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Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.03.2021 – B 2 U 7/19 R –

Extreme Einwirkung durch Schweißrauche und -gase

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten darüber, ob der im August 2017 verstorbene W. an einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4115 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) gelitten hat (Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen – Siderofibrose). W. war von 1945 bis 1982 als Stahlbauschlosser 26,8 Jahre einer kumulativen Schweißrauchbelastung von insgesamt 258 mg pro m³ Atemluft x Jahre [mg/m³ x Jahre] ausgesetzt. Eine Lungenfibrose wurde nachgewiesen. Der Präventionsdienst der Beklagten stellte fest, W. habe im schweren Stahlbau weitgehend in großen Werkhallen gearbeitet und nur etwa zwei bis drei Jahre arbeitstäglich in räumlich engen Kastenprofilen geschweißt. Die Beklagte verneinte eine BK 4115 sowie Ansprüche auf Leistungen, weil keine „Schweißerlunge” bestehe (Bescheid vom 12.10.2011 und Widerspruchsbescheid vom 12.07.2012).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) nach Beiziehung eines arbeitstechnischen und eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass bei W. eine BK 4115 vorliege (Urteil vom 23.11.2016). Die Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es befand, die kumulative Schweißrauchbelastung von 258 mg/m³ x Jahre sei schon isoliert betrachtet als „ex­trem” im Sinne des Tatbestands der BK 4115 einzustufen. Die Zahl der Erkrankten steige bereits im Bereich von etwa 100–200 mg/m³ x Jahre bis zu einem Median-(50-Perzentil-)Wert von ca. 220 mg/m³ x Jahre in einem kritischen Umfang an, wie sich aus dem Merkblatt zur BK 4115 und der entsprechenden wissenschaftlichen Begründung ergebe. Pathophysiologisch sei es nicht begründbar, den BK-Tatbestand auf langjährige Tätigkeiten unter ungünstigen Lüftungsverhältnissen in engen Räumen zu begrenzen. Hohe Partikelkonzentrationen entstünden auch unter anderen Gegebenheiten. Entscheidend sei die Schweißrauchkonzentration im Atembereich und die kumulative Schweißrauchexposition über das gesamte Erwerbsleben hinweg, wobei es nicht auf die räumlichen Umgebungsbedingungen ankomme. Früher sei der Arbeitsschutz häufig unzureichend gewesen, so dass auch in großen Hallen extreme Bedingungen geherrscht hätten. Soweit die wissenschaftliche Begründung zur BK 4115 „extreme” Einwirkungen „insbesondere” bei „eingeschränkten Belüftungsverhältnissen” bejahe, seien die dort angeführten Beispiele weder abschließend noch hinsichtlich ihres Hohlvolumens ausreichend konkret. Die mithin vorliegende extreme und mit 26,8 Jahren auch langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und -gasen habe W.‘s Siderofibrose mit hinreichender Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich verursacht.

Normschweißer1 erfasst?

Mit ihrer Revision rügte die Beklagte, das LSG lege das Tatbestandsmerkmal „extre­me Einwirkung” der BK 4115 fehlerhaft aus. Darunter sei nur die langjährige, das heißt mindestens etwa zehnjährige oder etwa 15.000-stündige Exposition gegenüber Schweißrauchen und -gasen zu verstehen, die in Kellern, Tunneln, Behältern, Tanks, Waggons, Containern, Schiffsräumen oder vergleichbar räumlich beengten Verhältnissen bei arbeitshygienisch unzureichenden sicherheitstechnischen Vorkehrungen (d. h. fehlenden oder unzureichenden Absaugungen und/oder fehlendem persönlichen Körperschutz) auf den Versicherten eingewirkt hätten. Dies ergebe die Auslegung der BK 4115 nach dem Wortlaut, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Norm.

Erfasse man dagegen auch Personen, die ausschließlich unter Normalbedingungen ohne Beeinträchtigung der Belüftung schweißten (sog. „Normalschweißer”) oder sogar bloße „Bystander”, überschreite dies den äußersten Sinn, den der Superlativ „extrem” noch haben könne. Da „Normalschweißer”, die an uneingeschränkt belüfteten Schweißerarbeitsplätzen tätig seien, eine kumulative Gesamtbelastungsdosis von ca. 250 mg/m3 x Jahre „bereits” nach 15 Jahren und Bystander nach 24 Jahren erreichten, genüge schon das Tatbestandsmerkmal „langjährig“, und das Merkmal „extrem” sei obsolet und laufe praktisch leer.

