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Beschluss des Bundesverfassungsrechts vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20

Keine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der Triage

Sachverhalt

Die Verfassungsbeschwerde zielt auf wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage. Die Beschwerdeführenden (Bfn) sind geistig und/oder körperlich schwerstbehinderte Menschen, die überwiegend auf Assistenz angewiesen sind.

Menschen mit einer Behinderung sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Heimen und Einrichtungen sowie bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben. Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde im Zusammenhang mit der Pandemie auf die Gefahr hingewiesen, dass behinderte Menschen bei Anwendung von Behandlungsschemata im Fall der Triage keinen gleichwertigen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten könnten. Daraufhin haben sich 138 Staaten, darunter auch Deutschland, in einer Stellungnahme ausdrücklich für eine inklusive, also nicht wegen einer Behinderung benachteiligende Reaktion auf die Pandemie ausgesprochen. Der Fachausschuss zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte der Menschen mit Behinderungen wiesen auf die besondere diskriminierungsanfällige Situation von Menschen mit Behinderung in der Pandemie hin und appellierten an die Staatengemeinschaft, insofern Schutz zu gewährleisten.

In Deutschland haben die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern in ihrer Düsseldorfer Erklärung schon im Jahr 2019 – also noch unabhängig von der Coronavirus-Pandemie – darauf hingewiesen, der Zugang zur medizinischen Versorgung müsse ohne Diskriminierung erfolgen und dies müsse auch durch Ausbildung gewährleistet werden. Eine von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebene Studie zu Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen hält im Ergebnis fest, die Forschung zeige derzeit, dass für Menschen mit Behinderungen weder ein chancengleicher Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems noch eine diskriminierungsfreie Diagnosestellung und Behandlung gewährleistet sei (Bartig et al. 2021, S. 50).

Keine gesetzlichen Vorgaben

Um in der Pandemie auftretende Knappheitssituationen in der Intensivmedizin und damit eine Triage schon von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert. Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht.

Auch in der Praxis gibt es für die Triage kein international konsentiertes System und – ebenso nach den Stellungnahmen in diesem Verfahren – keine allgemein geltenden oder rechtlich verbindlichen Standards. Es finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen für Rettungsdienste sowie klinisch-ethische Empfehlungen zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Range einer S1- Leitlinie Anwendung. Es handelt sich bei den Empfehlungen, die ausdrücklich betonen, sie könnten eine juristische Einschätzung nicht ersetzen, um informellen Expertenkonsens.

Regelungsverpflichtung des ­Gesetzgebers?

Die Bfn rügen mit ihrer am 27. Juni 2020 eingereichten Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auch die Anforderungen aus Artikel 25 der Behindertenrechtskonvention verletze, weil er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen habe, um sie wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Sie tragen vor, sie seien aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen und aufgrund ihres Assistenz- und Unterstützungsbedarfs durch die Coronavirus-Pandemie besonders stark gefährdet. Sie müssten befürchten, im Fall der Knappheit von medizinischen Ressourcen aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder gar von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Sie wiesen spezifische Beeinträchtigungen auf, die in der medizinischen Wahrnehmung und insbesondere in den klinisch-ethischen Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften als Komorbiditäten oder Gebrechlichkeit gesehen würden, was statistisch belegt die Erfolgsaussicht, auf die bei einer intensivmedizinischen Behandlung meist abgestellt werde, verschlechtere. Damit sei ihr Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt, denn diese Benachteiligung sei nicht zu rechtfertigen.

Der Gesetzgeber müsse die Triage regeln. Die Regierungen in Bund und Ländern hätten zwar Maßnahmen ergriffen, um eine Ressourcenknappheit in der Medizin zu verhindern. Ob dies gelinge, sei jedoch ungewiss. Für Priorisierungsentscheidungen und zum Schutz vor Diskriminierung gebe es keine Rechtsgrundlage. Nur im Gesetzgebungsverfahren könnten Betroffene Einfluss nehmen und nur eine gesetzliche Regelung könne sicherstellen, dass nach überprüfbaren Kriterien entschieden werde, sie nicht benachteiligt würden und schlimmstenfalls wenigstens Rechtsschutz eröffnet sei.

