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Betriebliches Eingliederungs­management optimieren

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

Hanns Wildgans

doi:10.17147/asu-1-426477

Optimizing company integration management

Company integration management (BEM) can achieve much more if it is based on a solid culture of trust and broad acceptance within the company and if the company doctor is involved as an advisor and guide as early as possible in the acute phase. She or he can provide professional advice on the appropriate course of action for each individual, promote acceptance within the company of reduced performance due to health restrictions, recommend the timely provision of assistance to make work easier and bundle the assistance options provided by social insurance according to health-related aspects. This is explained below using a practical example.

Kernaussagen

  • Bei Langzeiterkrankungen können Betriebsärztinnen und -ärzte eine zentrale Lotsenfunktion übernehmen, die den Erfolg der Wiedereingliederung wesentlich verbessern kann.
  • Der beschleunigte Wiedereinstieg in das Arbeitsleben stärkt das Selbstwertgefühl der ­Betroffenen und fördert die Zufriedenheit und Identifikation mit dem Unternehmen.
  • BEM ist Ausdruck einer kompetenten und weitblickenden Personalarbeit und wird als ­positiver Imagefaktor der Unternehmen intern und extern wahrgenommen.
  • Für Betriebsärztinnen und -ärzte sind Aufgaben im BEM eine wesentliche Bereicherung ihrer Tätigkeit, die die Akzeptanz bei Belegschaft und Unternehmensführung und das Vertrauen in ihre Tätigkeit wesentlich verstärken.
  • Betriebliches Eingliederungsmanagement optimieren

    Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) kann viel mehr bewirken, wenn es auf eine gefestigte Vertrauenskultur und breite Akzeptanz im Unternehmen trifft und die Betriebsärztin oder der Betriebsarzt möglichst schon in der Akutphase als Beratende und Lotsin/Lotse eingebunden ist. Sie oder er kann zum individuell angemessenen Vorgehen fachlich beraten, im Betrieb um Akzeptanz für Minderleistungen durch gesundheitliche Einschränkungen werben, die rechtzeitige Bereitstellung von Hilfen zur Arbeitserleichterung empfehlen und die Hilfsmöglichkeiten der Sozialversicherung nach gesundheitlich erforderlichen Aspekten bündeln. Dies wird im Folgendem an einem Praxisbeispiel erläutert.

    Ausgangslage

    Die demografische Entwicklung der Gesellschaft in Deutschland wird in den letzten Jahren geprägt von einer längeren Lebensarbeitszeit (durch das schrittweise Anheben des Renteneintrittsalters seit 2012) mit steigendem Durchschnittsalter der Belegschaft (bei fehlendem Nachwuchs), die durch eine Zunahme chronischer Erkrankungen und dauerhafter Beeinträchtigungen der (noch) arbeitenden Bevölkerung einen Anstieg der Fehlzeitenquote beobachten lässt. Zusätzlich führt auch die zunehmende Arbeitsverdichtung zu einer Zunahme der körperlichen und psychischen Belastungen und weiteren Ausfallzeiten.

    Die moderne Medizin bietet zwar oft hochmoderne Therapieansätze, die jedoch aufgrund ihrer Komplexität und der erforderlichen Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen zu Schwierigkeiten bei der Zeitplanung führen können. Dies kann lange Wartezeiten auf Facharzttermine, verzögerte Informationen über Untersuchungsergebnisse und langwierige Diskussionen über den Krankheitsverlauf zur Folge haben. Patienten haben dadurch oft das Gefühl, im Gesundheitssystem verloren zu gehen. Verkürzte Rehabilitationsphasen auf nur noch 17–21 Tage ohne Abstimmung auf die Anforderungen des Arbeitsplatzes und die anschließende Betreuung über teilweise nur lückenhaft zur Vorgeschichte informierte Hausärztinnen und -ärzte verleiten zu einer weiteren „Schonung“ der Betroffenen, die dabei zunehmend ihr Selbstvertrauen verlieren und sich überfordert fühlen, ihren gewohnten Arbeitsplatz wieder aufzunehmen.

