Development of the Recommendation COVID-19, and Additional Statement from a Legal and Medical Point of View
Bereits in der Publikation in Heft 7/2022 der ASU wurde auf den vorläufigen Charakter und die Notwendigkeit der Überarbeitung im weiteren Verlauf hingewiesen. Weiterhin wurde um Rückmeldung von mit Begutachtungen befassten Personen gebeten, um in einem Revisionsprozess die Begutachtungsempfehlung zu überarbeiten. Seit der Manuskripterstellung sind zur gleichen Thematik zahlreiche Publikationen erschienen, unter anderem weitere medizinische und juristische Stellungnahmen und Empfehlungen im Kontext von Begutachtungen und des Unfallversicherungsrechts. Die Prüfung Letzterer hinsichtlich der Kompatibilität mit der vorgeschlagenen Begutachtungsempfehlung ergab zwar Unterschiede in der Herangehensweise und dem Betrachtungswinkel bei der Erstellung, die finalen Stellungnahmen beziehungsweise Empfehlungen stehen jedoch nicht im Widerspruch zueinander, sondern thematisieren vielmehr sich ergänzende Aspekte.
Rechtliche beziehungsweise medizinrechtliche Anpassungen
Auch aus rechtlicher Sicht ist die Erstellung einer Begutachtungsempfehlung zu COVID-19 uneingeschränkt zu begrüßen,3 zwei rechtliche Aspekte aus dem ersten Empfehlungsentwurf erfordern jedoch eine rechtliche differenzierte Betrachtung.
Anhand der nachfolgenden Diskussion wird deutlich, wie wichtig ein interdisziplinärer Austausch der unterschiedlichen mit dem Thema COVID-19 im Unfallversicherungsrecht befassten Akteurinnen und Akteuren ist.
Zum Vorliegen eines Arbeitsunfalls
Juristische Beurteilung
1. In der Begutachtungsempfehlung wird ausgeführt:
„Für einen Arbeitsunfall müssen ein intensiver Kontakt mit einer infizierten Indexperson und eine Erkrankung innerhalb von zwei Wochen nachweisbar sein. Alternativ können Ausbruchsgeschehen am Arbeitsplatz unter bestimmten Voraussetzungen oder die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften zur Anerkennung führen.“4
2. Aus rechtlicher Sicht ist auszugehen von der Legaldefinition des (Arbeits-)Unfalls in § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder dem Tod führt. Denn auch für COVID-19-Infektionen gelten die allgemeinen gesetzlichen Regeln und die zu ihrer Auslegung ergangene Rechtsprechung, insbesondere
des Bundessozialgerichts (BSG), ist zu beachten.
Zutreffend und in Übereinstimmung unter
anderem mit den aktuellen, veröffentlichten Aussagen der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV)5 werden als mögliches Unfallereignis ein intensiver Kontakt mit einer Indexperson oder alternativ ein Ausbruchsgeschehen am Arbeitsplatz oder die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften unter bestimmten Voraussetzungen angesehen. Dies genügt für ein zeitlich begrenztes Ereignis, für das typischerweise die zeitliche Grenze von „einer Schicht“ angenommen wird, ohne dass es ein datumsmäßig bestimmbarer Tag sein muss, und das der Abgrenzung zur Berufskrankheit (BK) dient, für die in der Regel längerfristige Einwirkungen erforderlich sind.6 Die in dem Beitrag zur Begutachtungsempfehlung gebrauchte Wendung „Erkrankung innerhalb von zwei Wochen“ bezieht sich auf eine weitere Voraussetzung des Unfall i. S. d. § 8 SGB VII, den Gesundheitsschaden, ohne den kein Arbeitsunfall i. S. d. gesetzlichen Unfallversicherung vorliegt.7 Dieser Gesundheitsschaden wird in der sozialrechtlichen Rechtsprechung und Literatur oft als Gesundheits(erst)schaden bezeichnet, um den Gesundheitsschaden zur Feststellung des Versicherungsfalls „Arbeitsunfall“ von den länger andauernden Unfallfolgen abzugrenzen, die Voraussetzung für bestimmte Leistungen, wie insbesondere eine Verletztenrente (§§ 56 ff. SGB VII), sind.8
An einen Gesundheits(erst)schaden sind keine besonderen Voraussetzungen zu stellen: Jede kleine Verletzung genügt, aber es muss kein Blut fließen, wie innere Verletzungen oder psychische Traumen als Beispiele belegen.9 Demgemäß genügen bei einer COVID-19-Infektion die oft beschriebenen Erkältungssymptome als Gesundheits(erst)-schaden.
