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Zukunft Arbeitsmedizin: Fragen an Jessica Lang

SL: Psychische Gesundheit spielt in unserer Gesellschaft eine zunehmend wichtige Rolle. Was bedeutet das für die Arbeitsmedizin?

Univ.-Prof. Dr. rer. soc. Jessica Lang: Die Gesunderhaltung der Beschäftigten nicht nur in körperlicher, sondern auch in mentaler Hinsicht rückt in unserem Alltag seit Ende des letzten Jahrhunderts in der Tat mehr und mehr in den Fokus. So wird von den verschiedensten Krankenkassen über prozentual ansteigende Fehlzeiten am Arbeitsplatz im Vergleich zu anderen Erkrankungsarten berichtet. Insbesondere die erhöhte Falldauer bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung wird dabei betont. Dies ist nicht nur gesellschaftlich relevant aufgrund erhöhter Kosten für Behandlung und Absentismus vom Arbeitsplatz, zusätzlich wird auch über einen nicht zu unterschätzenden Anteil an Produktivitätsausfall aufgrund von Präsentismus psychisch kranker und damit eingeschränkt leistungsfähiger Beschäftigter gesprochen.

Unabhängig von den Kosten sollte aber genauso der damit einhergehende Leidensdruck für die Betroffenen gesehen werden sowie für deren Angehörigen und die Arbeitskolleginnen und -kollegen. Psychische Erkrankungen haben mehrheitlich eine multifaktorielle Genese, wobei auch die Komorbidität zu anderen organischen Erkrankungen wie zum Beispiel Muskel-Skelett-Erkrankungen oder Krebserkrankungen zu berücksichtigt werden muss. Im Arbeitsumfeld wissen wir aus der Forschung, dass die Gestaltung der Arbeitsbedingungen einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung psychischer Erkrankungen wie Depression, Angst- und Anpassungsstörungen haben kann. Selbst wenn es Frühwarnindikatoren für diese Erkrankungen gibt, die sich in einer Befindensbeeinträchtigung äußern können, werden diese häufig nicht oder zu spät wahrgenommen, sowohl von der betroffenen Person selbst oder auch von ihrem Umfeld.

Für die Arbeitsmedizin wird sich die Auseinandersetzung mit der psychischen Gesundheit der Beschäftigten im sekundärpräventiven Setting und der Arbeitsgestaltung hinsichtlich psychischer Belastungen im primärpräventiven Setting als Handlungsfeld stark ausweiten. In der Praxis wird es darum gehen, aus einem ganzheitlichen Ansatz heraus auch bei Untersuchungsanlässen und in Anamnesegesprächen auch die psychische Gesundheit der Beschäftigten mit zu erfassen, etwa über Kurzscreenings und Früherkennungsmaßnahmen. Damit kann den einzelnen Betroffenen frühzeitig Unterstützung angeboten werden. Hierbei Schnittstellen zu beratenden und therapeutischen Einrichtungen herzustellen, wird einen zentralen Erfolgsfaktor darstellen.

Häufen sich bei den Vorsorgeanlässen die Vorkommnisse psychischer Beeinträchtigungen oder sogar Erkrankungen in einem Betrieb, können gezielt über die Partizipation in der Gefährdungsbeurteilung die Arbeitsplätze nach ihrem Ausmaß an psychischem Belastungspotenzial analysiert werden. Unabhängig vom Auftreten psychischer Gesundheitsprobleme im Betrieb, wird es im Rahmen von regulären Gefährdungsbeurteilungen von Vorteil sein, die eigenen Kompetenzen in der Erfassung und Bewertung psychischer Belastungsfaktoren stetig auszubauen, auch weil sich die Arbeitswelt in einem immer schnelleren technischen Wandel befindet. Der Fortschritt der Digitalisierung, der Robotik und der Autonomie künstlich intelligenter Systeme muss bei der Einführung neuer Arbeitstechniken die potenziellen Einflüsse auf das menschliche Erleben und Verhalten initial mit berücksichtigen.

Im Kontext des Wandels der Arbeitswelt wird es auch für die arbeitsmedizinische Forschung von großer Bedeutung sein, die technischen Entwicklungen eng zu begleiten und dabei Studien durchzuführen, um die Auswirkungen dieser neuen Systeme auf die Beschäftigten zu beobachten und zu verstehen, im Sinne von neuen oder geänderten Anforderungen an die Kognition, Emotion und das Verhalten. Nur so können Maßnahmen für den Erhalt der psychischen Gesundheit vor der Implementierung potenziell schädlicher Arbeitsmittel oder -abläufe entwickelt werden.

Das Interview wurden von Herrn Professor Stephan Letzel anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) geführt und in der ASU-Ausgabe 04/2022 erstmals veröffentlicht.