    Nach den statistischen Daten der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland verursachen seit Jahren knapp 4 % der Versicherten über 40 % der AU-Tage in Deutschland (Dehl et al. 2024; Grobe et al. 2024; Schenkel et al. 2023; Techniker-Krankenkasse 2024. Hierbei kann ein aktiv betriebenes – initiatives – betriebliches Eingliederungsmanagement (iBEM) durch frühzeitige Intervention die individuellen Chancen verbessern, den Arbeitsplatz wieder zu erlangen und zu behalten und kann wirksam den Folgen des demografischen Wandels begegnen, indem es langfristig dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit dient.

    Der betriebliche Auftrag

    Dies zu optimieren war das Ziel einer Betriebsvereinbarung zwischen einem mittelständischen Unternehmen der Druckindustrie in Bayern und dessen Betriebsrat, die unter strenger Beachtung des Grundsatzes der Freiwilligkeit und der ärztlichen Schweigepflicht den Betriebsarzt beauftragten, hier eine „Lotsenfunktion“ im Gesundheitswesen zu übernehmen. Aufgabe des Betriebsarztes war es dabei einerseits, schon in der Akutphase mit kurativer und rehabilitativer Medizin in Verbindung zu treten, regelmäßig mit den Patientinnen und Patienten den Heilerfolg zu beraten und gegebenenfalls an einer beschleunigten Terminfindung von Anschlussmaßnahmen mitzuwirken. Im Mittelpunkt stand eine niedrigschwellige Unterstützung der Patientinnen und Patienten in allen medizinischen und sozialen Fragen während der Krankheitsphase und die rechtzeitige und individuelle, leistungsadaptierte Planung der betrieblichen Wiedereingliederung mit allen erforderlichen Hilfsmitteln.

    Selbstverständlich war es zu keinem Zeitpunkt die Aufgabe des Betriebsarztes, Krankmeldungen der Beschäftigten auf ihre Berechtigung zu überprüfen: Mit einer breit angelegten Kommunikationskampagne im Unternehmen durch Geschäftsführung, Betriebsrat, dem Schwerbehindertenvertreter und dem Betriebsarzt wurde ein hohes Maß an Vertrauen geschaffen, das den Grundgedanken von „Hilfen“ und „Unterstützung“ in den Mittelpunkt gestellt hat. Dazu gehörte auch das Angebot an die Belegschaft, bei vor­aussichtlich längerfristiger Erkrankung auch direkt von Anfang an mit dem Betriebsarzt Kontakt aufzunehmen.

    Unterstützt wurde die Initiative durch Integrationsziele im Leitbild des Unternehmens und die Anerkennung für Führungskräfte, die sich im Eingliederungsmanagement engagierten, aber auch durch eine regelmäßige Kommunikation über die Erfolge der Integration. Ein Arbeitskreis Gesundheit steuerte zahlreiche innerbetriebliche Aktionen und brachte auch seine Kontakte in das betriebliche iBEM-Netzwerk mit ein, die dann wertvolle Unterstützung in der individuellen Wiedereingliederung Langzeiterkrankter lieferten (➥ Abb. 1). Mit Gesundheitsförderungsmaßnahmen wurde begleitend an die gesundheitliche Selbstverantwortung der Beschäftigten appelliert, die demografischen Herausforderungen flossen kontinuierlich in die Maßnahmen zur Arbeitsplatzgestaltung ein und gelegentlich wurden auch zeitweise nach außen vergebene Arbeiten wieder ins Unternehmen zurückgeholt, um leistungsgewandelte Mitarbeitende weiter beschäftigen zu können.