3. Rechtliche Schwierigkeiten werfen die Fälle von symptomlos verlaufenden COVID-19-Infektionen und später auftretenden Post-COVID-Beschwerden auf, in denen eine BK nicht vorliegt10 und die nur als Arbeitsunfall anerkannt werden können.
Denn der bloße Nachweis einer COVID-19-Infektion zum Beispiel mittels PCR-Tests bei symptomfreiem Verlauf reicht mangels Gesundheits(erst)schaden nicht aus, um die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls zu erfüllen. Ebenso wie bei BKen, bei denen eine bloße Infektion ohne Auswirkungen auf die Körperfunktionen keine Erkrankung ist, liegt gleichermaßen bei einer als Unfallereignis anzusehenden Infektion ohne körperliche Auswirkungen kein Gesundheitsschaden vor.11
Selbst wenn für den Gesundheitsschaden aufgrund des Unfallereignisses nicht gefordert wird, dass er an demselben Tag auftritt, an dem das Unfallereignis war, weil das „zeitlich begrenzt“ im Gesetzeswortlaut des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sich nur auf das Unfallereignis bezieht und schon nach der älteren Rechtsprechung des BSG die Feststellung von Infektionen als Arbeitsunfall möglich war und eine Infektion typischerweise Zeit braucht, um Wirkung zu entfalten,12 setzt der Begriff des Unfalls einen „gewisse zeitliche Nähe“ zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden voraus.
Dieses Problem ist nicht neu, wie insbesondere anhand der Diskussion um psychische Traumen deutlich wird.13
Eine klare Bestimmung der „gewissen zeitlichen Nähe“ nach Tagen ist in der Rechtsprechung und juristischen Literatur nicht zu finden. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass es keine allgemein verbindliche Grenze aufgrund der tatsächlichen medizinischen Unterschiede zwischen Unfallereignissen und der durch sich verursachten Gesundheitsschäden gibt. Entscheidend ist letztlich im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität die Beurteilung, ob ein bestimmtes Ereignis einen bestimmten Gesundheitsschaden nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung verursacht hat.14
Wenn es Fälle gibt, in denen nach einer zunächst symptomlos verlaufenden COVID-19-Infektion mit zeitlicher Verzögerung von mehreren Wochen Post-COVID-Beschwerden auftreten, die durch die angeführte Infektion verursacht wurden, steht diese zeitliche Verzögerung des Auftretens des Gesundheitsschadens einer Bejahung des Ursachenzusammenhangs rechtlich nicht entgegen. Dies mag mit einem allgemeinen Begriff des Unfalls als plötzliches Geschehen schwer vereinbar sein, ist aber die rechtliche Folge der zunächst gegebenenfalls rein inneren und nicht äußerlich sichtbaren Wirkung des Unfallereignisses – ähnlich wie bei psychischen Traumen und dem zeitlich verzögerten Auftreten von erkennbaren psychischen Beschwerden.
Demgemäß kann die in der Begutachtungsempfehlung angeführte 2-Wochen-Regel als Faustformel aufgrund der Inkubationszeit bei COVID-19 zur Erleichterung der Feststellung eines Arbeitsunfalls durch eine COVID-19-Infektion dienen. Sie ist jedoch kein Ausschlusskriterium für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls in den Fällen einer zunächst symptomlos verlaufenden COVID-19-Infektion und von mit zeitlicher Verzögerung von mehreren Wochen auftretenden Post-COVID-Beschwerden. Erforderlich ist vielmehr in diesen Fällen neben der Feststellung der COVID-19-Infektion als Unfallereignis und der aktuell vorliegenden Beschwerden eine Beurteilung des Ursachenzusammenhangs nach der Theorie der wesentlichen Bedingung.
Medizinisch-gutachterliche Einschätzung
Der differenzierten juristischen Diskussion ist vollumfänglich zuzustimmen.
Zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung war für eine COVID-19-Erkrankung als Arbeitsunfall ein Erkrankungsbeginn innerhalb von 14 Tagen nach Kontakt mit der Indexperson, das heißt in einer vergleichsweise weitgefassten Inkubationszeit, seitens der DGUV auf ihrer Informationsseite gefordert worden.15 Im Rahmen der Erstellung der Begutachtungsempfehlung wurde auf verfügbare Empfehlungen und Definitionen, die von relevanten Institutionen veröffentlicht wurden sind, zurückgegriffen und in diesem Fall übernommen. Mittlerweile ist der entsprechende Passus auf der Seite der DGUV nicht mehr zu finden.
