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Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.06.2020 – B 2 U 5/19 R –

Unterlassen der ärztlichen Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit

Tatbestand

Die Klägerin ist Witwe des im Jahre 2016 an den Folgen einer Berufskrankheit Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) verstorbenen Versicherten, mit dem sie und die drei Kinder bis zu dessen Tod in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Sie macht als Sonderrechtsnachfolgerin ihres Ehemannes Ansprüche auf Pflege-, Verletztengeld und Verletztenrente geltend.

Der Versicherte kam bereits als Schüler und Student in dem Unternehmen seines Onkels und später als Architekt mit Asbest in Kontakt. Im September 2013 wurde ein Hodentumor festgestellt. Dieser Tumor wurde zunächst als Karzinom der Rete testis mit Infiltration des Nebenhodens und des Samenstrangs interpretiert. Der Pathologe Prof. Dr. B. übersandte im Oktober 2013 die histologischen Präparate „zur weiteren Abklärung“ an das Deutsche Mesotheliomregister und teilte mit, der Versicherte sei als Architekt tätig, so dass möglicherweise eine Asbestexposition bestehe. Diesen Sachverhalt habe er noch nicht abklären können. Er sei für eine konsiliarische Mitbeurteilung auch vor dem Hintergrund einer möglichen Berufskrankheit (BK) dankbar.

Beim Deutschen Mesotheliomregister wurde die Manifestation eines malignen Mesothelioms bestätigt und empfohlen, dass sich die behandelnden Ärzte1 in üblicher Form um die Meldung einer BK 4105 (durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards) kümmern. Die Pathologin Prof. Dr. T. beim Deutschen Mesotheliomregister bat zudem um die Übersendung weiterer Informationen zur Ergänzung des Registers, falls diese verfügbar wären.

Erst nach dem Tod des Versicherten erstattete Prof. Dr. I. die BK-Anzeige und teilte ergänzend mit, der Versicherte habe zu Lebzeiten aus persönlichen Gründen gebeten, seine Erkrankung nicht zu melden. Die Beklagte gewährte der Klägerin und ihren Kindern Hinterbliebenenleistungen, lehnte es jedoch ab, ihr als Sonderrechtsnachfolgerin Verletztengeld und -rente sowie Pflegegeld zu zahlen (Bescheid vom 23.11.2016 und Widerspruchsbescheid vom 19.12.2016).

Im Klageverfahren hat Prof. Dr. I. als Zeuge bekräftigt, der Versicherte sei zu Lebzeiten mehrfach über das mögliche Vorliegen einer BK und das Verfahren (TAD-Gutachten etc) informiert worden. Er habe eine entsprechende Anzeige gegenüber allen behandelnden Ärzten mehrfach entschieden abgelehnt, keinerlei Dokumentation darüber gewünscht und Sorge gehabt, dass Informationen nach außen dringen könnten. Der Versicherte selbst sei überzeugt gewesen, dass es bei ihm keine relevante Asbestbelastung gegeben habe.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat im Wege der Sonderrechtsnachfolge übergegangene Ansprüche auf Pflege- und Verletztengeld sowie Verletztenrente verneint, weil diese Ansprüche des Versicherten mit dessen Tod erloschen seien. Zum Todeszeitpunkt sei im Sinne des § 59 SGB I weder eine Entscheidung über die Gewährung der Geldleistungen getroffen, noch ein Verwaltungsverfahren über diese Ansprüche anhängig gewesen. Ein solches Verwaltungsverfahren könne auch nicht mithilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Dass die behandelnden Ärzte ihre Anzeigepflicht nach § 202 Satz 1 SGB VII verletzt hätten, könne der Beklagten nicht zugerechnet werden, weil diese Ärzte nicht im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren „arbeitsteilig“ eingeschaltet gewesen seien. Zudem habe der Versicherte selbst durch die strikte Ablehnung der Verdachtsmeldung den Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung der Ärzte durch die versäumte Einleitung eines BK-Verwaltungsverfahrens und dem eingetretenen Nachteil unterbrochen.

Mit ihrer als unbegründet zurückgewiesenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 59 SGB I und der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Bereits mit der Kenntnis des Vorgangs durch das Deutsche Mesotheliomregister als berufsgenossenschaftlicher Einrichtung sei ein Verwaltungsverfahren über die Versichertenansprüche anhängig geworden.

