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Gefährdung durch Gewaltereignisse beurteilen, aber wie?


doi:10.17147/asu-1-405919

Assessing the risk of violence, but how? – Addressing violence and aggression in the risk assessment

Incidents of violence are not uncommon in many health and welfare facilities. What is rarer, however, is the systematic and analytical handling of these incidents of violence. But how do you get there? And what role do company physicians play in this? A risk assessment that addresses the issue of violence is a central component of successful violence prevention management. It can significantly improve the internal handling of incidents of violence and thus also contribute to a reduction in incidents of violence. In this article, two methodological approaches to the risk assessment of violence are presented.

Gefährdung durch Gewaltereignisse beurteilen, aber wie? – Thematisierung von Gewalt und Aggression in der Gefährdungsbeurteilung

Gewaltereignisse sind in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes und der Wohlfahrtspflege keine Seltenheit. Seltener ist jedoch der systematische und analytische Umgang mit Aggressionen und Gewalt. Aber wie kann dies erreicht werden? Welche Rolle haben Arbeitsschutzexpertinnen und -experten im Betrieb dabei? Eine Gefährdungsbeurteilung, die das Thema Gewalt aufgreift, ist zentraler Bestandteil eines gelungenen Gewaltpräventionsmanagements. Sie kann den betrieblichen Umgang mit herausforderndem Verhalten entscheidend verbessern und damit auch zu einer Reduktion von Gewaltereignissen beitragen. Im folgenden Artikel werden zwei Methoden zur Gefährdungsbeurteilung durch Gewaltereignisse aufgezeigt.

Kernaussagen

  • Die partizipative, methodengestützte Gefährdungsbeurteilung für Gewaltereignisse stärkt Professionalität und Handlungssicherheit
  • Sie ist die Grundlage betrieblicher Gewaltprävention.
  • Einleitung

    „Wir haben in unserer Einrichtung eine Personalbefragung durchgeführt: 33 % fühlen sich nicht ausreichend auf eine eskalierende Situation vorbereitet.“

    „Die Bewohnerin kratzt laufend in unsere Unterarme“, berichtet die Pflegekraft der Betriebsärztin.

    „Diese ständigen Beschimpfungen finde ich unerträglich!“, beklagt der Erzieher in der Teambesprechung. „Du übertreibst!“ entgegnet die Kollegin.

    Solche Beispiele kennen die Autorinnen aus ihrer Beratungspraxis. Im Gesundheits- und Sozialwesen wird herausforderndes Verhalten immer noch zu häufig als systemimmanent akzeptiert („Die Klienten können doch nichts dafür“) und Vorfälle werden nur sporadisch gemeldet und ausgewertet („So oft passiert das doch bei uns gar nicht“). Gefährdungsbeurteilungen, die (auch potenzielle) Gewaltvorfälle betrachten, gibt es nur vereinzelt.

    Dabei wäre – insbesondere in Einrichtungen mit herausfordernder Klientel – ein Gewaltpräventionskonzept zielführend, um vor, während und nach einem Gewaltvorfall sicher agieren zu können. Sichere und gesunde Arbeitsplätze entsprechen nicht nur gesetzlichen Anforderungen. Sie tragen dazu bei, Ausfallzeiten zu reduzieren sowie die Personalbindung und Arbeitszufriedenheit zu erhöhen.

    Im Survey zu Belastungen durch Aggression und Gewalt gegenüber Beschäftigten der Pflege- und Betreuungsbranche in Deutschland von Schablon et al. (2018) wurde darauf hingewiesen, dass Beschäftigte sich weniger belastet fühlen und mit höherer Wahrscheinlichkeit weniger lange arbeitsunfähig nach Gewaltvorfällen sind, je besser sie von der Einrichtung auf einen adäquaten Umgang damit vorbereitet wurden. Anstatt Vorfälle herunterzuspielen, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den betrieblichen Gewaltvorfällen zielführender. Das adäquate Mittel dafür ist die Gefährdungsbeurteilung.

