 l) pro Jahr (DHS – Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen). Für Alkohol gilt eine Konsummenge von maximal 12 g täglich bei Frauen (ca. 0,1 l Wein oder ¼ l Bier) und 24 g (ca. 0,2 l Wein oder ½ l Bier) täglich bei Männern, die an fünf von sieben Tagen konsumiert wird, als „risikoarm“, was mitunter auch (bagatellisierend) als „unproblematisch“ angesehen wird. Größere Trinkmengen gelten als „riskanter Konsum“, der prinzipiell zu einer Schädigung führen kann. Während weltweit jährlich rund 3 Mio. Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsum sterben (WHO 2018), ist Alkoholkonsum für ca. 5 % der globalen Gesundheitsschäden – im Sinn der „global burden of disease“ – verantwortlich (Kendler et al. 2017; Kranzler u. Soyka 2018). In Deutschland liegen die Prävalenzraten für Alkoholgebrauchsstörungen bei 6–7 %; als alkoholabhängig gelten etwa 3 % der 18- bis 64-Jährigen. Noch überwiegt die Abhängigkeitsrate bei Männern, wobei Frauen signifikant „aufholen“. Die Alkoholabhängigkeit ist schon lange keine „Männerdomäne“ mehr; dies gilt es bei der sozialmedizinischen Begutachtung zu berücksichtigen. 12,7 Mio. Menschen betreiben episodisches Rauschtrinken (Konsum von mehr als fünf alkoholischen Getränken an mindestens einem der letzten 30 Tage); 6,7 Mio. Menschen konsumieren Alkohol in sogenannten „riskanten“ Mengen (s. oben; Kranzler u. Soyka 2018). Abgesehen von den individuellen Folgen werden jährlich ca. 26,7 Mrd. Euro für alkoholbedingte Gesundheitsschäden und Produktivitätsverluste aufgewendet. Die steuerlichen Einnahmen durch Alkohol betragen jährlich ca. 3,3 Mrd. Euro (DHS – Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen). Übermäßiger Alkoholkonsum ist somit volkswirtschaftlich im Sinne einer herabgesetzten Arbeits- und Leistungsfähigkeit bedeutsam.
Cannabis
Die Lebenszeitprävalenz für Cannabiskonsum beträgt in Deutschland ca. 25 % und dominiert damit die Prävalenzen für den Konsum illegaler Substanzen. Die Ein-Jahres-Prävalenz liegt bei insgesamt ca. 7 % und ist unter Männern deutlich höher als unter Frauen; unter den Jüngeren (18.–20. Lebensjahr) liegt sie bei ca. 16 % (Atzendorf et al. 2019; Lafaye et al. 2016; DHS – Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen). Dabei wird ein „weiches“ von einem „harten“ Konsummuster unterschieden, wobei Letzteres mit dem Konsum anderer illegaler Drogen assoziiert ist (Atzendorf et al. 2019; Lafaye et al. 2016; DHS – Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen). Die rechtliche Situation hat sich seit dem 01.04.2024 deutlich verändert, was aber sozialmedizinisch kaum eine Rolle spielt. Die wesentlichen Neuregelungen des Cannabisgesetzes (CanG) sind übersichtlich auf den Internetseiten des Bundesgesundheitsministeriums zu finden (s. Online-Quellen). Das CanG regelt und ermöglicht den (privaten) Eigenanbau durch Volljährige zum eigenen Gebrauch und den gemeinsamen, nicht-gewerblichen Eigenanbau in sogenannten Anbauvereinigungen.
Die akuten Folgen von Cannabiskonsum liegen unter anderem in der Gefahr der Induktion einer cannabisinduzierten Psychose mit Auftreten von Halluzinationen und Wahn; bei langjährigem und hochdosiertem Cannabiskonsums droht den Betroffenen eine gewisse Lethargie, was als amotivationales Syndrom bezeichnet werden kann. Hinzu kommt, dass Cannabis meist gemeinsam mit Tabak konsumiert wird.