Lebzeitenansprüche mit dem Tod erloschen

Das Bundessozialgericht (BSG) stellte fest, die geltend gemachten Verletzungen des § 59 Satz 2 SGB I und der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs lägen nicht vor. Die Klägerin habe als Sonderrechtsnachfolgerin (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt 1 SGB I) des verstorbenen Versicherten keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente, Verletztengeld und Pflegegeld aus übergegangenem Recht, weil diese zu Lebzeiten des Versicherten entstandenen Ansprüche im Todeszeitpunkt weder festgestellt waren, noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig war. Mangels planwidriger Regelungslücke könne § 59 SGB I auch nicht analog auf Fälle erstreckt werden, bei denen das Fehlen eines anhängigen Verwaltungsverfahrens auf pflichtwidriges Verwaltungshandeln zurückzuführen sei. Die Klägerin könne zudem nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als ob ein Verwaltungsverfahren über die Ansprüche des Versicherten zum Zeitpunkt seines Todes anhängig gewesen wäre.

Nach § 59 Satz 1 SGB I erlöschen Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen mit dem Tode des Berechtigten. Gemäß Satz 2 erlöschen Ansprüche auf Geldleistungen nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Allein von diesen beiden, alternativ im Zeitpunkt des Todes erreichten Verfahrenslagen, hänge die materielle Rechtsfolge des Anspruchsübergangs ab.

Beide Voraussetzungen lägen hier nicht vor, da im Todeszeitpunkt weder bei einem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung noch beim Deutschen Mesotheliomregister ein Verwaltungsverfahren anhängig gewesen sei. Das Verwaltungsverfahren sei die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist. Soweit in der gesetzlichen Unfallversicherung Leistungen von Amts wegen erbracht werden (§ 19 Satz 2 SGB IV), werde ein Verwaltungsverfahren – ähnlich wie im Prozessrecht die Klage – bereits „anhängig“, sobald dem Unfallversicherungsträger durch Versicherte oder Hinterbliebene, Unternehmer (§ 193 SGB VII), Ärzte (§§ 202, 34 Abs. 3 SGB VII i.V.m. Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) oder auf andere Weise potenziell leistungsrelevante Umstände bekannt würden. Folglich komme es weder auf den Entschluss des Unfallversicherungsträgers, ein Verwaltungsverfahren einzuleiten, noch auf sein (erstes) Tätigwerden mit Außenwirkung an. Vielmehr wandelt sich seine Befugnis, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob und wann er ein Verwaltungsverfahren durchführt (§ 18 Satz 1 SGB X), mit dem Eingang möglicherweise leistungserheblicher Informationen in die Rechtspflicht, aufgrund des bereits damit anhängigen Verwaltungsverfahrens tätig zu werden (§ 18 Satz 2 Nr 1 SGB X).

Vorliegend hätten die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung erst nach dem Tod des Versicherten durch den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenleistungen vom Verdacht des Vorliegens einer BK erfahren, so dass im Todeszeitpunkt noch kein Verwaltungsverfahren i.S. des § 59 Satz 2 SGB I anhängig war. Auch beim Deutschen Mesotheliomregister sei kein Verwaltungsverfahren i.S. des § 59 Satz 2 SGB I anhängig gewesen. Das Deutsche Mesotheliomregister werde vom Institut für Pathologie – einer gemeinnützigen rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts und Teil der medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum – auf dem Gelände der Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil gGmbH geführt und vom Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallkassen (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.) finanziell gefördert.

Obgleich das Deutsche Mesotheliomregister seit Oktober 2013 durch die Übersendung der histologischen Präparate des Versicherten die Möglichkeit eines BK-Verdachts kannte, sei dort zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten 2016 kein Verwaltungsverfahren i.S. des § 8 SGB X anhängig gewesen. Denn weder das Institut für Pathologie noch das Deutsche Mesotheliomregister sind Behörden i.S. des § 1 Abs. 2 SGB X. Behörde sei jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme. Privatrechtssubjekte, wie rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts, seien indes nur befugt, Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern diese hoheitlichen Aufgaben durch Beleihungsakt übertragen worden seien, was hier nicht der Fall sei. Mithin könne die noch zu Lebzeiten des Versicherten erfolgte Untersuchung und Charakterisierung der von seinem Tumor gefertigten histologischen Präparate durch das Deutsche Mesotheliomregister nicht als Verwaltungsverfahren i.S. des § 8 SGB X angesehen werden.