    Mögliche Vorgehensweisen zur Gefährdungsbeurteilung für Gewalt­ereignisse

    Bei der Gefährdungsbeurteilung für Gewaltereignisse werden die bekannten sieben Schritte (➥ Abb. 1) der Gefährdungsbeurteilung durchlaufen. Einrichtungen beginnen in Schritt 1 mit der Festlegung von Arbeits- oder Tätigkeitsbereichen. Für die sich anschließende Gefährdungsermittlung in Schritt 2, die Risikobeurteilung in Schritt 3 sowie die Maßnahmenplanung in Schritt 4 können verschiedene Instrumente eingesetzt werden. In diesem Artikel werden die zwei Methoden vorgestellt: der leitfadengestützte Dialog mit Begehung vor Ort sowie der strukturierte moderierte Workshop.

    Leitfadengestützter Dialog mit Begehung vor Ort

    Grundlage des Dialogs zur Gewaltprävention im Betrieb ist eine Checkliste in Form eines Zielkatalogs (➥ Abb. 2). Es handelt sich um vorformulierte baulich-technische, organisatorische und personenbezogene Schutzziele im Kontext von Gewalt und Aggression (siehe ➥ Tabelle 1). Dies ermöglicht eine strukturierte, ganzheitliche Analyse unter Berücksichtigung rechtlicher Anforderungen. Die Checkliste erweitert den Blickwinkel, weil Aspekte einbezogen sind, die vielleicht bislang durch die Beteiligten nicht gesehen wurden. Gleichzeitig hilft die Zielformulierung durch die Beschreibung des Soll-Zustands, die bereits umgesetzten Maßnahmen zu bewerten, nämlich unter der Fragestellung: „Haben wir dieses Ziel mit unseren bisherigen Maßnahmen schon erreicht?“ Wenn nicht, kann das Risiko nicht weiter hingenommen werden, es müssen weitere Interventionen folgen.

    Der von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) im Rahmen der Organisationsberatung verwendete Leitfaden beinhaltet derzeit 60 Zielformulierungen, auch zum Thema Verantwortung, Aufgaben und Befugnisse der Führungskräfte, gezielter Informationstransfer und vieles andere. Der Zielkatalog wird an den Arbeits- oder Tätigkeitsbereich, in dem die Begehung und der Dialog stattfinden, vorab angepasst. So treffen einige Ziele nur auf Bereiche zu, in denen mit körperlicher Gewalt gerechnet werden muss. Tätigkeiten, in denen verbale Entgleisungen im Vordergrund stehen, haben wiederum andere Schutzziele.

    Der leitfadengestützte Dialog mit Begehung dauert vier bis sechs Stunden. Er beginnt mit der Beschreibung, welche Arten von Gewalt in welcher Intensität und Häufigkeit in welchen Zusammenhängen vorkommen und damit auch weiterhin erwartbar sind. Danach begibt sich die Gruppe in den Bereich, bespricht die Zielfragen, beispielhafte Situationen, besichtigt die Örtlichkeiten und schaut sich Protokolle und andere relevante Aufzeichnungen an.

    Die Moderatorin beziehungsweise der Moderator dokumentiert die Ergebnisse (Vorlage siehe ➥ Abb. 3).

    Im Anschluss an die Vor-Ort-Begehung setzt sich die Gruppe wieder zusammen, um im Soll-Ist-Abgleich jeweils zu einer Risikoeinschätzung zu gelangen. Es wird festgestellt, welche konkreten Gefährdungen bestehen, ob die bisherigen Maßnahmen wirksam sind, oder ob weitere Maßnahmen geplant werden. Am Ende liegt ein Maßnahmenplan vor: Wer macht was bis wann?

    In bisherigen Anwendungen wurde rückgemeldet, dass sich die Beteiligten wirklich in ihrem Arbeitsalltag abgeholt fühlten. Das zeigte sich auch an den pragmatischen Lösungen. Beispielsweise wurde ein Selbsteinschätzungsbogen für Neuaufnahmen entwickelt, mit dessen Hilfe ermittelt wird, was die Klientin oder den Klienten verärgert oder wütend macht, wie sich das äußert und was der Beruhigung dienen kann. Vorkehrungen zum Autofahren mit Klientinnen und Klienten wurden getroffen, der Gemeinschaftsraum wurde in ruhigen Farbtönen gestrichen und ein Training zur Stärkung interkultureller Kompetenzen organisiert.