Opioide
Opioide sind hinsichtlich des illegalen Konsums psychotroper Substanzen – nicht aber bei der Verordnung von starken Schmerzmitteln – mittlerweile eher eine Randerscheinung in Deutschland, , wobei die Prävalenzraten in den USA seit einiger Zeit wieder stark steigen: Die Lebenszeitprävalenz für den Konsum von Heroin beträgt in Deutschland 0,5 %; die Ein-Jahres-Prävalenz liegt bei nur 0,1 %. Für Heroin plus andere Opioide liegt sie bei 0,5 % (Atzendorf et al. 2019; Berger 2018). Allerdings sind die akuten Risiken bei Opioiden wegen der atemdepressiven Wirkung enorm; die meisten Drogentoten weisen eine zumindest komorbide Opioidabhängigkeit auf. Darüber hinaus besteht die Gefahr von Infektionskrankheiten durch „needle sharing“.
Das Aufrechterhalten einer „bürgerlichen Existenz“ ist den Opioidkonsumierenden (Heroin) kaum möglich. Aufgrund der ausgeprägten Abhängigkeit und den damit einhergehenden körperlichen, psychischen und sozialen Einbußen (z. B. soziale Desintegration, Obdachlosigkeit) sowie der stetigen „Suche“ nach der nächsten Konsumgelegenheit und den Mitteln dafür (z. B. durch Beschaffungskriminalität) ist die Leistungsfähigkeit der Betroffenen meist deutlich herabgesetzt beziehungsweise aufgehoben. Patientinnen und Patienten, die sich aber in einer stabilen Substitution (z. B. mit Methadon in entsprechenden Programmen) befinden, sind durchaus leistungsfähig. Wegen der ausgeprägten Abhängigkeit, der oben genannte (psycho-)sozialen, aber auch gesundheitlichen Folgen und wegen des häufigen Beigebrauchs anderer psychotroper Substanzen, ist dies aber tendenziell selten.
Stimulanzien
Auch Stimulanzien spielen eine eher geringe Rolle: Die Lebenszeitprävalenzen für den Konsum von Amphetaminen und Kokain betragen knapp 4 %; die Ein-Jahres-Prävalenzen liegen für beide Substanzen bei ca. 1 %. Für Ecstasy als Psychostimulans liegt die Lebenszeitprävalenz bei 2,5 % und die Ein-Jahres-Prävalenz zwischen 0,5 % und 1 %. Die Prävalenzraten von Kokain liegen (knapp) unter denen von Amphetaminen (Atzendorf et al. 2019). Die Prävalenzraten des Konsums von Methamphetamin (Crystal Meth) sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Nicht selten werden Stimulanzien von Betroffenen zunächst zur körperlichen und geistigen Leistungssteigerung konsumiert. Letztendlich ist die Erhöhung der Leistungsfähigkeit aber von kurzer Dauer und weicht rasch einem Abhängigkeitsmuster mit signifikanter Leistungsminderung; Vergleichbares gilt auch für Kokain (Franke 2019; Neumann et al. 2016).
Sedativa und Hypnotika
Noch komplizierter ist die Situation der Sedativa und Hypnotika, da sie vom Konsum von Benzodiazepinen dominiert wird (Übersicht in Soyka 2015). Benzodiazepine sind sedierende und anxiolytische verschreibungspflichtige Medikamente, die oft als Schlafmittel, aber auch bei Angststörungen benutzt werden und eine entsprechende Indikation aufweisen. Es gibt unzählige Vertreter dieser Gruppe mit völlig unterschiedlichen Halbwertszeiten. Während Diazepam (z.B. Valium®) eine recht lange Halbwertszeit von bis zu ca. 48 Stunden hat, sind die neueren Entwicklungen wie Zolpidem und Zopiclon mit nur wenigen Stunden deutlich kürzer wirksam und gelten als nur „schlafanstoßend“. Auch wenn die Benzodiazepine als „harmlos“ in den Markt eingeführt wurden, so ist mittlerweile ein enormes Abhängigkeitspotenzial nachgewiesen (Soyka 2015). Es ist daher davon auszugehen, dass ca.