Tatsächliche Gegebenheiten ­maßgeblich

Mit der Verwendung des Indikativs stelle der Wortlaut des § 59 Satz 2 SGB I klar auf die tatsächlichen Gegebenheiten ab und nicht darauf, welche Verfahrenslage im Todeszeitpunkt hätte bestehen müssen (normative Lage), wenn die beteiligten Ärzte ihren Anzeigepflichten nach § 202 Satz 1 SGB VII „unverzüglich“ nachgekommen und dadurch Verwaltungsverfahren zur Prüfung der Leistungsansprüche des Verletzten eröffnet worden wären. Die Einbeziehung einer solchen fiktiven normativen Lage lasse
sich weder durch eine erweiternde Auslegung noch durch eine analoge Anwendung des § 59 Satz 2 SGB I erreichen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der – nach dem allgemeinen Sprachgebrauch – mögliche Wortsinn des Gesetzes die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation markiert.

Keine planwidrige Lücke

Jenseits dieser Grenze könne der Rechtsanwender nur rechtsfortbildend tätig werden, was im Falle der Analogie eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz voraussetze. Eine planwidrige Unvollständigkeit des § 59 Satz 2 SGB I sei nicht erkennbar. Erfordert die Vorschrift das „Anhängigsein“ eines Verwaltungsverfahrens, so erfasse der mögliche Wortsinn der Norm gerade keine Fälle, in denen dem Unfallversicherungsträger im Todeszeitpunkt des Versicherten keine leistungserheblichen Tatumstände bekannt waren. Eine unbewusste Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit der Norm wäre nur anzunehmen, wenn der zu beurteilende Sachverhalt vom historischen Gesetzgeber anfänglich übersehen wurde oder er sich erst nachträglich (d. h. nach Erlass des Gesetzes) durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben habe. Das sei hier nicht der Fall.

Für die Beantwortung der Frage, welche Sachverhalte der historische Gesetzgeber berücksichtigt oder übersehen habe, komme neben Wortlaut und Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Nach der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – sollten „aus rechtssystematischen und verwaltungspraktischen Gründen“ nur verfahrensmäßig schon „gefestigte“ Ansprüche auf Rechtsnachfolger übergehen. Rechtssystematisch betrachtet erlöschten die nicht vererbbaren Stammrechte auf Verletztenrente, Verletzten- und Pflegegeld mit dem Tod des Versicherten und könnten deshalb nicht auf den Rechtsnachfolger übergehen.

Nur gefestigte Ansprüche vererblich

Dagegen seien bereits festgestellte Einzelansprüche auf Zahlung dieser Geldleistungen vererblich und gingen deshalb vorrangig auf Sonderrechtsnachfolger über, weil sie in aller Regel nicht nur zur Lebensführung des (verstorbenen) Leistungsberechtigten, sondern aller Familienangehörigen bestimmt seien, die mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. Derart gefestigte und verfassungsrechtlich bereits als Eigentum geschützte Einzelansprüche (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) blieben bestehen, auch wenn sie vor dem Tod des Versicherten nicht (rechtzeitig) erfüllt werden konnten. Ebenso sollten Einzelansprüche nicht deshalb untergehen, weil das zu Lebzeiten des Versicherten eingeleitete Verwaltungsverfahren, in dem die aus dem Stammrecht resultierenden Einzelansprüche konkretisiert und zahlbar gemacht werden, vor dessen Tod nicht abgeschlossen werden konnte.