    Abb. 2:  Formvorlage zur Gefährdungsbeurteilung Gewalt und Aggression im Rahmen des leitfadengestützten Dialogs und Begehung vor Ort (Checkliste Zielformulierungen, Quelle: BGW)

    Abb. 2: Formvorlage zur Gefährdungsbeurteilung Gewalt und Aggression im Rahmen des leitfadengestützten Dialogs und Begehung vor Ort
    (Checkliste Zielformulierungen, Quelle: BGW)

    Strukturierter moderierter Workshop

    In diesem partizipativen Verfahren wird pro identifiziertem Arbeits-/Tätigkeitsbereich ein etwa dreistündiger Workshop mit den Beschäftigten durchgeführt. Begonnen wird mit der Sammlung von Gewaltereignissen der letzten zwölf Monate auf Moderationskarten (Schritt 2 der Gefährdungsbeurteilung. Beispielsweise schreien Patientenangehörige in der Notaufnahme mindestens einmal wöchentlich das Personal an oder die Patientin der Geriatrie Frau M. kratzt und
    schlägt die Pflegekräfte regelmäßig bei der Körperpflege). Im dritten Schritt werden die Gewaltereignisse in Bezug auf die Häufigkeit sowie die gesundheitlichen Folgen beurteilt (beispielsweise sind einige angeschriene Mitarbeitende verstört und verunsichert, andere fühlen sich wenig beeindruckt, berichten aber situativ über erhöhte Herzfrequenz oder die Kratzwunde birgt ein Infektionsrisiko und zwei Pflegekräfte äußern Angst, das Zimmer zu betreten). Hierzu wird jedes Gewaltereignis einem Feld der Risikobewertungsmatrix (➥ Abb. 4) zugeordnet (z. B. können die Moderationskarten auf einem Poster der Risikobewertungsmatrix platziert werden). In unserem Beispiel werden die geschilderten Gewaltereignisse der Kategorie 5 zugeordnet: (mehrmals) wöchentliches Auftreten mit mäßigen gesundheitlichen Folgen. Über diese Zuordnung ergibt sich für jedes Gewaltereignis eine Gefährdungsstufe und damit die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs (in unseren Beispielen ergibt sich hoher Handlungsbedarf). Zur systematischen Dokumentation der bisher erzielten Ergebnisse werden im Folgenden die Gewaltereignisse und der ermittelte Handlungsbedarf auf den Dokumentationsbogen (s. Abb. 3) übertragen. Für Gewaltereignisse mit hohem Handlungsbedarf gilt das Schutzziel, die Häufigkeit des Auftretens der Ereignisse zu reduzieren und die Schadensschwere zu minimieren. Entsprechend werden im vierten Schritt Maßnahmen abgeleitet, die dieses Schutzziel bedienen. Dies kann unter Moderation der Workshopleitung im Plenum oder in Kleingruppen erfolgen. Auch die Maßnahmenvorschläge, die immer konkret die jeweilige betriebliche Situation sowie die bereits vorhandenen Maßnahmen berücksichtigen müssen, werden im Dokumentationsbogen festgehalten. Die abschließende Festlegung der Maßnahmen (Schritt 4) ist von den zuständigen Führungskräften zu treffen. Entsprechend ihrer Entscheidung wird der Dokumentationsbogen angepasst und mit Zuständigkeiten und Fristen versehen.

    Maßnahmen lassen sich je nach Zielsetzung unterscheiden in:

  • Maßnahmen, die der Entstehung von Krisensituationen entgegenwirken. Diese Maßnahmen sind vorrangig zu treffen.
  • Maßnahmen, die Gefährdungen in auftretenden Krisensituationen reduzieren. Lassen sich Krisensituationen nicht vermeiden, sind Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten in und während auftretender Krisensituationen zu treffen.
  • Maßnahmen, die gesundheitliche Risiken nach aufgetretenen Krisensituationen reduzieren.
  • Des Weiteren lassen sich Maßnahmen nach ihrem Wirkmechanismus unterteilen in:

  • substitutive Maßnahmen,
  • technische/bauliche Maßnahmen,
  • organisatorische Maßnahmen,
  • personenbezogene Maßnahmen.
  • Gemäß Arbeitsschutzgesetzes haben substitutive, technisch/bauliche und organisatorische Maßnahmen Vorrang vor personenbezogenen (individuellen) Maßnahmen (STOP-Prinzip).