Die Bundesregierung beschreibt in ihrer Stellungnahme vom 14. Dezember 2020 die seit Pandemiebeginn weitreichenden Vorsorge- und Schutzmaßnahmen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Eine Triagesituation sei daher unwahrscheinlich. Der rechtliche Rahmen verbiete Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung; die Empfehlungen der Fachgesellschaften und des Ethikrates bekräftigten dies. Komorbiditäten spielten nur eine Rolle, soweit sie die Über­lebenswahrscheinlichkeit erheblich reduzierten; das sei keine Diskriminierung.

Die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig. Es gebe keinen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht umgrenze. Auch sei völlig offen, ob die Bfn während der Pandemie überhaupt einer intensivmedizinischen Behandlung bedürften und ob es dann zur Triage kommen werde. Die Verfassungsbeschwerde setze sich nicht substantiiert mit den Empfehlungen der DIVI auseinander und zeige nicht auf, dass davon eine Gefährdung des Lebens, eine Benachteiligung wegen Behinderung oder eine Verletzung der Menschenwürde ausgehen könne, die den Gesetzgeber zum Eingreifen verpflichteten. Sie beschränke sich auf eine allgemeine Befürchtung. Die Diskriminierungsverbote würden auch im Fall knapper Ressourcen gelten.

Die Verfassungsbeschwerde sei zudem unbegründet. Eine Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sei nicht ersichtlich. Der Staat habe zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um eine Überlastung der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten auszuschließen. Dies komme auch vulnerablen Gruppen zugute. Es sei nicht dargelegt oder ersichtlich, dass die Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien. Geltendes Recht genüge, um den Schutz des Lebens auch in
einer etwaigen Mangelsituation sicherzustellen; ein Abbruch einer bereits begonnenen Behandlung zugunsten anderer Behandlungsbedürftiger im Sinne einer Ex-post-Triage sei jedenfalls unzulässig. Das Grundgesetz verlange nicht, spezifische Regelungen für jede potenzielle Gefährdung zu schaffen, sondern nur, wesentliche Fragen in einem förmlichen Gesetz zu regeln. Einzelne könnten aber keine bestimmte Regelungsdichte verlangen. Es gebe auch keinen Anspruch auf staatliches Einschreiten gegen etwaige, sich an den Empfehlungen der DIVI orientierende Behandlungsentscheidungen. Es sei nicht zu beanstanden, eine intensivmedizinische Behandlung an der Erfolgsaussicht auszurichten. Der Staat könne nicht verpflichtet werden, gegen Maßnahmen einzuschreiten, die gerade den Schutz möglichst vieler Menschen bezweckten. Es gebe keinen Anspruch auf Erhöhung der eigenen Überlebenschancen auf Kosten der Rettung anderer.

Auch die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Der Tod sei hier kein Mittel zum Zweck, sondern tragisch. Die Erfolgsaussicht bewerte keine Menschenleben, sondern die Überlebenswahrscheinlichkeit. Sie stelle den Eigenwert eines Menschen nicht in Frage.

Schutzpflichtverletzung?

Der Senat erachtet die Verfassungsbeschwerde für zulässig, da sie sich gegen gesetzgeberisches Unterlassen richtet, was zulässiger Gegenstand eines solchen Verfahrens sei, wenn sich eine Handlungspflicht des Gesetzgebers aus dem Grundgesetz herleiten lasse. Eine solche komme hier aufgrund des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in Betracht. Danach könne der Gesetzgeber auch gehalten sein, wegen Behinderung drohende Diskriminierungen durch Private zu verhindern. Die Verfassungsbeschwerde ziele somit auf einen tauglichen Beschwerdegegenstand im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG.

Die Bfn legten hinreichend substantiiert dar, dass diese Schutzpflicht auch verletzt sein könne. Wegen des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers könne das Bundesverfassungsgericht die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.