Ist die Behörde bereits von Amts wegen oder auf Antrag tätig geworden (§ 18 Satz 2 Nr. 1 SGB X) und deshalb ohnehin mit dem Sachverhalt befasst, seien weder rechtssystematische noch verwaltungspraktische Gründe erkennbar, den (Sonder-)Rechtsnachfolgern die Feststellung und Auszahlung der Einzelansprüche aus dem Stammrecht zu versagen. Dagegen solle die Verwaltung nach dem Tod des originär Berechtigten, dem die Leistungen primär zu Gute kommen sollen, nicht erstmals mitgegebenenfalls schwierigen Rechtsfragen und aufwändigen Ermittlungen zu den Ansprüchen Verstorbener konfrontiert werden, um das Vermögen von Rechtsnachfolgern zu mehren. Insofern stelle § 59 Satz 2 SGB I sicher, dass sozialrechtliche Geldleistungen zweckentsprechend gezahlt würden. Zudem schließe der klare Wortlaut des Gesetzes den Anspruchsübergang in bestimmten Fällen aus und schneide damit notwendigerweise begründete Ansprüche ab. Auch dies müsse der historische Gesetzgeber bedacht haben. Habe er somit den Übergang von Ansprüchen auf Geldleistungen bewusst auf das Erreichen bestimmter Stadien des Verwaltungsverfahrens begrenzt und einen „schützenswerten Vertrauenstatbestand“ verneint, wenn zu Lebzeiten des Versicherten noch keine „gefestigte Erwartungshaltung“ auf Zahlung bestimmter Geldleistungen bestand, läge keine anfängliche Regelungslücke vor. An diesen Rechtstatsachen habe sich auch nach Normerlass – zum Beispiel durch eine Änderung der Lebensverhältnisse oder des Normumfelds – nichts geändert, so dass auch nachträglich keine Regelungslücke entstanden sei.

Keine verfassungsrechtlichen ­Bedenken

Der Senat verneint auch verfassungsrechtliche Bedenken. Zwar greife § 59 Satz 2 SGB I in das verfassungsrechtlich garantierte „Erbrecht“ (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GG) ein, das die (Gesamt-)Rechtsnachfolge in alle Vermögensgegenstände schützt, die dem Erblasser zu Lebzeiten zugeordnet waren. § 59 Satz 2 SGB I bestimme jedoch Inhalt und Schranken des Erbrechts (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) im Hinblick auf seine legitimen Ziele (zweckgerechte Zahlung an die primär Berechtigten, Verwaltungsentlastung) in verhältnismäßiger Weise.

Die Regelung sei geeignet, die genannten Ziele zu fördern, und auch erforderlich, weil keine weniger belastende Regelung ersichtlich sei, die die Zweckverfehlung von Sozialleistungen genauso effektiv verhindert und die Entlastung der Verwaltung genauso wirkungsvoll erreiche. Auch mit Blick auf das Individualinteresse der Klägerin sei der Eintritt dieser Rechtsfolge angemessen. Der Ausschluss der Rechtsnachfolge in die Ansprüche des Versicherten betreffe nur einen sehr kleinen, abgrenzbaren Teilbereich des Rechts auf (Gesamt-)Rechtsnachfolge in alle dem Versicherten zuvor zugeordneten Vermögensgegenstände.

Zudem handele es sich um öffentlich-rechtliche Ansprüche, die für einen spezifischen Zweck – nämlich dem Ausgleich von finanziellen Nachteilen des Versicherten aufgrund des Eintritts des Versicherungsfalls – bestimmt sind. Dieser sozial(versicherungs)rechtliche Zweck könne nach dem Tod des Versicherten nicht mehr eintreten, so dass der Übergang dieser Ansprüche lediglich das Vermögen seiner Rechtsnachfolger mehrt, deren soziale Sicherung im Übrigen auch durch Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährleistet werde (vgl. §§ 63 ff SGB VII).

Kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Die Klägerin sei schließlich auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob ein Verwaltungsverfahren über die Ansprüche des Versicherten im Zeitpunkt seines Todes anhängig gewesen wäre. Dieses richterrechtliche Rechtsinstitut erfordere eine (behördliche) Pflichtverletzung, das heißt einen dem zuständigen Sozialleistungsträger zuzurechnenden Fehler, der beim Berechtigten einen sozialrechtlichen Nachteil kausal bewirkt habe und den der Träger durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung in der Weise beseitigen könne, dass der Zustand wiederhergestellt werde, der ohne die Pflichtverletzung bestünde.

Pflichtverletzung der behandelnden Ärzte

Die maßgebliche Pflichtverletzung sei vorliegend die Verletzung der Anzeigepflicht durch die behandelnden Ärzte. Gemäß § 202 Satz 1 SGB VII hätten Ärzte oder Zahnärzte den begründeten Verdacht, dass bei Versicherten eine BK besteht, dem Unfallversicherungsträger oder der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stelle in der für die Anzeige von BKen vorgeschriebenen Form (§ 193 Abs 8 SGB VII) unverzüglich anzuzeigen. Diese bundesgesetzliche Offenbarungspflicht erfasse alle approbierten Ärzte und Zahnärzte ausnahmslos, verdränge ihre ärztlichen Schweigepflichten, wie sie in den Berufsordnungen der Landes(zahn)ärztekammern geregelt sind und gehe einem eventuell entgegenstehenden Willen des Versicherten vor.