Das Bundessozialgericht hat diese restrik­tive Interpretation des Tatbestandes der BK 4115 verworfen und die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG sei der Versicherte bei seinen „Verrichtungen” (u. a. Schweißen, Heften, Trennen, Schleifen, Richten, Montieren, Aufsicht führen) im Rahmen seiner „versicherten Tätigkeit” als beschäftigter Stahlbauschlosser 26,8 Jahre lang Schweißrauchen und -gasen ausgesetzt und diese langjährigen „Einwirkungen” hätten die „Krankheit” Lungenfibrose mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursacht. Die Einwirkungen von Schweißrauchen und -gasen seien auch „extrem” im Sinne des Normtextes der BK 4115.

Wann ist Einwirkung „extrem”?

Was unter extremer Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen zu verstehen sei, lasse sich anhand des Wortlauts – beim Fehlen skalierter Variablen – nicht exakt bestimmen. Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Erfordernisse der Normenklarheit und der Bestimmtheit genüge es jedoch, wenn eine Präzisierung mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden möglich sei. Es sei daher Aufgabe der Unfallversicherungsträger und im Streitfall der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, unter Berücksichtigung des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte und des Normzwecks den vom Verordnungsgeber bewusst gewählten unbestimmten Rechtsbegriff der „extremen Einwirkung” näher zu konkretisieren und letztlich operationalisierbar zu machen. Auch bei der hier vorzunehmenden Auslegung nach den klassischen Auslegungsregeln sei gemäß § 2 Abs. 2 SGB I darauf zu achten, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, wenngleich § 2 Abs. 2 SGB I keine weitere, zusätzliche Auslegungsmethode für das Sozialrecht begründe.

Wortauslegung von „extrem”

Das Adjektiv „extrem” bezeichne in den Naturwissenschaften allgemein den größten oder kleinsten Wert einer Messreihe (absolutes Maximum/Minimum). Etymologisch entstamme das Wort dem Lateinischen „exter”, „exterus” in der Bedeutung
„außerhalb befindlich” und ist dessen Superlativ „extremus” im Sinne von „der äußerste” entlehnt. Hiervon ausgehend werde das Wort „extrem” auch mit „äußerst” (hoch/niedrig), „außergewöhnlich”, „radikal” umschrieben.

Da die Entstehung einer Lungen­fibrose umso wahrscheinlicher wird, je länger und je mehr Schweißrauche und -gase eingeatmet wurden, könnten mit dem Tatbestandsmerkmal „extrem” von vornherein nur äußerst hohe (und keinesfalls niedrige) Expositionen bezeichnet sein. Zugleich könne sich das Wort „extrem” in der BK 4115 nicht nur auf das absolute Maximum messbarer (quantifizierbarer) beziehungsweise tatsächlich gemessener Einwirkungen beziehen, weil im normativen Kontext abstrakt-genereller Regelungen, die für eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten konzipiert und prinzipiell an einen unbestimmten Personenkreis gerichtet sind, ein mehr- beziehungsweise vielfacher Eintritt der vorgesehenen Rechtsfolge möglich sein müsse. Deshalb müsse – zumindest gedanklich – auf einer gleitenden Skala ein bestimmter Schwellenbereich existieren, ab dem „extreme“, das heißt außergewöhnlich hohe Einwirkungen anzunehmen seien.

Stelle man sich dafür eine Skala von 1 bis 100 vor, in der Messwerte von Schweißrauchkonzentrationen nach ihrer Größe beziehungsweise ihrem Rang (sog. Prozentrang oder Perzentil) sortiert seien, so dürfte der Bereich extremer Einwirkungen beim 90-Perzentilwert für lungengängige (genauer: alveolengängige) Schweißrauche erreicht sein, wie dies in Abbildung 1 der wissenschaftlichen Begründung (Bekanntmachung des BMAS vom 01.09.2006, BArbBl 10/2006, S. 46) auch angelegt sei. Mithilfe von Perzentilen (Perzentil P [1 ≤ P ≤ 99] einer Verteilungsfunktion ist der Wert, für den P% aller anderen Werte gleich sind oder darunter fallen und [100-P]% aller Werte gleich sind oder darüber fallen) lasse sich abschätzen, ob Werte auf einer Skala von zum Beispiel „extrem niedrig”, „sehr niedrig”, „niedrig“, „niedrig-normal“, „normal“, „normal-hoch“, „hoch“, „sehr hoch“ oder „extrem hoch“ seien. Der 90-Perzentilwert mehrerer Messungen zeige an, dass 90 % alle anderen (Mess-)Daten im Datenkollektiv gleich hoch oder niedriger sind beziehungsweise 10 % aller (Mess-)Daten gleich hoch oder höher sind, was – auch und gerade sprachlich-grammatikalisch – die Annahme „extrem“ hoher Werte im Bereich des 90-Perzentilwerts rechtfertige.