Die Bfn erläuterten, dass mit den in der Intensivmedizin derzeit praxisrelevanten Entscheidungsvorgaben zumindest das Risiko verbunden sei, bei einer Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden, weil die Orientierung am Kriterium der Erfolgsaussicht einer intensivmedizinischen Behandlung ohne weitere, vor einer Benachteiligung schützende Maßgaben dazu führen könne, dass sie zugunsten anderer Behandlungsbedürftiger nachrangig oder nicht behandelt würden. Zudem werde umfänglich erläutert, dass insoweit gesetzliche Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierung fehlen. Sie zeigten zudem auf, dass sich ihre grundrechtliche Position durch eine gesetzgeberische Regelung verbessern ließe, auch weil ein Gesetzgebungsverfahren Beteiligungsmöglichkeiten eröffne. Da sie nicht gehalten seien, dem Gesetzgeber eine konkrete Regelung vorzuschlagen, mit der seine Handlungspflicht erfüllt wäre, genügt auch dies den Darlegungsanforderungen.

Gegenwärtige Betroffenheit

Die Beschwerdeführenden hätten ihre gegenwärtige Betroffenheit hinreichend begründet. Sie hätten belastbare Anhaltspunkte dafür genannt, dass zum Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde die konkrete Aussicht bestand, dass intensivmedizinische Kapazitäten nicht ausreichen könnten, um alle Bedürftigen lebensrettend zu versorgen. Dies belegten sie nachvollziehbar insbesondere mit Informationen zur damaligen Situation in Norditalien und mit Meldungen zu Einzelfällen in Deutschland. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehe erkennbar die Gefahr, dass angesichts der Entwicklung der Coronavirus-Pandemie intensivmedizinische Ressourcen nicht für alle Behandlungsbedürftigen reichten und daher über deren Zuteilung auch im Rahmen einer Triage entschieden werden müsse. Weiterhin bestehe auch das Risiko, mangels gesetzgeberischer Vorkehrungen nicht wirksam vor einer Benachteiligung wegen einer Behinderung geschützt zu sein. Die für eine zulässige Verfassungsbeschwerde geforderte gegenwärtige Betroffenheit sei damit gegeben.

Zudem sei konkret und schlüssig dargelegt, dass die Bfn aufgrund ihrer spezifischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen dem Schutz von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unterfallen und aufgrund ihrer Behinderung sowie ihres Assistenz- und Unterstützungsbedarfs durch die Coronavirus-Pandemie besonders stark gefährdet seien. Das gelte für sie im Vergleich mit nicht behinderten Menschen sowohl für das Risiko einer Ansteckung, soweit sie im Alltag intensiv und körpernah unterstützt werden müssten, als auch für das Risiko eines schweren und lebensbedrohlichen Verlaufs der Krankheit, soweit bei ihnen Erkrankungen vorlägen, die ein derartiges erhöhtes Risiko mit sich bringen.

Grundsatz der Subsidiarität

Eine Verfassungsbeschwerde, die eine gesetzgeberische Schutzpflichtverletzung rüge, sei gegenüber anderen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, eine Grundrechtsverletzung zu verhindern, grundsätzlich subsidiär. Soweit jedoch allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen seien, die das Bundesverfassungsgericht zu beantworten habe, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären, bedürfe es einer vorangehenden fachgerichtlichen Entscheidung nicht. Auch müsse der Rechtsweg vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht beschritten werden, wenn dies nicht zumutbar sei.

Es sei nicht erkennbar, wie in zumutbarer Weise eine gerichtliche Entscheidung darüber zu erlangen wäre, in der akuten Notsituation einer im Laufe der Coronavirus-Pandemie eventuell notwendigen Triage in der Intensivmedizin nicht aufgrund einer Behinderung zurückgestellt oder aufgrund bestimmter Kriterien, die eine Behinderung einbeziehen, nicht behandelt zu werden. Unabhängig von der Frage, ob derartige Behandlungsansprüche überhaupt einklagbar wären, kämen gerichtliche Eilentscheidungen im akuten Fall zu spät. Die nachträgliche Überprüfung einer ärztlichen Entscheidung sei hier nicht zielführend. Auch vorbeugender Rechtsschutz dagegen, im Fall einer intensivmedizinischen Knappheit aufgrund einer Behinderung benachteiligt zu werden, existiere realistisch nicht.