    Der rechtliche Rahmen

    Nach § 3 des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG) gehört es zu den Aufgaben von Betriebsärztinnen und -ärzten, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen. Dabei haben sie sowohl den Arbeitgeber und die sonst für den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung verantwortlichen Personen bei Fragen des Arbeitsplatzwechsels sowie der Eingliederung und Wiedereingliederung Behinderter in den Arbeitsprozess zu beraten, aber auch die Beschäftigten zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten. Dabei erfasst diese Beauftragung gleichermaßen die „stufenweise WIEDER-Eingliederung“ auf denselben Arbeitsplatz (nach § 74 SGB V) („bisherige Tätigkeit“) während weiterbestehender Arbeitsunfähigkeit als auch das „betriebliche Eingliederungsmanagement“ in eine beliebige Tätigkeit im selben Unternehmen ohne weiterbestehende Arbeitsunfähigkeit (nach § 167 SGB IX „Prävention“) für Mitarbeitende im Arbeits- und sonstigen Beschäftigungsverhältnis (s. Infokasten).

    Führen die Maßnahmen in einer zunächst geplanten stufenweisen Wiedereingliederung auf den bisherigen Arbeitsplatz aufgrund der persönlichen Voraussetzungen der oder des Beschäftigten nicht zum Erfolg, kann sich nahtlos ein verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll, anschließen, ohne explizit vorherzusehen, wann der Suchprozess abgeschlossen ist (BAG [Bundesarbeitsgericht] 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 28). Dabei können die scheinbaren „Grenzen“ zwischen stufenweiser Wiedereingliederung und BEM durchaus als „fließend“ angesehen werden, da der Gesetzgeber selbst dafür die Brücke geschaffen hat: „Können arbeitsunfähige Leistungsberechtigte nach ärztlicher Feststellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise ausüben und können sie durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden, sollen die medizinischen und die sie ergänzenden Leistungen entsprechend dieser Zielsetzung erbracht werden“ (§ 44 SGB IX). Der zuständige Rehabilitationsträger ist verpflichtet, die erforderlichen Leistungen zur stufenweisen Wiedereingliederung zu erbringen. Die Kosten für diese Leistungen werden im Rahmen der Zuständigkeit zwischen den verschiedenen Leistungsträgern aufgeteilt.

    Kamen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, wurden auf Anraten des Betriebsarztes vom Arbeitgeber die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten auch das Integrationsamt frühzeitig zu den Beratungen hinzugezogen (§ 167 (2) SGB IX).

    Die Umsetzung in der Praxis

    Längerfristige Arbeitsunfähigkeiten sind bei schweren Unfällen oder ernsthaften Erkrankungen (Tumoren, Autoimmunerkrankungen etc.) oftmals schon sehr früh absehbar. Auch kommunizieren Betroffene den Abteilungsvorgesetzten und Arbeitskolleginnen/-kollegen in der Regel in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) schon zeitnah mit der ersten Krankmeldung, dass mit einem längerfristigen Ausfall gerechnet werden müsse. In diesen Fällen hat sich gezeigt, dass es keinen Sinn macht, arbeitgeberseitig die Sechs-Wochen-Frist nach §167 (2) SGB IX abzuwarten, bevor die oder der Versicherte angeschrieben und auf ihre/seine Rechte zur Teilnahme an einem betrieblichen Eingliederungsmanagement hingewiesen wird.

    Nach Einführung der iBEM-Kampagne haben einige Beschäftigte bereits zu Beginn der Krankheitsphase den Betriebsarzt über bevorstehende Maßnahmen in Kenntnis gesetzt, in anderen Fällen hat die Personalabteilung bereits in der vierten Kalenderwoche die Beschäftigten informiert, dass sie schon während der laufenden Krankheitsphase jederzeit die betriebsärztliche Beratungskompetenz in Anspruch nehmen können. Der Betrieb würde nach Kräften alle Maßnahmen ergreifen, um bis zur Rückkehr den Erhalt des Arbeitsplatzes zu sichern. Hinweise auf die Freiwilligkeit der Teilnahme, auf die ärztliche Schweigepflicht des Betriebsarztes gegenüber dem Unternehmen, aber auch auf die Möglichkeit, über den Betriebsarzt (nach ausdrücklicher Autorisierung durch die Beschäftigten) alle Voraussetzungen für eine optimierte Wiedereingliederung anbieten zu können, wurden im Anschreiben explizit erläutert.