Grundsätzlich stellt sich aus medizinischer Sicht die Frage, ob ein Post-COVID-Syndrom entstehen oder angenommen werden kann, wenn es sich um eine primär asymptomatische Infektion handelt. Letztlich handelt es sich hierbei um eine aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht bisher nicht final evidenzbasiert beantwortete Frage, die in Rahmen von Begutachtungen jedoch von erheblicher Relevanz sein kann. Bezüglich Post-COVID beziehungsweise des Post-COVID-Syndroms bestehen mehrere, nicht übereinstimmende Definitionen von unterschiedlichen Institutionen, unter anderem der Weltgesundheitsorganisation und des Robert Koch-Instituts. Am 14.10.2022 wurde im Deutschen Ärzteblatt eine Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Post-COVID-Syndrom veröffentlicht. In dieser wird ausgeführt:
„Betroffen sind [auch] sowohl Menschen mit asymptomatischem oder mildem Akutverlauf […].“16
Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme empfehlen die Autorinnen und Autoren in Fallkonstellationen mit asymptomatischen Akutverlauf bei gleichzeitig positivem Erregernachweis dieser Definition zu folgen. Ein asymptomatischer Akutverlauf erschwert natürlich die gutachterliche Bewertung. Eine ausführliche und kritische Einzelfallprüfung ist unabdingbar. Auch bedarf in derartigen Konstellationen der zeitliche Verlauf zwischen Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion und Symptombeginn (i. S. eines Post-
COVID-Syndroms) und der damit verbundene Passus einer „gewissen zeitlichen Nähe“ einer ausführlichen Würdigung in der Beurteilung. In der Regel wird mit zunehmender Latenz die Wahrscheinlichkeit einer kausalen Verknüpfung von Infektionsereignis und Symptomkomplex geringer zu bewerten sein. Insbesondere der umfassenden Ausschlussdiagnostik kommt aufgrund des uneinheitlichen Post-COVID-Symptombilds bei zunehmender Latenz eine immer größere Bedeutung zu. Zudem sind etwaig stattgehabte, konkurrierende COVID-19-Infektionsereignisse im nicht-versicherten Bereich oder andere geeignete Auslöser (z. B. Epstein-Barr-Virus-Infektion) bei der Beurteilung zu
berücksichtigen.
Synopsis
Zusammenfassend wird oben zitierte Passage wie folgt angepasst:
„Für einen Arbeitsunfall müssen ein intensiver Kontakt mit einer infizierten Indexperson und eine Erkrankung mit gewisser zeitlicher Nähe nachweisbar sein, wobei ein Post-COVID-Syndrom auch bei Betroffenen ohne Akutsymptomatik auftreten kann.16 Eine Einzelfallbetrachtung mit besonderer Berücksichtigung und kritischer Würdigung des zeitlichen Verlaufs inkl. Latenz, ggf. weiterer stattgehabter COVID-19-Infektionen im nicht-versicherten Bereich und denkbarer Differenzialdiagnosen ist von vorrangiger Bedeutung für die gutachterliche medizinische Bewertung.“
Zur Feststellung eines Post-COVID-19-Zustands
Juristische Beurteilung
1. In der Begutachtungsempfehlung wird ausgeführt
„Wir schlagen vor, dass zur Erbringung des Vollbeweises eines Post-COVID-Zustands […] zu fordern sind. Damit könnte der Vollbeweis eines Post-COVID beziehungsweise der Folgen einer COVID-19-Infektion im Sinne des UV-Rechts („mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“) als erbracht anzusehen
sein.“17
Aus rechtlicher Sicht vermischt diese Aussage die Feststellung eines bestimmten Gesundheitszustands beziehungsweise Diagnose, die nach den rechtlichen Vorgaben mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit (dem sog. Vollbeweis) zu erfolgen hat, mit der Feststellung der Ursache dieses Gesundheitszustandes – also der Ursachenbeurteilung, die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu erfolgen hat und für die als Beweismaßstab die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt.