    Die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen ist belegt. Werden die Beschäftigten von ihrer Einrichtung gut auf kritische Situationen und den Umgang mit Gewalt vorbereitet, haben sie ein geringeres Risiko, Gewalt zu erleben (Schablon et al. 2012). Auch das Gefühl der sozialen Unterstützung durch die Führungskraft sowie durch Kolleginnen und Kollegen wird als protektiver Faktor erlebt und führt zu einer Reduzierung des Belastungsempfindens bei den Mitarbeitenden. Grundvoraussetzung für präventive Maßnahmen gegen Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz ist eine betriebliche Kultur, die offen und systematisch mit diesem Thema umgeht. Weiterhin ist es wichtig, für eine flächendeckende Qualifizierung der Beschäftigten zu sorgen. Die Durchführung passgenauer Trainingsprogramme (z. B. Deeskalationstrainings, vgl. Artikel in dieser Ausgabe) wird empfohlen (Richter u. Needham 2007). Es zeigten sich positive Effekte auf das Wissen sowie auf die Zuversicht, schwierige Situation besser bewältigen zu können. Studien belegen auch, dass durch Trainingsprogramme für deeskalierendes Verhalten, Gewaltminderung erreicht werden kann (Richter u. Needham 2007; Richter u. Berger 2001).

    Die sich anschließenden Schritte 5 bis 7 der Gefährdungsbeurteilung finden zeitlich nachgeordnet zu dem Workshop statt und sind nicht Betrachtungsgegenstand dieses Artikels. Empfehlenswert ist es, relativ zeitnah nach dem Workshop damit zu beginnen.

    Tabelle 1:  Eine kleine Auswahl der Zielformulierungen für den leitfadengestützten Dialog mit ­Begehung

    Tabelle 1: Eine kleine Auswahl der Zielformulierungen für den leitfadengestützten Dialog mit ­Begehung

    Beteiligte und Haltung in der Gefährdungsbeurteilung für Gewaltereignisse

    Als Beteiligte in der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung mittels einer der beiden hier vorgestellten Methoden werden empfohlen:

  • Führungskräfte,
  • (einzelne) Mitarbeitende des Bereichs, Sicherheitsbeauftragte,
  • Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsärztin/Betriebsarzt,
  • betriebliche Interessensvertretung, Schwerbehindertenvertretung, wenn vorhanden Werkstattrat,
  • Deeskalationstrainerinnen/trainer und/oder Personen der psychosozialen Notfallversorgung wie zum Beispiel kollegiale Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer,
  • je nach Organisation weitere Personen wie zum Beispiel Personalleitungen, Qualitätsmanagementbeauftragte
    o. Ä.
  • Beide Methoden sollten ressourcen- und chancenorientiert auf Augenhöhe stattfinden. Die Führungskräfte und Mitarbeitenden des Bereichs, der betrachtet wird, gelten als die Expertinnen und Experten. Die Beteiligten sollen sich bestärkt fühlen und daraus die Motivation schöpfen, sich weiter im Umgang mit Gewalt und Aggression zu professionalisieren. Oft fehlt nur die Systematik und die ein oder andere zusätzliche Idee. Manchmal allerdings wird klar, dass nur einschneidende, konsequente, vielleicht kostenintensive Maßnahmen helfen oder unerlässlich sind, damit die Beschäftigten sichere und gesunde Arbeitsbedingungen vorfinden können. Bei beiden Methoden handelt es sich nicht um eine Prüfung, sondern um das gemeinsame Überlegen, wie die spezielle Arbeitssituation, wie genau Prozesse und Strukturen in Bezug auf Gewaltprävention und Deeskalation optimiert werden können.

    Einsatz der Methoden im Rahmen der Organisationsberatung

    Der Einsatz der beiden Varianten der Gefährdungsbeurteilung für Gewaltereignisse kann beispielsweise im Rahmen der Entwicklung eines systematischen Gewaltpräventionskonzepts erfolgen. Benötigt die Einrichtung hierbei Unterstützung, beraten viele Institutionen beim Aufbau eines betrieblichen Managements zur Gewaltprävention, so auch die BGW.

    Ziel der BGW-Organisationsberatung ist es, dass Betriebe vor, während und nach einem Gewaltvorfall gut aufgestellt sind. Beratende der BGW unterstützen hier auf Anfrage der BGW-Mitgliedseinrichtung. Vor Ort begleiten und moderieren sie eine betriebliche Steuerungsgruppe zur Gewaltprävention in einem Projektkontext (➥ Abb. 5). Die Einrichtung beginnt mit der Beratung einen Organisationsentwicklungsprozess. Enttabuisierung von Gewaltereignissen, Bewusstseinsschärfung, Kulturwandel, das Schaffen neuer Strukturen und Prozesse zum Umgang mit Gewalt und Aggression sowie Verhaltensänderung auf allen Ebenen können und sollten die Folge sein.