Die Verfassungsbeschwerde genüge mithin dem Grundsatz der Subsidiarität aus § 90 Abs. 2 BVerfGG.

Verfassungsrechtliche Wert­entscheidung

Der Gesetzgeber habe Vorkehrungen, dass niemand bei einer Entscheidung über die Verteilung von pandemiebedingt knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen, also in einem Fall einer Triage, aufgrund einer Behinderung benachteiligt werde, bislang nicht getroffen. Damit hat er die hier aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgende Handlungspflicht verletzt. Die Verfassungsbeschwerde sei daher auch begründet.

Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergebe sich für den Staat ein Auftrag, Menschen wirksam davor zu schützen, wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden. Aus diesem Schutzauftrag könne unter bestimmten Bedingungen eine Handlungspflicht des Gesetzgebers folgen. Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG schütze abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung, beinhalte das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung und enthalte zugleich einen Förderauftrag. Der vermittele einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten. Das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei eine objektive Wertentscheidung. Sie müsse in allen Rechtsgebieten Beachtung finden. Das Benachteiligungsverbot wirke damit auch auf das Privatrecht ein. Es sei insbesondere von den Zivilgerichten bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsfähigen und wertungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen.

Handlungsverpflichtung des ­Gesetzgebers

Als verfassungsrechtliche Wertentscheidung binde Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG alle staatliche Gewalt. Auch der Gesetzgeber sei aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verpflichtet, Vorkehrungen gegen Benachteiligungen behinderter Menschen zu treffen. Das Grundrecht ziele darauf, rechtliche und gesellschaftliche Ausgrenzung zu verhindern und zu überwinden. Insoweit ergebe sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Schutzauftrag. Dieser ließe sich nicht erfüllen, wenn Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nur in Kon­stellationen griffe, die dem Staat unmittelbar kausal zurechenbar sind, denn der Ausschluss von behinderten Menschen sei nicht allein auf staatliches Handeln zurückzuführen. Um behinderte Menschen vor Ausgrenzung zu bewahren, begründet Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auch einen Auftrag an den Gesetzgeber, sie vor einer Benachteiligung wegen Behinderung durch Dritte zu schützen.

Der grundrechtliche Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG könne sich unter bestimmten Bedingungen zu einer Handlungspflicht des Staates verdichten. Aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folge keine umfassende, auf die gesamte Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und ihres Umfelds bezogene Handlungspflicht des Gesetzgebers. Insofern sei auch zu berücksichtigen, dass Private nicht wie der Staat unmittelbar an das grundrechtliche Benachteiligungsverbot gebunden seien (Art. 1 Abs. 3 GG). Der Schutzauftrag könne sich aber in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Zu solchen Konstellationen gehöre die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung. Zudem könne eine Handlungspflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergingen. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Darüber hinaus könne sich eine konkrete Handlungspflicht auch in Situationen struktureller Ungleichheit ergeben.

Bestehe das Risiko, dass Menschen in einer Triagesituation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen. In einer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist, kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden, der die Betroffenen nicht ausweichen können und die unmittelbar zu einer Gefährdung der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als überragend bedeutsam geschützten Rechtsgüter Gesundheit und Leben führe. Die Betroffenen können sich in solch einer Situation zudem nicht selbst schützen.

Derzeit kein wirksamer Schutz

Es lägen auch Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Bfn ein Risiko bestehe, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Aus der Gesamtschau der sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen wie auch aus den fachlichen Handlungsempfehlungen ergebe sich, dass die Betroffenen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt sind.