    Dieses Verfahren bot in zahlreichen Fällen schon in der Akutphase dem Betriebsarzt die Möglichkeit, (nach individueller Entbindung von der Schweigepflicht) mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten in Kontakt zu treten, den Heilungsverlauf zu begleiten und bei anschließenden Reha-Maßnahmen in der Auswahl der Einrichtung zu unterstützen. Während der Rehabilitationsmaßnahme informierte der Betriebsarzt die behandelnden Ärztinnen und Ärzte über die spezifischen Tätigkeitsprofile am Arbeitsplatz, damit die Physiotherapie individuell darauf abgestimmt werden konnte und beriet sich mit den Reha-Ärztinnen und -Ärzten über erforderliche (intensivierte (IRENA), psychosomatische (Psy-RENA) oder trainingstherapeutische (T-RENA)) ambulante Rehabilitationsnachsorgeprogramme im Anschluss am Wohnort.

    Alle diese vorgenannten Maßnahmen erfolgten als Tele- oder Videokonsile beziehungsweise über den Austausch elektronischer Arztbriefe. Der Kontakt zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten war ausnahmslos lösungsorientiert und geprägt von gegenseitiger kollegialer Wertschätzung. Der kontinuierliche Einblick in die Erfolge und Misserfolge der Behandlungsmaßnahmen prägte auch das individuelle Krankheitsverständnis, das wiederum die Planung und Zumutbarkeit der Eingliederungsmaßnahmen wesentlich beeinflusste.

    Grundsätzlich wurde jeder langzeiterkrankten Person eine stufenweise betriebliche Wiedereingliederung angeboten, die zeitlich auf die gegebenenfalls noch laufenden Reha-Nachsorge-Programme abgestimmt waren. An dem vorangehenden Round-Table zur Besprechung der Modalitäten der Einarbeitung nahmen der Vertreter des Arbeitgebers, der Abteilungsvorgesetzte, der Betriebsrat, die Fachkraft für Arbeitssicherheit, der Betriebsarzt und die oder der erkrankte Mitarbeiter teil. Letzterem stand auch frei, weitere Personen wie die Schwerbehindertenvertretung oder eine weitere Vertrauensperson auszuwählen (s. Abb. 1).
    Aus den Leistungseinschätzungen im Heilungsverlauf schlug der Betriebsarzt in mehreren Fällen auch noch Vertreterinnnen und Vertreter der Sozialversicherungsträger (Agentur für Arbeit, Kranken-, Renten- oder Unfallversicherer) oder bei Schwerbehinderung das Integrations-/Inklusionsamt als Teil­nehmende in der Runde vor, um konkrete weitere Leistungen zur Teilhabe zu besprechen (➥ Abb. 2).

    Abb. 2:  Externes Netzwerk im iBEM

    Abb. 2: Externes Netzwerk im iBEM

    Betriebsärztliche Expertise unterstützt die Zielsetzung

    Aufgabe des Betriebsarztes war es, das verbliebene positive Leistungsprofil der Mitarbeiter und die Anforderungen am Arbeitsplatz gegenüberzustellen. Anschließend wurde beraten, wie die zu erwartenden Einschränkungen mit technischen und/oder organisatorischen Maßnahmen ausgeglichen werden könnten. Die gemeinsame Beratung im gegenseitigen Austausch der Leistungserbringer brachte meist schon in einem Termin eine klare Linie über das Zusammenwirken und die erforderliche Aufgaben- und Lastenverteilung. Alle Maßnahmen zur Gesundheit der Mitarbeiter bedurften deren ausdrücklicher Zustimmung, was diese oft überraschte, da sie die Intensität der Bemühungen um ihre Gesundheit nicht erwartet hatten.

