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In: ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 643–645

Zum Diskussionspapier des Ausschusses für Arbeitsmedizin (AfAMed): „Perspektiven für die Arbeitsmedizin“

Siehe auch https://www.asu-arbeitsmedizin.com/praxis/diskussionspapier-des-ausschu… (Kurzversion) und https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Geschaeftsfuehrung-von-Ausschuessen/AfA… (ungekürzte Fassung)

Vorbemerkung

Es ist ein Gewinn für die Arbeitsmedizin, wenn sie sich ein Positionspapier gibt, um Standpunkte, Aufgaben und dabei auch Perspektiven zu beschreiben. Das breite Aufgabengebiet der Arbeitsmedizin, das sich über nahezu alle Krankheitsgruppen erstreckt und die vielfältigen Konsequenzen aus Belastungen und Gesundheit in einem so­zialpolitisch vorgegebenen Konsens aus medizinischer Sicht lösen soll, kann so für die Breite der an der Arbeitsmedizin mitwirkenden und ihre Bedingungen mitbestimmenden Medizinerinnen und Mediziner, Sozialpartner und politisch Tätigen beschrieben werden.

Fortschritte im Detail

Hervorgehoben werden sollen im Folgenden vor allem drei Ideen aus dem Diskussionspapier:

Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen (4.3)

Die Prävention von sogenannten „arbeitsbedingten Zivilisationserkrankungen“ ist als Teil eines Konzepts zur Erhaltung der (mindestens) Beschäftigungsfähigkeit in einer alternden Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Dabei ist weiter aufzuklären:

  • Der Begriff „arbeitsbedingt“ ist zwar in Deutschland eingeführt (wohl begünstigt durch die Kausalität der Berufskrankheiten), jedoch wäre der Begriff „arbeitsbezogen“ wie bei den „work-related diseases“ zutreffender, da arbeitsbedingt vorwiegend die nachteiligen Folgen von Arbeit auf Gesundheit aufgreift und nicht die gesunderhaltenden und -fördernden Aspekte der Arbeit aufnimmt. Das deckt sich mit der Bezeichnung der „Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesundheit“ in der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV).
  • Arbeitsmedizinische Vorsorge (4.6)

    Zu unterstützen ist das Ziel, dem hohen Anspruch der Definition der Vorsorge in §1 der ArbMedVV zu entsprechen und das Konzept einer „ganzheitlichen arbeitsmedizinischen Vorsorge“ zu erarbeiten. Zu beachtende Aspekte dieser ganzheitlichen Vorsorge sind unter anderem:

  • Betriebsärztliche Vorsorge erreicht auch Personen im jüngeren Lebensalter oder ohne akuten Leidensdruck und somit solche, bei denen der Effekt von Prävention gegenüber der Therapie im Vordergrund steht.
  • Prävention im Rahmen der gesetzlichen Vorsorge bei der Betriebsärztin/dem Betriebsarzt bezieht sich auf Personen, die unter erhöhten gesundheitlichen Gefährdungen tätig sind. Soweit es sich um Personen mit physischen Gefährdungen (z. B. bei sog. Basisarbeit) handelt, sind es gerade jene, die an allgemeinen Krankenversicherungs-Vorsorgeangeboten nur in geringem Grad teilnehmen.
  • Die Bedenken niedergelassener Ärztinnen und Ärzte, die Betriebsärztinnen und -ärzte „mischen sich in die kassenfinanzierte Betreuung ein“, sind unbegründet und nicht nachzuvollziehen, da eher die gegenseitige Ergänzung über Kenntnisse von Krankheitsursachen und über die Nutzung vorhandener Diagnostikergebnisse im Vordergrund stehen.
  • Die angeführten Gesichtspunkte sind zwar überwiegend in der Arbeitsmedizin bekannt, sie müssen jedoch zu ihrer Lösung in die Politik getragen werden. Dazu braucht die Arbeitsmedizin
    Verbündete.

    Wissensmanagement (4.9)

    Die Entwicklung eines zukunftsfähigen Wissensmanagements ist eine sehr gute Idee, denn derzeitig finden sich wichtige Quellen und Informationen verstreut auf unterschiedlichen Plattformen wie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und deren einzelnen Berufsgenossenschaften sowie des Instituts für Arbeitsschutz der DGUV (IFA), des Instituts für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA) und des Instituts für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG), Verbänden und Gesellschaften wie dem Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) und anderen. Die Schwierigkeit wird wohl darin bestehen, bei fachspezifischen Teilthemen eine Koordination im Sinn des zitierten Wiki-Prinzips zu realisieren.