    Ausgangspunkt ist die Standortbestimmung. Begonnen wird mit einer Verständigung darüber, was in der Einrichtung unter „Gewalt“ verstanden wird, und welche Definition BGW anbietet.

    Mithilfe einer von der BGW entwickelten Checkliste zur Selbsteinschätzung wird ermittelt, in welchen Good-practice-Kriterien der Gewaltprävention die Einrichtung schon gut aufgestellt ist und wo Lücken deutlich werden. Letztere zeigen das Verbesserungspotenzial an, zu dem Ziele und schließlich Maßnahmen abgeleitet werden.

    Themen können beispielsweise die Erarbeitung eines Dokumentationssystems für Gewaltvorfälle, die Entwicklung eines Nachsorgekonzepts für betroffene Beschäftigte oder eben auch die differenzierte Gefährdungsbeurteilung Gewalt sein.

    Beim Schließen der Lücken kann sich die Einrichtung bei Bedarf von der BGW-Organisationsberatung unterstützen lassen. Sofern dies nicht gewünscht ist und die Einrichtung die Themen selbstständig entwickelt und umsetzt, wird der Beratungsprozess mit einem Evaluationsworkshop, dem so genannten Zielerreichungs-Workshop, mit der betrieblichen Steuerungsgruppe abgeschlossen. Spätestens zu diesem Termin wird deutlich, ob es Nachsteuerungsbedarf gibt oder die ein verbesserter Umgang mit Gewalt und Aggression gelungen ist.

    Was können betriebliche Arbeitsschutzexpertinnen und -experten tun?

    Betriebsärztinnen und Betriebsärzte können im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorgen von Ereignissen und Beeinträchtigungen im Kontext von Gewalt während der beruflichen Arbeit erfahren. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten in die betriebsärztliche Beratung bei der Gefährdungsbeurteilung einfließen. Gemeinsam mit weiteren Beteiligten, wie den Sicherheitsfachkräften, können Betriebsärztinnen und Betriebsärzte die differenzierte Gefährdungsbeurteilung Gewalt vorbereiten, begleiten und insbesondere bei der Ableitung von Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation unterstützen. Ihre Expertise in der Feststellung, ob sich das Infektionsrisiko beim Umgang mit uneinsichtigen, aggressiven oder gewalttätigen Klientinnen und Klienten erhöht, ist gefragt. Hier sind gegebenenfalls Übertragungen von Krankheitserregern über Kratz- und Bissverletzungen oder über Stichverletzungen bei der Blutabnahme oder der Gabe einer Injektion möglich (Risiko Übergriff, siehe Online-Quellen). Ob die Pflicht- oder Angebotsvorsorge für entsprechend tätige Beschäftigte angezeigt ist und welche Rolle die Wunschvorsorge in der Gewaltprävention spielt, sollten Unternehmen unter betriebsärztlicher Fachkunde festlegen. Besteht eine erhöhte Unfallgefahr durch herausforderndes Verhalten von Klientinnen und Klienten, so kann dies mutterschutzgerechten Arbeitsbedingungen widersprechen und eine unverantwortbare Gefährdung für Schwangere darstellen. Betriebsärztinnen und -ärzte beraten in der allgemeinen Gefährdungsbeurteilung zum Mutterschutz sowie der personenbezogenen Gefährdungsbeurteilung, wenn die Schwangerschaft bekannt ist.

    Abb. 3:  Dokumentation von Gefährdungen und Maßnahmen (Quelle: BGW)

    Abb. 3: Dokumentation von Gefährdungen und Maßnahmen (Quelle: BGW)

    Fazit und Ausblick

    Nach Einschätzung der Autorinnen wird die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilung in der Gewaltprävention unterschätzt. Erst mit ihrer Hilfe können passgenaue praxisbezogene sowie konzeptionelle Überlegungen angestellt werden. Erst wenn bekannt ist, in welchen Formen, in welcher Häufigkeit und Intensität mit welchen Folgen Eskalationsfälle vorkommen und erwartbar sind, wenn klar ist, was substitutiv, baulich-technisch, organisatorisch und personenbezogen in den einzelnen Bereichen, in den einzelnen Teams bereits mit welcher Wirkung schon getan wird, erst dann können zielführende Deeskalationsmaßnahmen und Trainingsprogramme abgeleitet werden. Zudem können Maßnahmen nach dem „Gießkannenprinzip“ unterlassen und damit unnötige Kosten vermieden werden.