1 Mio. Menschen in Deutschland von Benzodiazepinen abhängig sind, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte. Die meisten Verordnungen betreffen Frauen im höheren Lebensalter.
Die Leistungsfähigkeit wird bei Patientinnen und Patienten mit Angststörungen oder Schlafstörungen und damit begründeter Benzodiazepineinnahme zunächst eher erhöht oder kann zumindest für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten werden; es bedarf aber im weiteren Verlauf immer höherer Dosierungen und Einnahmefrequenzen, so dass die zunächst durch die Einnahme „erkaufte“ Leistungssteigerung oder zumindest deren Aufrechterhaltung einer langfristig manifesten Abhängigkeitserkrankung mit Leistungsminderung weicht. Doch auch der klinische Zustand der Konsumierenden ist während der Wirkdauer der Benzodiazepine eingeschränkt (z. B. verlängerte Reaktionszeiten mit beispielsweise erhöhter Gefahr von Stolpern und Stürzen, verminderte Konzentrationsfähigkeit etc.).
Halluzinogene und flüchtige Lösungsmittel
Halluzinogene wie beispielsweise LSD oder halluzinogene Pilze spielen eine untergeordnete Rolle. Ihre Lebenszeitprävalenz beträgt lediglich 2,4 %, was für Männer und Frauen gleichermaßen gilt, wobei die Ein-Jahres-Prävalenz bei deutlich unter 1 % liegt (Kraus et al. 2010). Systematische Daten zu flüchtigen Lösungsmitteln/Inhalanzien aus Deutschland liegen nicht beziehungsweise kaum vor. In Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ spielen sie wegen der kostengünstigen Beschaffung als „Droge der Armen“ eine weitaus größere Rolle (Köhler 2008). In Deutschland spielen sie am ehesten bei Minderjährigen im Sinne eines „Probierkonsums“ oder bei ausgeprägter Polytoxikomanie eine Rolle (Köhler 2008). Wegen der geringen Prävalenzraten haben die Halluzinogene und flüchtigen Lösungsmittel in der deutschen sozialmedizinischen Begutachtung nahezu keine Bedeutung.
Konsumformen und Folgen
Während oft die Begriffe „Suchtmedizin“ und „Abhängigkeit“ verwendet werden, so müsste streng genommen von sogenannten Substanzgebrauchsstörungen („substance use disorders“, SUD) gesprochen werden, da die psychotropen Substanzen zwar ein Abhängigkeitsrisiko aufweisen, aber vor der Entwicklung einer Abhängigkeit meist zahlreiche akute Rauschzustände sowie ein schädlicher Gebrauch stattfinden. Dabei wird die sozialmedizinische Begutachtungsprognose gerade dadurch signifikant erschwert, dass der Konsum psychotroper Subtanzen hinsichtlich der Konsummuster (Menge, Frequenz, soziale Einbettung) fließende Übergänge hat und im Verlauf der SUD in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt, die sich wiederum gegenseitig abwechseln oder ergänzen (können).
Zunächst ist der „akute Rausch“ zu beschreiben, der je nach konsumierter Substanz und Menge völlig unterschiedlich imponiert. Er spielt in der (sozial-)medizinischen Begutachtung meist keine Rolle, da die meisten Kundinnen und Kunden meist nicht in akut intoxikiertem Zustand – also „nüchtern“ – zur sozialmedizinischen Begutachtung kommen. Ausnahmen stellen sicherlich sowohl der vigilanzsteigernde und „antreibende“ sowie aufmerksamkeitssteigernde Kaffee-/Koffeinkonsum dar sowie der „psychisch-rituell“ beruhigende Tabakkonsum, der im biochemischen beziehungsweise physiologischen Sinn aufgrund der vasokonstriktorischen Effekte des Nikotins eher zu einem Blutdruckanstieg und zu einer Tachykardie führt. (Sozial-)Medizinisch spielt die Intoxikation von Koffein oder Tabak aber quasi keine Rolle.