    Gesichtspunkte, die im Diskussionspapier weiter zu ­bedenken sind

  • Neue und „alte“ Arbeit: Die Entwicklung von Inhalten und Aufgaben der Arbeitsmedizin muss einen „Spagat“ zwischen der Zuwendung zu neuen Technologien, Entwicklungen und Arbeitsformen und der Beibehaltung vieler Arbeitsverhältnisse mit weniger gewandelten klassischen Arbeitsformen im Handwerk, in der Landwirtschaft, bei Bau- und Montagetätigkeiten – einschließlich der Ausbaugewerke, im Gastronomie- und Dienstleistungsbereich sowie der Logistikbranche – mitsamt der jetzt unterschiedenen „Basisarbeit“ bewältigen. Neben beispielsweise Telemedizin und mobiler Arbeit bleibt für sehr viele weitere Beschäftigte die körperliche Belastung (z. B. Abnahme von Maximalbelastungen, Zunahme der Belastungshäufigkeiten, Zeitdruck) entscheidend. Dazu müssen Schwerpunkte formuliert werden, das heißt, das Entwicklungsprogramm muss breiter aufgestellt werden und darf nicht den Tenor vermitteln, als würden die neuen Arbeitsformen und Belastungsprofile die alten ersetzen.
  • Die Arbeitsteilung zwischen niedergelassenen Ärztinnen/Ärzten und Betriebsärztinnen/-ärzten wird nicht direkt angesprochen – bis auf den Verweis auf das Präventionsgesetz. Wahrscheinlich ist dies nicht kurzfristig erreichbar.
  • Das Kapitel 3.4 „Betreuungskonzepte“ bildet nicht die Erfordernisse ab. Die Verbesserung der Versorgungssituation bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) ist real trotz vielfältiger Bemühungen kaum vorangekommen. Die DGUV Vorschrift 2 hat trotz vielfacher Modellentwicklungen offensichtlich bei weitem nicht dazu geführt, dass Beschäftigte von Kleinbetrieben eine annähernd hinreichende betriebsärztliche Betreuung bekommen. Diese Entwicklung passt indirekt zur Minimierung der Ausstattung der gewerbeärztlichen Dienste. Selbst die vorhandenen Gewerbeärztinnen und -ärzte füllen bei weitem nicht das Feld aus, für das sie zuständig wären.
  • Der Verweis auf die Vorteile der Bestellung interner Betriebs­ärztinnen und -ärzte sowie Sicherheitsfachkräfte gegenüber der Beauftragung überbetrieblicher Dienste ist nicht nur inhaltlich unkorrekt, sondern auch verbandspolitisch ein Fehler. Viele überbetriebliche Dienste sind in großen Unternehmen und Einrichtungen umfangreich mit hohen Stundenkontingenten tätig und haben sogar den Vorteil, in verschiedenen Territorien durch interne Absprachen gleichartig im Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden arbeiten zu können.
  • Prävention von Berufskrankheiten (4.4): Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sollten nicht nur die Meldung des begründeten Verdachts einer Berufskrankheit erhalten, sondern müssen diese Information auf jeden Fall verpflichtend bekommen. Dafür ist ein Informationsweg verbindlich zu gestalten.
  • Betriebsärztliche Beiträge zur Prävention von Berufskrankheiten sind wohl nicht Früherkennung möglicher „Beanspruchungsfolgen“, sondern Früherkennung von „Belastungsfolgen“.
  • Die Gefährdungsbeurteilung wird fast nicht angesprochen, obwohl sie der Ankerpunkt für die Vorsorge ist. Der geringe Grad ihrer Umsetzung insbesondere bei kleinen Unternehmen ist ein Defizit, das sich auch auf die Qualität der betriebsärztlichen Betreuung auswirkt und formales Vorgehen begünstigt. Hier fehlen solche Aspekte wie die Umsetzung der gesetzlichen Mindestanforderungen als Basis einer sachgerechten Vorsorge und Entwicklung gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, das Zusammenwirken mit dem Eingliederungsmanagement etc.
  • Abschließende Bemerkung

    Ein Diskussionspapier zu den Perspektiven der Arbeitsmedizin muss sich sowohl den neuen Entwicklungen als auch dem Erhalt der „klassischen“ Betreuung zuwenden, soweit dies erforderlich ist.

    Es sollte auch Sachverhalte aufgreifen, die nicht in der eigenen Verantwortung der Arbeitsmedizin liegen. Der hohe sozialpolitische Durchdringungsgrad arbeitsmedizinischer Tätigkeit mit politischen Vertretungsorganen und Sozialpartnern, zum Beispiel in der DGUV, grenzt teilweise auch die fachliche Beweglichkeit der Arbeitsmedizin ein, sie ist aber zugleich eine Chance für verbindliche Regelungen.

    doi:10.17147/asu-1-245715

    Kontakt

    Prof. Dr. med. Bernd Hartmann

    Facharzt für Arbeitsmedizin, Mitglied der DGAUM

    Dr. med. Heidrun Hartmann

    Fachärztin für Arbeitsmedizin

    Hartmannbernd_hamburg@web.de

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