Kein Widerspruchsrecht des ­Patienten

Die Pflicht aus § 202 SGB VII treffe die Ärzte daher auch dann, wenn der betroffene Versicherte einer Übermittlung an die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ausdrücklich widerspreche. Der damit verbundene Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) des Patienten sei durch Allgemeinwohlinteressen verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die gesetzliche Grundlage, aus der sich Zweck (Information über den BK-Verdacht) und Umfang der Anzeigepflicht (§ 202 Satz 1, § 193 Abs. 8 SGB VII i.V.m. § 3 der Verordnung über die Anzeige von Versicherungsfällen in der gesetzlichen Unfallversicherung) klar ergäbe, wahre den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und sei verfassungskonform. Mit ihm verfolge der Gesetzgeber legitime Zwecke. Durch die Anzeigepflicht der Ärzte werde einerseits das Individualinteresse der Versicherten geschützt, dass BKen und die daraus resultierenden Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zügig festgestellt und gewährt werden. Andererseits diene sie dem Allgemeininteresse, BKen zu verhüten, entsprechende Gefahren für die Volksgesundheit abzuwehren und den präventiven Arbeitsschutz für eine Vielzahl von Personen zu gewährleisten.

Die Anzeigepflicht und die damit verbundene Übermittlung hochsensibler Gesundheitsdaten an die Unfallversicherungsträger und die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen stünden in einem angemessenen Verhältnis zum erstrebten Gesundheits- und Lebensschutz.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) stehe dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) besonders nahe und löse deshalb entsprechende staatliche Schutzpflichten aus. Im Hinblick darauf erscheine es angemessen, wenn der Gesetzgeber durch § 202 SGB VII eine Anzeigepflicht auch gegen den ausdrücklichen Willen des Versicherten zum Schutz von Leib und Leben Dritter einführe, zumal der damit verbundene Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht auf das insoweit Notwendige begrenzt sei.

Pflicht zur unverzüglichen Meldung

Ein begründeter Verdacht i.S. des § 202 Satz 1 SGB VII liege vor, wenn der Arzt Krankheitserscheinungen wahrnehme, die aus seiner subjektiven Sicht mit (irgend-)einer versicherten Tätigkeit plausibel zusammenhängen. Erforderlich seien ernsthafte, konkrete Anhaltspunkte; bloße Vermutungen genügen nicht. Die BK-Anzeige habe „unverzüglich“, das heißt ohne schuldhaftes Zögern zu erfolgen.

Diesen Anforderungen des § 202 SGB VII sei hier mit der erst am 10.2.2016 – nach dem Tod des Versicherten – erfolgten Anzeige nicht Rechnung getragen worden. Die behandelnden Ärzte des Versicherten hätten nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) spätestens seit Jahresbeginn 2014 den „begründeten Verdacht“ auf das Vorliegen einer BK gehabt.

Anzeigepflicht der Ärzte des ­Mesotheliomregisters

Auch die mit dem so genannten Mesotheliomregister befassten Ärzte seien gemäß § 202 Satz 1 SGB VII anzeigepflichtig, wenn der begründete Verdacht einer BK vorliegt. Ob die Ärzte des Mesotheliomregisters hier diese, sie grundsätzlich wie alle anderen Ärzte treffende, Anzeigepflicht gemäß § 202 SGB VII verletzt hätten, könne aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend entschieden werden.