Besonders schwer voneinander abzugrenzen sind der schädliche Gebrauch/Missbrauch und die Abhängigkeit. Während im ICD-10 und -11 der schädliche Gebrauch/Missbrauch kaum trennscharf definiert ist (WHO 1993, 2019), so wird die Abhängigkeit im ICD-10 von sechs Merkmalen und im ICD-11 von drei Merkmalspaaren beschrieben, von denen mindestens zwei (ICD-10)erfüllt sein müssen, wobei von den Merkmalspaaren im ICD-11 jeweils ein Merkmal erfüllt sein muss (WHO 1993, 2019). All das gilt wiederum für den Zeitraum von mindestens zwölf Monaten oder für mindestens einen Monat des kontinuierlichen Konsums, über den die Merkmale kontinuierlich (täglich oder fast täglich) vorgelegen haben müssen (Heinz et al. 2022). Die Merkmalspaare des ICD-11 sind:
Der schädliche Gebrauch bezeichnet ein Verhaltensmuster, das die körperliche oder geistige Gesundheit einer Person geschädigt hat oder zu einem Verhalten geführt hat, das die Gesundheit anderer schädigt. Das Muster des Gebrauchs erstreckt sich über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten oder, wenn der Gebrauch episodisch oder kontinuierlich ist, auf einen Zeitraum von mindestens einem Monat. Die Gesundheitsschädigung muss dann auf ein oder mehr der folgenden Kriterien begründet
sein:
Die Schädigung der Gesundheit anderer umfasst jede Form von körperlicher Schädigung, einschließlich Trauma, oder psychischer Störung, die direkt auf das Verhalten im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum der Betroffenen zurückzuführen ist (WHO 2019).
Sozialmedizinische Begutachtung
Wie bereits angedeutet, ergeben sich bei SUD wesentliche Schwierigkeiten für die sozialmedizinische Begutachtung, Einordnung und v.a. Prognose.
Zunächst ist eine SUD stigmatisierend (Goffman 1963) und der Besitz illegaler Drogen prinzipiell strafbar, so dass die meisten Betroffenen versuchen, dass die SUD nicht „aktenkundig“ und nicht von anderen bemerkt wird. Dafür gibt es verschiedenste mehr oder weniger erfolgreiche Mechanismen (Verschweigen der Symptome, Bagatellisierung der Symptome, (versuchte) Vermeidung des Konsums einige Zeit vor der Begutachtung, Verleugnen der Symptome trotz Nachfrage etc.). Hinzu kommt die sogenannte Co-Abhängigkeit, bei der es das Bestreben des sozialen (Nah-)
Umfelds (Partnerschaft, Eltern etc.) ist, dass die bestehende SUD von „außen“ nicht erkannt wird. Dabei ist es das Ziel des sozialen (Nah-)Umfelds, die (vermeintlichen) sozialen, arbeitsrechtlichen oder sozialrechtlichen Konsequenzen des Erkennens der Erkrankung zu vermeiden (z. B. Abmahnung, Kündigung). Auch bei der sozialmedizinischen Begutachtung spielen diese Aspekte eine Rolle und sind nicht zu unterschätzen, auch wenn noch andere hinzukommen, die dazu führen, dass die SUD eher offen gelegt wird (z. B. sekundärer Krankheitsgewinn, Rentenbegehren). Somit ist bereits das Erkennen einer SUD kompliziert und schwierig sowie nicht immer eindeutig und mit unterschiedlichen „Motivationslagen“ vergesellschaftet.
Diese Unschärfe gilt auch für beigezogene medizinische Unterlagen zum Beispiel von behandelnden Ärztinnen/Ärzten der Betroffenen.