Für die Situation pandemiebedingt knapper Behandlungsressourcen gehe die Bundesärztekammer in der Stellungnahme zu diesem Verfahren davon aus, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensivmedizinische Therapie subjektive Momente ergeben könnten, die Diskriminierungs­risiken beinhalteten. Mehrere sachkundige Dritte haben zudem ausgeführt, dass die Lebenssituation und -qualität von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und behinderte Menschen in der Pandemie besonders gefährdet seien. Das in Krankenhäusern tätige Personal stehe meist unter hohem zeitlichen und ökonomischen Druck und sei im Umgang mit Menschen mit spezifischen Behinderungen in der Regel nicht geschult. Desgleichen hätten sachkundige Dritte dargelegt, dass eine unbewusste Stereotypisierung von behinderten Menschen diese bei medizinischen Entscheidungen benachteilige. Der medizinische Blick auf Behinderung sei häufig defizitorientiert, was in der Ausbildung bislang kaum bearbeitet werde.

DIVI-Empfehlung nicht genügend

Die fachlichen Empfehlungen der DIVI für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit, auf die in diesem Zusammenhang vielfach verwiesen wird, beseitigten das Risiko einer Benachteiligung nicht. Die Empfehlungen seien als S1-Leitlinie rechtlich nicht verbindlich, sondern eine Handlungsempfehlung einer Expertengruppe im informellen Konsens. Die Erfolgsaussicht werde in den Empfehlungen definiert als die „Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben“. Die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben, sei ein als solches zulässiges Auswahlkriterium für die Verteilung knapper Behandlungsressourcen. Dieses Kriterium stelle nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab, sondern allein auf die Erfolgsaussichten der nach der aktuellen Erkrankung angezeigten Intensivtherapie. Würde hingegen auf eine längerfristig erwartbare Überlebensdauer abgestellt, würden Menschen, die aufgrund von Behinderungen tatsächlich oder vermeintlich eine kürzere Lebenserwartung haben, regelmäßig nicht oder nachrangig behandelt, zumal die stereotype Wahrnehmung von Behinderungen zu vorschnellen Schlüssen auf eine kürzere Lebensdauer verleiten könne. Dann wäre die weitere Lebensperspektive ausschlaggebend, nicht aber die Aussicht, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Es ginge dann gerade nicht um das Überleben der akuten Erkrankung, sondern um die Maximierung von Lebenszeit.

Trotz der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung sei nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden könnten. Zwar stellten sie seit der zweiten Version ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig sei. Ein Risiko bestehe gleichwohl darin, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für schlechte Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet werden. Zwar sollen vorhandene „Komorbiditäten“ ausdrücklich nur dann Eingang in die Auswahlentscheidung finden, wenn sie „in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern“. Das begegnet für sich genommen ebenfalls keinen Bedenken. Doch bestehe auch hier das Risiko, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen werde. Denn es sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde. Außerdem fehle beim Kriterium der „Gebrechlichkeit“ eine Klarstellung wie zu den Komorbiditäten. Für die Bewertung der Gebrechlichkeit werde unter anderem auf eine Skala verwiesen, die Behinderungen nicht berücksichtigt, sondern für andere Zwecke entwickelt und evaluiert worden sei. Auch hier gelte, dass die Verwendung einer Skala nicht von vornherein unzulässig ist, auch weil sie gerade eilige Entscheidungen erleichtern und die Konsistenz von Entscheidungen sowie die Gleichbehandlung aller Betroffenen fördern könne. Doch berge eine skalengeleitete Berücksichtigung von Gebrechlichkeit ein Risiko einer Benachteiligung, weil aus dem Umstand, dass viele behinderte Menschen im Alltag auf Assistenz angewiesen sind, vorschnell auf Gebrechlichkeit geschlossen werden könne. Damit könnten auch Vorstellungen von einer schlechteren Lebensqualität behinderter und assistenzbedürftiger Menschen einhergehen, was ebenfalls zu einer Benachteiligung führen könnte.

Auf Risiken einer Benachteiligung wegen einer Behinderung in einer Triagesituation deute auch die Pressemitteilung der DIVI vom 23. April 2020 anlässlich der zweiten Version der Empfehlungen hin. Darin wird zwar zunächst klargestellt, dass die in den Empfehlungen genannten Krankheitszustände keine Ausschlusskriterien darstellten, sondern im Einzelfall nach Maßgabe der Erfolgsaussicht der Therapie entschieden werden soll. Doch wird auch ausgeführt, dass neben dem Schweregrad der aktuellen Erkrankung relevante Begleiterkrankungen mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung eine wesentliche Rolle spielen. Das könne zu der Annahme verleiten, dass nicht nur das aktuelle Überleben, sondern auch die weitere Lebenserwartung für die Zuteilung medizinischer Ressourcen relevant sei.