    Immer wieder wird in anderen Unternehmen auf die Einbindung und Einladung der Betriebsärztin oder des Betriebsarztes zu BEM-Gesprächen seitens des Unternehmens oder auf Betreiben des Betriebsrates verzichtet. Hilfsweise wird manchmal ein „betriebsärztliches Gutachten“ über die betroffene Person angefordert. Diese Vorgehensweise ist regelmäßig abzulehnen, weil eine medizinische Begutachtung für dieses Gespräch nicht zielführend ist. Vielmehr geht es darum, die (nur der/dem Betriebsärztin/-arzt bekannten) medizinischen Diagnosen und individuellen Untersuchungsbefunde für den iBEM-Gesprächskreis in ein (diagnoseneutrales) positives Leistungsprofil zu übersetzen und sie mit den Möglichkeiten etwaiger Beschäftigungsalternativen abzugleichen. Dies bedarf einer sachgerechten Abstimmung, die sich stets an den aktuellen Gegebenheiten des Betriebs orientieren und sicherstellen muss, dass jeder nur die Informationen erhält, die er für seine Entscheidungen benötigt (Datenschutz).

    Auf den Round-Table folgte eine zeitlich stufenweise Eingliederung, meist beginnend mit 3–5 Stunden pro Tag– je nach Kondition – und bei stärkerer physischer Belastung wurden gegebenenfalls zusätzlich Lastgewichte und Gehstrecken festgelegt. Die Anforderungen wurden während der Eingliederung mindestens einmal wöchentlich auf ihre Machbarkeit überprüft und zusammen mit dem Kassenarzt, der den Eingliederungsplan gegenüber der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vertrat, jederzeit wieder verändert oder neu angepasst. Begründungen für verlängerte Eingliederungsphasen lieferte dem Kassenarzt hierzu der Betriebsarzt aus seiner betrieblichen Perspektive. Träger der stufenweisen Wiedereingliederung war in allen Fällen zunächst die Krankenkasse in Form der Weiterzahlung des Krankengeldes, erforderliche Sachausstattungen stellten Rentenversicherer, Agentur für Arbeit beziehungsweise das Integrationsamt als Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung; Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bei veränderter Aufgabenstellung an einem neuen Arbeitsplatz fielen ebenfalls in deren Leistungsbereich. Um Zeit zu gewinnen, wurden in besonders schweren Fällen mit vorhersehbaren Umschulungsmaßnahmen oder Qualifizierungsmaßnahmen über ein Berufsförderungswerk mit dem Einverständnis der Betroffenen auch schon vorbereitende Gespräche mit den Einrichtungen ohne deren persönliche Anwesenheit geführt. Über alle Maßnahmen und neuen Entwicklungen wurden sie immer direkt in Kenntnis gesetzt.

    Beschäftigte halten statt ­krankheitsbedingt kündigen!

    In seiner Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass der mit § 167 (2) SGB IX verfolgte Präventionszweck viel zielführender zu erreichen sei, wenn BEM jeder/jedem Beschäftigten, also nicht nur den Schwerbehinderten, angeboten werde (BAG vom 12.07.2007, 2 AZR 716/06). Die an das Unternehmen mit dieser Rechtsnorm adressierte Verpflichtung zum Angebot eines BEM hat gleichzeitig zu Veränderungen beim Schutz vor krankheitsbedingten Kündigungen geführt. Diese erfordern nach ständiger Rechtsprechung des Bundearbeitsgerichts eine dreistufige Begründung mit

  • dem Vorliegen einer „negativen Gesundheitsprognose“ (Indiz: erhebliche Fehlzeiten über sechs Wochen jährlich in den vergangenen Jahren),
  • der erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen“ (u. a. die Ausschöpfung der Lohnfortzahlungsobergrenze),
  • der „Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber“ (Kündigung zulässig, wenn kein „milderes Mittel“ [BEM!] zur Verfügung steht).
  • Ein erfolgreich durchgeführtes BEM ist vorteilhaft für alle Beteiligten. Scheiden Beschäftigte in Folge einer Erkrankung aus einem Betrieb aus, gehen wertvolles Wissen und Erfahrung verloren und die verbleibende Belegschaft leistet oft die Mehrarbeit. Zudem verursachen krankheitsbedingte Kündigungen und die damit verbundenen Neueinstellungen oftmals hohe Prozess-, Überbrückungs-, Neueinstellungs- und Einarbeitungskosten. Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten ist auch die interne und externe Wahrnehmung des Unternehmens davon betroffen. Fürsorgliche und wertschätzende Arbeitgeber werden auch in Bewertungsportalen von Bewerberinnen/Bewerbern und Kundinnen/Kunden positiv wahrgenommen.