Hinzu kommt die Tatsache, dass die allermeisten Betroffenen medizinische Laien sind. Dies führt dazu, dass die Beschreibung von Symptomen oft nicht treffsicher und trennscharf ist und dass bestimmten Symptomen eine falsche Bedeutung beigemessen werden kann, sie über- oder unterinterpretiert oder gar falsch dargestellt werden. Von besonderer Relevanz ist daher eine genaue und differenzierte Anamneseerhebung unter Berücksichtigung der oben genannten Faktoren. Dabei sind nicht nur konkret somatische Aspekte von Bedeutung, sondern auch weitere Aspekte wie beispielsweise einzelne oder sich häufende (unerklärliche) Unfälle mit bestimmten Verletzungsmuster (z. B. Treppensturz, Kopfplatzwunden bestimmter Lokalisationen, Rippenserienfraktur/en als Folge eines Sturzes auf die Bordsteinkante nach Versuch, diese zu Fuß oder vor allem mit dem Fahrrad zu überwinden), auffällige Arbeitsunfähigkeitszeiten und -muster (z. B. „blauer Montag“), Geschehnisse rund um die Fahrerlaubnis (z. B. Punkte im Verkehrszentralregister, Verlust der Fahrerlaubnis, Gründe für die Verkehrsauffälligkeiten), stattgehabte Abmahnung/en und Kündigung/en und die Gründe dafür etc.
Auch wenn Intoxikationen meist keine wesentliche Rolle spielen, so sollten zu Begutachtende dennoch auch optisch in Augenschein genommen werden, um etwaige Intoxikationssymptome nicht zu übersehen. Dies können beispielsweise gerötete Augen, stecknadelkopfgroße Pupillen, Verlangsamung, aber auch Beschleunigung, Logorrhoe (übermäßig schneller Redefluss) etc. sein. Auch Einstichstellen an Armen, grobporige und unreine Haut können mitunter Hinweise auf eine SUD sein. Dabei ist das gesamte Erscheinungsbild der Untersuchten einzubeziehen.
Es ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass einzelne äußere Merkmale beziehungsweise Symptome oft unspezifisch sind und auf diverse andere Ursachen zurückzuführen sein können, wie beispielsweise gerötete Augen aufgrund einer Augenkrankheit (Konjunktivitis), einer Allergie oder ein müdigkeitsassoziiertes Reiben in den Augen.
Bei der sozialmedizinischen Beurteilung muss daher immer darauf geachtet werden, Personen mit bestimmten Merkmalen nicht zu Unrecht als Abhängigkeitserkrankte „abzustempeln“. Dies ist für die Beurteilenden oft ein „Drahtseilakt“. Es gilt daher gerade bei SUD, sich ein umfassendes Bild von den zu begutachtenden Personen zu machen.
Bei jungen Menschen ist mitunter ein eher progressives Auftreten und/oder Verhalten zu beobachten, das Auskunft über den Lebensstil der Betroffenen gibt (z. B. Aufdruck einer Cannabispflanze auf der Kleidung, offenes Zurschaustellen von Konsumutensilien).
Die Leistungsbeurteilung ist bei SUD oft eine „Momentaufnahme“. Eine valide Prognose abzugeben, ist vor allem bei SUD besonders schwierig, da die Entwicklung der Erkrankung von diversen Faktoren abhängt, die weder die Gutachterinnen und Gutachter noch die Betroffenen selbst voraussagen können. Oft reichen unvorhersehbare Aspekte in der Biografie der Betroffenen (Trennungen, neue Partnerschaften, Verlust oder Wiedererlangung einer Wohnung, Verlust eines Arbeitsplatzes oder einer Arbeitsgelegenheit, Wiederaufnahme alter Freundschaften, unterschiedlich ausgeprägte Komorbiditäten, Jahrestage, Feste wie Weihnachten etc.), um die Entwicklung der SUD maßgeblich zu beeinflussen.
Interessenskonflikt: Der Autor gibt, dass keine Interessenskonflikte vorliegen.
Literatur
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Lafaye G, Karila L, Blecha L, Benyamina A: Cannabis, cannabinoids, and health. Dialogues Clin Neurosci 2017; 19: 309–316.
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