2. Aus rechtlicher Sicht ist von folgender „Kette“ der grundsätzlich übereinstimmenden, gemeinsamen Voraussetzungen für die Feststellung eines Arbeitsunfalls oder BK auszugehen:18
In bestimmten Konstellationen bedürfen diese Voraussetzungen gewisser – und vor allem begründeter – Modifikationen. Die Feststellung eines Arbeitsunfalls oder einer BK setzt dauerhafte Gesundheitsstörungen nicht voraus; jene sind aber Voraussetzung für bestimmte auf ihnen beruhende Leistungen (Schlagwort: haftungsausfüllende Kausalität), wie Heilbehandlung (§§ 27 ff. SGB VII)
oder Verletztenrente (§§ 56 ff. SGB VII).
Als Beweismaßstab erfordern der Versicherungstatbestand, die Verrichtung, die Einwirkungen beziehungsweise das Unfallereignis und der Gesundheitsschaden beziehungsweise die Krankheit den sogenannten Vollbeweis, also eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden verbindenden (Ursachen-)Zusammenhänge, die der juristischen Zurechnung bestimmter Ursachen und „Erfolge“ dienen, genügt – soweit sie einem Beweis zugänglich sind – die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit19.
Die Theorie der wesentlichen Bedingung beinhaltet eine zweistufige Prüfung. Die erste Stufe ist eine Prüfung aufgrund der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie, nach der jedes Ereignis (= Bedingung) Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (Conditio-sine-qua-non-Formel). Erst wenn dies im Hinblick auf eine versicherte Ursache, also ein Unfallereignis oder BK-Einwirkungen, feststeht, stellt sich auf der zweiten Stufe die Frage, ob diese versicherte, naturwissenschaftliche Ursache rechtlich wesentlich ist. Kriterien zur Beantwortung dieser Rechtsfrage sind unter anderem auf der ersten Stufe festgestellte andere Ursachen für den Erfolg sowie der Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands.20
3. Zur Klärung der haftungsbegründenden Kausalität, die im Mittelpunkt der Begutachtungsempfehlung und ihrer oben wiedergegebenen Aussage steht, hat es sich in der Praxis bewährt, folgende Beweisfragen zu stellen:
Zunächst sollte ganz allgemein geklärt werden, woran die Person überhaupt leidet, entweder insgesamt oder bezogen auf ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fachrichtung.
Anschließend ist entsprechend der oben dargestellten zweistufigen Kausalitätsprüfung weiter zu fragen:
Diese Frage zielt nur auf die naturwissenschaftlichen Ursachen nach der ersten Prüfungsstufe ab.
Und schließlich die Frage:
Dies erfordert eine wertende Beurteilung, die zwar letztlich dem juristischen Entscheider vorbehalten ist, der seine Beurteilung allerdings in der Regel nicht ohne entsprechende medizinische Informationen und Begründungen sachgerecht treffen kann, so dass diese Frage auch an die medizinischen Sachverständigen zu stellen ist.
4. Bei der für COVID-19-Infektionen entscheidenden BK Nr. 3101 Infektionskrankheiten ist hinsichtlich der Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität folgende Rechtsprechung des BSG zu beachten: „Liegen eine durch die versicherte Tätigkeit bedingte besonders erhöhte Infektionsgefahr und die Infektionskrankheit vor, nimmt der Verordnungsgeber typisierend an, dass die Infektion während und wegen der Gefahrenlage erfolgte und die Krankheit wesentlich verursacht hat.“22
Hierbei handelt es sich um eine Tatsachenvermutung, die jedoch erschüttert werden kann und nur für die BK Nr. 3101 („Infektionskrankheiten“) besteht, nicht hingegen für Infektionen durch Arbeitsunfälle.
Diese Rechtsprechung hat folgende Konsequenzen: Bei ärztlichem oder pflegerischem Personal, das auf einer Krankenhausabteilung mit COVID-19-Patientinnen/-Patienten tätig war, einen positiven PCR-Test, aber sonst zunächst keine einschlägigen Symptome hatte und nach einigen Wochen an länger andauernden Beschwerden leidet, wie sie auch bei COVID-19 auftreten, ist die BK Nr. 3101 ohne große Prüfung aufgrund der Vermutung anzuerkennen. Eines Entscheidungsalgorithmus bedarf es nicht. Anderes würde nur gelten, wenn Gründe vorliegen, die die Vermutung erschüttern.