Zwar hätten sie den behandelnden Ärzten ausdrücklich empfohlen, „sich in üblicher Form um die Meldung“ einer BK 4105 zu „kümmern“. Als Spezialisten für Mesotheliomerkrankungen wussten sie zudem, dass nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 4105 ein entsprechender BK-Verdacht bereits bei jedem Mesotheliom begründet sei, wie der 66. Kongress der Nordrhein-Westfälischen Gesellschaft für Urologie im März 2020 auch für Mesotheliome der Tunica vaginalis des Hodens nochmals betont habe. Es sei jedoch bereits unklar, auf welcher Rechtsgrundlage die Ärzte des Mesotheliomregisters die Präparate des Versicherten erhalten hätten und ob sie objektiv verpflichtet sind, jede Mesotheliomerkrankung zu melden, die ihnen (irgendwie) bekannt wird, selbst wenn ihnen Präparate – ohne Kenntnis und gegebenenfalls gegen den Willen des Versicherten – unbefugt übermittelt werden. Ebenso wäre zu erwägen, ob das Mesotheliomregister mit der BK-Anzeige noch abwarten durfte, weil – wovon das LSG ausgeht – zum Zeitpunkt der Beurteilung des Präparats überhaupt noch keine Kenntnisse über einen Asbestkontakt des Versicherten vorlagen und dieser lediglich aufgrund des Berufs des Erkrankten (Architekt) von dem das Präparat übersendenden Arzt vermutet wurde. Auch sei vom LSG nicht festgestellt, ob das Mesotheliomregister zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Tod des Versicherten hinreichende Kenntnis vom Asbestkontakt hatte, was gegebenenfalls dann zu diesem Zeitpunkt eine Anzeigepflicht gemäß §202 Satz 1 SGB VII ausgelöst hätte.

Zurechnung der Pflichtverletzung?

Etwaige Anzeigepflichtverletzungen der Ärzte, die das Mesotheliomregister führen, müsste sich die Beklagte aber im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zurechnen lassen, weil sie in die Aufgabenerfüllung der Unfallversicherungsträger im Sinne einer Funktionseinheit arbeitsteilig eingebunden seien. Nach § 1 SGB VII gehöre es unter anderem zu den Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung, mit allen geeigneten Mitteln BKen zu verhüten und nach Eintritt von BKen die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen zu entschädigen. Ohne ärztliche BK-Anzeigen könnten die Unfallversicherungsträger diese gesetzlichen Aufgaben nur unzureichend erfüllen und entsprechende Verwaltungsverfahren häufig erst verspätet einleiten, wie der vorliegende Fall exemplarisch zeige. Die Ärzte des Mesotheliomregisters stünden aufgrund ihrer Anzeigepflicht nach § 202 Satz 1 SGB VII und aufgrund der finanziellen Förderung durch die DGUV zu den Unfallversicherungsträgern in einer besonders engen Beziehung, die über die Beziehung der DGUV zu normalen niedergelassenen Ärzten weit hinausgehe und die es damit rechtfertigt, grundsätzlich von einer arbeitsteiligen Funktionseinheit im Sinne des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auszugehe.

Letztlich könne dies hier aber dahinstehen, ebenso wie die Frage, ob auch die behandelnden Ärzte, bei denen zweifelsohne ein Fehler vorlag, in das Verwaltungsverfahren der Beklagten eingebunden seien, denn die Pflichtverletzungen aller beteiligten Ärzte wären nicht kausal für das fehlende anhängige Verwaltungsverfahren i.S. des § 59 Satz 2 SGB I gewesen. Vielmehr habe das (selbstschädigende) Verhalten des Versicherten, das sich die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin zurechnen lassen müsse, die eigentliche (im weitesten Sinne: wesentliche) Ursache für den entstandenen Nachteil gesetzt.

Bei wertender Betrachtungsweise fehle es an der für die Bejahung eines Herstellungsanspruchs erforderlichen Kausalität der Pflichtverletzung für den Nachteil, weil der Versicherte durch sein eigenes, wiederholtes Verhalten seine behandelnden und anzeigebereiten Ärzte zu der unterlassenen Meldung veranlasst habe. Der Versicherte habe damit durch wiederholte Ablehnung einer Verdachtsanzeige beziehungsweise das Abstreiten jeden Asbestkontakts selbst die entscheidende Ursache für die Verletzung der ärztlichen Anzeigepflicht gesetzt. Hat der Versicherte damit wissentlich „gegen sich selbst“ gehandelt, so könne weder er noch seine Sonderrechtsnachfolgerin die Herstellung des ihm eigentlich zustehenden sozialen Rechts verlangen, weil er selbst und nicht die Behörde die rechtlich entscheidende Bedingung für den sozialrechtlichen Nachteil gesetzt habe.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Kernaussagen

  • Die Pflicht zur ärztlichen BK-Anzeige besteht, wenn aus der subjektiven Sicht des Arztes die Krankheit mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängt.
  • Die bundesgesetzliche Anzeigepflicht ver- drängt die ärztliche Schweigepflicht.
  • Die BK-Anzeige ist unverzüglich – gege- benenfalls auch entgegen dem erklärten Willen des Patienten – zu erstatten.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

    Foto: privat

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