    Schlussfolgerungen

    Betriebliches Eingliederungsmanagement ist nicht nur eine soziale Verpflichtung, sondern durchaus ein Gewinn für alle Beteiligten: Wichtige Grundlage ist neben der absoluten Freiwilligkeit der Teilnahme auch gegenseitiges Vertrauen und die Diskretion aller Beteiligten. iBEM will fordern und fördern statt schützen und ausgrenzen; es orientiert sich dabei an den gesundheitlichen Möglichkeiten und arbeitet die Potenziale heraus. Mit Nutzung der Hilfsangebote und Hilfsmittel der Träger der Sozialversicherung können so auch rechtzeitig Beschäftigungsalternativen aufgezeigt werden.

    Nutzen für Beschäftigte

    Als niedrigschwelliges Angebot leistet iBEM einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung und Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit. Durch den Einsatz auf Basis des positiven Leistungsprofils wird eine schnelle Überforderung am Arbeitsplatz vermieden, neue Möglichkeiten können dabei entdeckt und mit Hilfsmitteln und -angeboten im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe gefördert werden. iBEM stärkt das Selbstwertgefühl der Betroffenen nach langer Krankheit, wenn ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz wieder eine Wertschätzung erfahren und fördert so die Zufriedenheit und Identifikation mit dem Unternehmen. Die damit verbundene Arbeitsplatzsicherung vermeidet Existenzängste sowie sozialen Abstieg und reduziert individuell weitere Stressfaktoren in der Erholungsphase.

    Nutzen für das Unternehmen

    Unbestritten hat die Förderung der Gesundheits- und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten positive Auswirkungen auf die Mitarbeitendenzufriedenheit und Identifikation mit dem Betrieb: Kompetente und weitblickende Personalarbeit gilt als positiver Imagefaktor. Mit iBEM gelingt nicht nur ein beschleunigter Wiedereinstieg in das Arbeitsleben, die Arbeitserprobungsphase ist wegen des bestehenden Anspruchs auf Krankengeld für das Unternehmen weitgehend kostenneutral und macht die Inanspruchnahme zusätzlicher externer Förderung zur Qualifizierung und Arbeitsplatzgestaltung möglich. Langzeiterkrankungen sind so auch besser planbar, was die Kosten für zusätzliches Personal und dessen Einarbeitung reduzieren kann. Die Weiterbeschäftigung bewährter Beschäftigter erhält das Know-how, stabilisiert die Arbeitsabläufe und sichert die Qualitätsstandards.

    Mit den Erkenntnissen aus der intensiven Bearbeitung der Fälle ergaben sich zudem zahlreiche Aspekte, wie auch die Gesundheit der übrigen Belegschaft besser geschützt und durch die Beschaffung geeigneter Arbeitsmittel, die zunächst im BEM zum Einsatz kamen, dauerhaft erhalten werden kann.

    Nutzen für die Betriebsärztin/den Betriebsarzt

    Die Befassung mit den vielfältigen interdis­ziplinären Fragestellungen der Medizin und ihre verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten stellt ohne Zweifel ein „Jobenrichment“ im betriebsärztlichen Arbeitsalltag dar. Ein soziales Engagement der Betriebsärztinnen und -ärzte um die erfolgreiche Wiedereingliederung langzeiterkrankter Beschäftigter erhöht deren Bekanntheit und Akzeptanz bei Belegschaft und Unternehmensführung und stärkt das Vertrauen in die betriebsärztliche Tätigkeit. Die Erfahrungen mit neuen Hilfs- und Arbeitsmitteln bei der Arbeitsplatzgestaltung im iBEM liefern gleichzeitig wertvolle Impulse für die zeitgemäße Ausstattung der übrigen Arbeitsplätze im Unternehmen. (Anmerkung aus der Praxis: Alle oben genannten Leistungen des Betriebsarztes im iBEM wurden vom Unternehmen als betriebsspezifische Betreuung nach DGUV-Vorschrift 2 zusätzlich beauftragt.)