Eine solches „Erschüttern“ der aufgezeigten Tatsachenvermutung nach der Rechtsprechung des BSG ist bei COVID-19-Fällen zumindest dann zu erwägen, wenn die erkrankte Person nicht an spezifischen somatischen Folgen einer COVID-19-Infektion leidet, sondern an einer unspezifischen Folgesymptomatik.23 Denn in solchen Fällen greift die der Rechtsprechung des BSG zugrunde liegende Tatsachenvermutung zwischen einer bestimmten Infektion und der ihr zuzuordnenden Infektionskrankheit nicht.
Ist die aufgezeigte Tatsachenvermutung erschüttert, so hat auch bei der BK Nr. 3101 eine Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität nach den oben dargestellten allgemeinen Maßstäben zu erfolgen.
Diese Maßstäbe gelten ohnehin in den Fällen, in denen in Ermangelung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen keine BK, sondern (nur) ein Arbeitsunfall zu prüfen ist.
Für die Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität zwischen einer Infektion und bestimmten aktuell vorliegenden Gesundheitsschäden/Erkrankungen sollten die oben dargestellten drei Beweisfragen zugrunde gelegt werden, weil nur so die verschiedenen Beweismaßstäbe auseinandergehalten werden können:
Erst wenn alle drei Beweisfragen mit dem entsprechenden Beweismaßstab beantwortet sind, ist geklärt, ob die oder welche der beklagten Beschwerden als Post-COVID-Erkrankung aufgrund einer BK oder eines Arbeitsunfalls festzustellen sind.
Medizinisch-gutachterliche Einschätzung
Das oben genannte Prozedere ist gängige gutachterliche Praxis. Jedoch zeigt sich im konkreten Fall der Diagnose „Post-COVID-Syndrom“ häufig eine besondere Konstellation, bei der sich zum aktuellen Zeitpunkt aus medizinischer Sicht eine gewisse Verknüpfung von Sicherung des Post-COVID-Syndroms (= Gesundheitsschaden) im Vollbeweis einerseits und Kausalitätsbeurteilung (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit) andererseits nicht vermeiden lässt.
Der Begriff beziehungsweise die Diagnose Post-COVID-Syndrom beinhaltet explizit, dass dieses Symptomenbild nur unter der Voraussetzung einer stattgehabten COVID-19-Infektion auftreten kann und mit dieser im Zusammenhang steht. Somit ist bei der Sicherung des Gesundheitsschadens „Post-COVID-Syndrom“ als Folgeschaden die Kausalitätsbeurteilung, ob die Symptomatik auf die ursprüngliche COVID-19-Infektion zurückzuführen ist, aus medizinischer Sicht inhärent.
Die Pathogenese der verschiedenen Ausprägungen des Post-COVID-Syndroms ist bisher nicht gesichert. Daher ist auch unklar, ob es sich beim Post-COVID-Syndrom um die Manifestation bei einer (chronisch verlaufenden) Viruspersistenz mit Infektionssymptomatik im engeren Sinne oder zum Beispiel um viral angestoßene immunologische Prozesse handelt, die wiederrum selbst mit einer Latenz zur Infektion verbunden sind.
Es ist auch festzuhalten, dass es sich beim Post-COVID-Syndrom nicht um einen definierten Symptomenkomplex handelt, sondern vielmehr um eine Vielzahl von Symptomen und Einschränkungen, die nahezu alle Organsysteme mit einbeziehen können, wobei auch je Organsystem unterschiedliche Manifestationen beschrieben sind. Es bestehen folglich individuelle Symptomkonstellationen gegebenenfalls mehrerer betroffener Organsysteme. Letztlich existiert nicht das eine Post-COVID-Syndrom, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Post-COVID-Syndrome. Dementsprechend hohes Gewicht hat bei der Beurteilung die Ausschlussdiagnostik.