    Die beiden hier vorgestellten Methoden
    erlauben eine solche differenzierte Betrachtung. Sie sind partizipativ, praxisnah, wertschätzend, objektivierend und fachlich fundiert. Die Ergebnisse zeugen von einem hohen Maß an Relevanz, Genauigkeit und Vollständigkeit. Beide Methoden können getrennt oder kombiniert verwendet werden.

    Interessenskonflikt: Pamela Ostendorf ist angestellt bei der BGW. Es besteht kein Interessenskonflikt. Julia Ludwig-Hartmann hat in den vergangenen drei Jahren Honorare für die Tätigkeit der BGW-Organisationsberatung bezogen.

    Literatur

    Nohl J, Thiemecke H: Systematik zur Durchführung von Gefährdungsanalysen Teil I und II. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz 1988; Fb Nr. 536 und Fb Nr. 542.

    Richter D, Needham I: Effects of aggression management trainings for mental health care and disability care staff – systematic review. Psychiatr Prax 2007; 34: 7–14.

    Richter D, Berger K: Gewaltsituationen in der psychiatrischen Pflege. Zeitschrift für Psychiatrische Pflege heute (PPH) 2001; 7: 242–247.

    Schablon A, Zeh A, Wendeler D, Peters C, Wohlert C, Harling M, Nienhaus A: Frequency and consequences of violence and aggression towards employees in the German healthcare and welfare system: a cross-sectional study. BMJ Open 2012; 2: e001420.

    Schablon A, Wendeler D, Kozak A, Nienhaus A, Steinke S: Prevalence and consequences of aggression and violence towards nursing and care staff in Germany – a survey. Int J Environ Res Public Health 2018; 15: E1247.

    Online-Quellen

    Risiko Übergriff – Konfliktmanagement im Gesundheitsdienst, UK NRW et al.
    https://gesundheitsdienstportal.de/risiko-uebergriff/start/index.htm

    BGW-Organisationsberatung zum Umgang mit Gewalt und Aggression
    https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/themen/gesund-im-betrieb/umgang…

    Abb. 4:  Beurteilung von Gewaltereignissen in Anlehnung an die Risikobewertung nach Nohl (Quelle: Nohl u. Thiemecke 1988)

    Abb. 4: Beurteilung von Gewaltereignissen in Anlehnung an die Risikobewertung nach Nohl (Quelle: Nohl u. Thiemecke 1988)
    Abb. 5:  Bestandteile der BGW-Organisationsberatung zum Umgang mit Gewalt und Aggression

    Abb. 5: Bestandteile der BGW-Organisationsberatung zum Umgang mit Gewalt und Aggression

    Info

    Risikobewertungsmatrix

    Die dargestellte Risikobewertungsmatrix geht auf die bekannte Risikobewertung nach Nohl (1988) zurück. Sie wurde 2022 von einer BGW-internen Arbeitsgruppe für die Beurteilung
    von Gewaltereignissen (nonverbaler, verbaler, körperlicher, sexuell-, rassistisch- oder religiös-­geprägter Art) modifiziert und betrachtet neben den körperlichen auch die psychischen Folgen eines Gewaltereignisses.

    Zur Erleichterung der Einordnung der gesammelten Gewaltereignisse in das Modell wurden ­folgende Prämissen für die Anwendung formuliert:

  • In der Anwendung stellt die Risikobewertungsmatrix eine vereinfachte Abbildung der ­Wirklichkeit dar.
  • Die Einschätzung der gesundheitlichen Folgen der beurteilten Gewaltereignisse gilt für den Durchschnitt der Beschäftigten – individuelle Abweichungen, zum Beispiel besonders vulnerabler Personen, sind zu berücksichtigen.
  • Kontakt

    Dipl.-Psych.Pamela Ostendorf
    Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und ­Wohlfahrtspflege (BGW); Pappelallee 33–37; 22089 Hamburg

    Foto: BGW / C. Raabe

    Dipl.-Pflegewirtin Julia Ludwig-Hartmann
    Freie Dozentin, Beraterin, Coachin; Fachkraft für Arbeitssicherheit; Hauptstraße 43; 65594 Runkel

    Foto: privat

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