Eine weitere Pressemitteilung der DIVI vom 30. Juli 2020 stelle zwar klar, dass die in der Empfehlung genannten Kriterien „immer nur dann entscheidungsrelevant“ sind, „wenn sie eine Verschlechterung der Prognoseeinschätzung – also der Wahrscheinlichkeit, DIESE Erkrankung zu überleben – darstellten“; die entscheidende Frage der Triage sei: „Welcher Patient wird jetzt und hier eher überleben?“ Damit werde nochmals betont, dass sich die Empfehlungen ausdrücklich auf die Erfolgsaussicht beziehen, im Sinne einer Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Die DIVI verweise in ihrer Stellungnahme in diesem Verfahren jedoch selbst darauf, dass im klinischen Alltag bei Kapazitätsengpässen ohne klare Kriterien vielfach ad hoc entschieden werde, und beschreibt die damit einhergehende Unsicherheit. Ausweislich der Pressemitteilung sei die „bestehende Rechtsunsicherheit, welche Kriterien im Fall einer Pandemie bei der Verteilung knapper medizinischer Ressourcen maßgeblich sein sollen“, für die Ärzte „unerträglich“. Desgleichen habe die Bundesärztekammer erläutert, es gebe hier subjektive Momente und damit auch Diskriminierungsrisiken. Insofern erscheint nicht hinreichend gewährleistet, dass die Betroffenen in einer solchen Situation wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung geschützt sind.

In der Gesamtschau lägen somit belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Betroffenen ein konkretes Risiko bestehe, wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden. Vor diesen Risiken könnten sich die Bfn in der akuten Situation der Behandlungsbedürftigkeit nicht selbst wirksam schützen, und sie können dem auch nicht ausweichen.

Extreme Entscheidungssituation

Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befänden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssten entscheiden, wem die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen zukommen sollen und wem nicht. In dieser Situation könne es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung die notwendige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Das gelänge nur, wenn sichergestellt ist, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird.

Dafür genüge das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in §1 AGG nicht; insofern sei bereits nicht klar geregelt, ob es auf die Situation der Triage überhaupt Anwendung findet. Ebenso wenig fänden sich im öffentlichen Recht oder im ärztlichen Berufsrecht hinreichende Vorgaben zum Benachteiligungsschutz in der Triagesituation.

Gesetzgeberischer Gestaltung­spielraum

Geleitet und begrenzt werde der weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers durch die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und die zu beachtenden Grundrechte aller Betroffenen. Dabei habe der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde. Gleiches gelte im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten. Hierbei habe der Gesetzgeber die Sachgesetzlichkeiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt.

Innerhalb dieses Rahmens habe der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen mache. Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, stehe einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen; ein Kriterium, das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genüge, könne vom Gesetzgeber vorgegeben werden. Sofern dies nach Einschätzung des Gesetzgebers wirksamen Grundrechtsschutz verspreche, könne er sich für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für Vorgaben zur Dokumentation entscheiden. Denkbar seien auch Regelungen zur Unterstützung vor Ort. Dazu komme die Möglichkeit spezifischer Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triagesituation hinzuwirken.

Im Ergebnis müsse der Gesetzgeber zur Umsetzung der aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hier auch wegen der Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden konkreten Schutzpflicht und im Lichte der Behindertenrechtskonvention dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird. Der Gesetzgeber sei gehalten, seiner Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Bartig S, Kalkum D, Le HM, Lewicki A, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung, 2021, S. 50 (https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publi…).

doi:10.17147/asu-1-189963

Kernaussagen

  • Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittel­barer Diskriminierung wegen Behinderung sowie ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen.
  • Der Gesetzgeber hat Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird.
  • Dem Gesetzgeber steht bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt.
  • Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

    Foto: privat

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