Tatsächlich ist das Post-COVID-Syndrom derzeit häufig, vor allem im Falle unspezifischer, nicht objektivierbarer Symptome, nicht positiv nachzuweisen. Insofern
kann die Formulierung in der Begutachtungsempfehlung falsch verstanden werden. Diese sollte ausdrücken, dass eine Symptomkonstellation vorliegen müsse, wie sie für das Post-COVID-Syndrom beschrieben ist und die nicht durch eine andere Erkrankung erklärbar ist (z. B. vorbestehende Depression, Schilddrüsenunterfunktion, Schlaganfall bei vorbestehendem Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz bei Zustand nach Herzinfarkt infolge einer nachgewiesenen KHK o. Ä.). In diesen Fällen wäre davon auszugehen, dass kein rationaler Zweifel an der Diagnose Post-COVID-Syndrom besteht und diese aus medizinischer Sicht als im Vollbeweis gesichert zu betrachten ist. Den Wahrscheinlichkeitsnachweis, also den Nachweis, dass die angeschuldigte (gesetzlich unfallversicherte) COVID-19-Infektion Ursache der Beschwerden ist, müsste man allenfalls dann noch diskutieren, wenn auch eine andere, konkurrierende (Infektions-)Krankheit zu einer solchen Symptomatik geführt haben könnte oder eine weitere COVID-19-Infektion außerhalb des UV-Rechts stattgefunden hat. Bestehen jedoch Zweifel an der Verursachung des Symptomenkomplexes durch SARS-CoV-2, so ist auch die Diagnose Post-COVID-Syndrom nicht zu stellen, da es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt.
Der Nachweis bestimmter Befunde und der Ausschluss von Differenzialdiagnosen dient im Kontext der medizinischen Begutachtung und der Begutachtungsempfehlung der Sicherung des Post-COVID-Syndroms mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Gleichzeitig werden hierbei unvermeidlich die medizinischen Kausalitätskriterien ebenfalls geprüft, so dass von medizinischer Seite aus kaum eine Trennung möglich sein dürfte, wenn es sich um die Begrifflichkeit „Post-COVID-Syndrom“ handelt.
Letztendlich stehen Gutachterinnen und Gutachter vor der Herausforderung, ein Krankheitsbild zu beurteilen, das weiterhin nicht einheitlich definiert ist, zudem es eine Vielzahl unterschiedlicher und zum Teil widersprüchlicher Publikationen gibt und dessen Beurteilung einer stetigen und rasanten Entwicklung unterliegt. Für diese Probleme sollte die Begutachtungsempfehlung einen möglichen, transparenten und praktikablen ersten Lösungsweg aufzeigen.
Synopsis
Eine Berücksichtigung des juristischen Einwands könnte dadurch erreicht werden, auf den Begriff „Post-COVID-Syndrom“ im Rahmen der Begutachtung (zunächst) zu verzichten, sondern ausschließlich andere medizinische Begriffe für die (subjektiven) Symptome und die (objektiv) erhobenen Befunde zu nutzen und diese dann der Kausalitätsprüfung zu unterziehen. Ergibt sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Kausalität von Infektion und Gesundheitsschaden, können die festgestellten Diagnosen „i. S. eines Post-COVID-Syndroms“ gewertet
werden.
Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren müssen vorrangig zwei Fallkonstellationen unterschieden werden:
Ergänzend ist anzumerken, dass es auch Begutachtungsfälle gibt, bei denen beide vorgenannten Konstellationen gleichzeitig vorliegen, das heißt ein objektivierbarer Organschaden und eine nicht hierdurch zu erklärende unspezifische Symptomatik. In diesen Fällen sind bei der Zusammenhangsbeurteilung auch beide in Abb. 1 dargestellten Prozedere auf die jeweiligen Krankheitsanteile anzuwenden und getrennt voneinander zu beurteilen. Auch sind nicht-objektivierbare mittelbare Erkrankungsfolgen von objektivierbaren Organschäden möglich, die entsprechend zu beurteilen sind.▪
Interessenskonflikt: Prof. Drexler ist als Gutachter für Unfallversicherungsträger und Gerichte tätig. Prof. Drexler ist Mitglied im ärztlichen Sachverständigenrat. Prof. Schmitz-Spanke, Dr. Hiller und Dr. Ott wirken als Sachbearbeitende bei Gutachten im Auftrag von Unfallversicherungsträgern und Gerichten mit. Prof. Becker hat keinen Interessenskonflikt angegeben.
doi:10.17147/asu-1-257902
Weitere Infos
COVID-19 als Berufskrankheit und Arbeitsunfall – Entwurf einer Empfehlung für die Begutachtung von Erkrankungsfolgen und Post-COVID (ASU 07-2022)
https://www.asu-arbeitsmedizin.com/praxis/entwurf-einer-empfehlung-fuer…
Post-COVID-Syndrom (PCS) – Stellungnahme der Bundesärztekammer
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Themen/Med…
S1-Leitlinie Long/Post-COVID (Version 2.0)
https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027l_S1_Post_COVID_Long…
S2k-Leitlinie Neurologische Manifestationen bei COVID-19 Patient*innen – Living Guideline
https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-144LG
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