Wo dieser Schwellenbereich auf welcher Skala verlaufe, lasse sich dem Verordnungstext jedoch nicht entnehmen. Entgegen der Auffassung der Beklagten bleibe indes festzuhalten, dass sich der Verordnungstext – trotz der erforderlichen Exposition gegenüber „Schweißrauchen und Schweißgasen“ – nicht allein auf die Berufsgruppe der Schweißer beziehungsweise auf das Bedienpersonal von Schweißanlagen bezieht, sondern auch solche Personen erfasst, die in der Nachbarschaft schweißtechnischer Arbeiten als sogenannte „Bystander“ tätig sind.

Systematische Auslegung von ­„extrem”

Der systematische Zusammenhang mit der Ermächtigungsgrundlage in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII lege es nahe, dass sich die Skala nur auf Personen beziehe, die selbst schweißen oder Schweißanlagen bedienen, verwandte Verfahren (z. B. thermisches Schneiden, Trennen) ausführen oder an benachbarten Arbeitsplätzen als Bystander tätig sind. Denn nur diese „bestimmten Personengruppen“ seien „durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung“ besonderen Einwirkungen von Schweißrauchen und -gasen „ausgesetzt“ und damit gegenüber Schadstoffen exponiert, mit denen die Allgemeinbevölkerung typischerweise überhaupt nicht in Kontakt gerate.

Quantitativ bewegten sich die zu skalierenden Einwirkungen deshalb von vornherein auf dem Expositionslevel, das in der Umgebung schweißtechnischer Arbeiten typischerweise herrscht. Hinzu komme, dass die schädlichen Einflüsse „langjährig“ sein müssen und kurzzeitige ungenügend sind. Daher müssten die Einwirkungen von Schweißrauchen und -gasen auch für langjährig tätige Schweißer, Bediener von Schweißanlagen und deren Bystander „extrem“ sein, was nicht ausschließe, dass Betroffene aufgrund der langen Dauer der schädlichen Einwirkungen außergewöhnlich stark und gerade deshalb „extrem“ exponiert sein könnten.

Eindeutig nicht extrem seien – aus systematischer Sicht – Schadstoffkonzentra­tionen, die die Arbeitsplatzgrenzwerte einhalten, wie sie in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) festgelegt sind. Gemäß Ziffer 1 Abs. 1 Satz 2 der TRGS 900 gibt der Arbeitsplatzgrenzwert an, bei welcher Konzentration eines Stoffs akute oder chronische schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen nicht zu erwarten sind (§ 2 Abs. 8 Satz 2 GefStoffV). Es handele sich um Schichtmittelwerte bei in der Regel täglich achtstündiger Exposition an fünf Tagen pro Woche während der Lebensarbeitszeit (Ziffer 1 Abs. 2 Satz 1 TRGS 900). Von den Schwebstoffen, die im gesamten Atembereich vorhanden seien, könne indes nur ein Bruchteil die Lungen­bläschen (Alveolen) erreichen, schädigen und zu einer Lungenfibrose führen. Für diesen alveolengängigen Anteil (sog. A-Staub-
Fraktion) habe bei Einführung der BK 4115 zum 01.07.2009 entstehungszeitlich ein Allgemeiner Staubgrenzwert (ASGW) von 3,0 mg/m³ gegolten, der 2014 geltungszeitlich um 58 % auf 1,25 mg/m³ bei einer mittleren physikalischen Staubdichte von 2,5 g/cm³ herabgesetzt worden ist (Ziffer 2.4 Abs. 7 Satz 2 TRGS 900). Zwar sind Schweißrauche definitionsgemäß (vgl. Ziffer 1 Abs. 4 TRGS 900) keine Stäube. Da es aber keinen spezifischen Grenzwert für Schweißrauch gäbe, sei zu ihrer Gefährdungsbeurteilung der Grenzwert für alveolengängigen Staub als Obergrenze lückenfüllend heranzuziehen.

Dies sei auch deshalb gerechtfertigt, weil die BK 4115 im Unterabschnitt 41 „Erkrankungen durch anorganische Stäube“ des Abschnitts 4 der Anlage 1 zur BKV eingeordnet ist. Zudem sei das Gefährdungspotenzial der kleinen, sehr kleinen und sogar ultrafeinen (Staub-)Teilchen in Rauchen sehr hoch, weil sie überwiegend alveolengängig seien. Aus den Werten der TRGS lasse sich aus systematischer Sicht zumindest folgern, dass extreme Einwirkungen erst erreicht würden, wenn der ASGW von 3,0 mg/m³ beziehungsweise 1,25 mg/m³ für lungengängigen Schweißrauch auf längere Dauer um ein Vielfaches überschritten werde. Allerdings lasse sich ein genauer Vervielfältigungsfaktor, mit dessen Hilfe ein Schwellenwert errechnet werden könnte, auch diesen systematischen Überlegungen nicht entnehmen.