    Nutzen für die Sozialversicherungsträger

    Die Verkürzung von Krankheitsphasen mit gezielten Wiedereingliederungsmaßnahmen unter engmaschiger betriebsärztlicher Beratung und Betreuung ist auch für die Träger der Sozialversicherung von unschätzbarem Wert. So können Lohnersatzleistungen auf das notwendige Maß reduziert und die Beiträge der Versichertengemeinschaft stabil gehalten werden. Durch das regelmäßige Feedback mit der Betriebsärztin oder dem Betriebsarzt und die jederzeit mögliche Anpassung der Einarbeitungsmaßnahmen kann ein „Scheitern“ des BEM so gut wie immer verhindert werden. Krankheitsbedingte Kündigungen mit all ihren negativen Auswirkungen auf die Beschäftigten, die Sozialkassen und die Gesellschaft werden mit iBEM weitgehend vermieden.

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Dehl T, Hildebrandt S et al.: DAK Gesundheitsreport 2024. Reihe: Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 48). Hamburg, 2024.

    Schenkel A, Krist K, Meyer M, Baumgardt J: Krankheitsbedingte Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2023. In: Badura B, Ducki A, Baumgardt J,
    Meyer M, Schröder H (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2024 (AOK-Bundesverband Daten 2023). https://doi.org/10.1007/978-3-662-69620-0_21

    Techniker-Krankenkasse (Hrsg.): Gesundheitsreport 2024 – Arbeitsunfähigkeiten. Hamburg 2024.

    Online-Quellen

    Aktuelle Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichtes zum BEM
    https://www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidungen/?q=BEM

    Grobe TG et al.: Barmer Gesundheitsreport 2023 in Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse (Band 41)
    https://www.bifg.de/publikationen/reporte/gesundheitsreport-2023

    Info

    SGB V: § 74 Stufenweise Wiedereingliederung

    „Können arbeitsunfähige Versicherte nach ärztlicher Feststellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise verrichten und können sie durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden, soll der Arzt auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeiten angeben und dabei in geeigneten Fällen die Stellungnahme des Betriebsarztes oder mit Zustimmung der Krankenkasse die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes (§ 275) einholen. Spätestens ab einer Dauer der Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen hat die ärztliche Feststellung nach Satz 1 regelmäßig mit der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit zu erfolgen. …“

    SGB IX: § 167 Prävention

    „…

    (2) Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Beschäftigte können zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen. Soweit erforderlich, wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen. Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen. Diese wirken darauf hin, dass die erforderlichen Leistungen oder Hilfen unverzüglich beantragt und innerhalb der Frist des § 14 Absatz 2 Satz 2 erbracht werden. Die zuständige Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, können die Klärung verlangen. Sie wachen darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt. …“

    Info

    iBEM in Zahlen

    In einer über fünf Jahre laufenden Pilotphase in einem mittelständischen Unternehmen gelang es auf diese Weise, von 68 iBEM-Berechtigten (mit AU-Zeiten > 6 Wochen)
    38 langzeiterkrankte Beschäftigte für einen Wiedereingliederungsplan zu gewinnen. In 28 Fällen konnte die Wiedereingliederung erfolgreich abgeschlossen werden, davon 24 am früheren Arbeitsplatz und in zwei Fällen nach Umschulung in neuer Umgebung. Im Betrieb wurden im Rahmen der Wiedereingliederungen 1414 Stunden zusätzliche Arbeitsleistung erbracht, für die die betroffenen Beschäftigten weiterhin Krankengeld bezogen. Als Leistungen zur Teilhabe wurden darüber hinaus Fortbildungen, Kurse und Arbeitsmittel im Gesamtwert von über 45.000 € von den Reha-Trägern finanziert.

    Kontakt

    Dr. Hanns Wildgans
    Arzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, Umweltmedizin; Taubenstraße 2a; 85649 Brunnthal

    Foto: privat

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