Entstehungsgeschichtliche Ableitung von „extrem”

Aus der wissenschaftlichen Begründung zur BK 4115 und insbesondere aus ihrer Abbildung 1 könnten jedoch klare Hinweise gewonnen werden, wo der Bereich extremer Einwirkungen nach der Vorstellung des Verordnungsgebers und des ihn beratenden Ärztlichen Sachverständigenbeirats beginnen solle.

Die wissenschaftliche Begründung und das entsprechende Merkblatt seien bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe in BK-Tatbeständen heranzuziehen und zu berücksichtigen, weil eine tatsächliche Vermutung dafür spreche, dass sie Vorstellungen und die Entscheidung des (historischen) Verordnungsgebers wesentlich mitbestimmt hätten. Sie seien aber weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten, sondern dienten lediglich als Interpretationshilfe und könnten Aufschluss über die Vorstellungen und den Willen des Normsetzers geben.

Die wissenschaftliche Begründung zur BK 4115 nehme in ihrer Abbildung 1 auf sicherheitstechnische Messerfahrungen an optimal und eingeschränkt belüfteten Schweißerarbeitsplätzen Bezug. Danach waren Lichtbogenhand- und Schutzgasschweißer an optimal belüfteten Arbeitsplätzen Schweißrauchkonzentrationen mit einem Median-(50-Perzentil-)Wert von 1,6 mg/m³ ausgesetzt. Diese Durchschnittsbelastung bewege sich bereits um 0,35 mg/m³
über dem heute zulässigen ASGW von 1,25 mg/m³, aber noch nicht im Extrembereich. Dagegen läge nach Abbildung 1 der wissenschaftlichen Begründung zur BK 4115 der 90-Perzentilwert, der schon mit Blick auf den Median von 1,6 mg/m³ extreme Bedingungen anzeige, für das Lichtbogenhand- und Schutzgasschweißen bei 5,5 mg/m³ und übersteige den heutigen ASGW damit um das 4,4fache. Es erscheine daher – jedenfalls aus heutiger Sicht – gerechtfertigt, ab einer Schweißrauchkonzentration von 5,5 mg/m³ von Extrembedingungen auszugehen. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien somit erfüllt, sobald der Versicherte langjährig, das heißt etwa zehn Jahre beziehungsweise 15.000 Stunden lang, einer Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/m³ oder mehr ausgesetzt gewesen ist.

Für intensives Lichtbogenhandschweißen sei nach dem arbeitstechnischen Sachverständigengutachten eine vierstündige Lichtbogenbrenndauer pro Arbeitstag zu unterstellen, weil die Schweißkanten mittels Fase (Abkanten bzw. Anschrägen durch Fräsen, Schleifen, Entgraten) vorbereitet werden müssen, um eine optimale Nahtverbindung beim Schweißen zu erreichen, und die Schweißnähte anschließend gereinigt, gerundet oder glatt geschliffen werden müssten. Folglich erfordert das Schweißen stets eine Schweißnahtvor- und -nachbearbeitung, die jeder Schweißer neben seiner eigentlichen Schweißtätigkeit ausübe, wodurch sich die arbeitstägliche Schweißdauer (Lichtbogenbrenndauer) verringere. Teile man die erforderliche Anzahl von 15.000 Stunden durch ein vierstündiges Schweißen pro Arbeitstag, so müsse ein Versicherter insgesamt 3750 Stunden (dividiert durch 220 Arbeitstage/pro Jahr = 17 Jahre) gegenüber Schweißrauchen im Umfang des 90-Perzentilwerts von durchschnittlich 5,5 mg/m³ exponiert gewesen sein, um die arbeitstechnischen Voraussetzungen (extreme und langjährige Einwirkungen) zu erfüllen.

Habe er in engen Räumen (hier: Kastenprofilen) geschweißt, so sei nach dem arbeitstechnischen Sachverständigengutachten davon auszugehen, dass er dies pro Arbeitstag höchstens 2 Stunden lang tolerieren werden konnte, wobei noch eine Stunde für die Nahtvor- und -nachbearbeitung abzuziehen sei, so dass nur eine Stunde reine Schweißarbeit in engen Räumen berücksichtigt werden könnte. Die 15.000-Stunden-Grenze wäre danach erst nach 15.000 Tagen (dividiert durch 220 Arbeitstage/pro Jahr = 68 Jahren) erreicht und von keinem Schweißer je zu erfüllen. Hieraus folge für den Senat, dass auf die Zehnjahresgrenze jeder Tag anzurechnen sei, an dem der Betroffene – wenn auch nur kurzzeitig als Schweißer, Bystander oder Bediener schweißtechnischer Anlagen – einer extremen Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/m³ oder mehr ausgesetzt war.

Für die Frage, ob die Einwirkungen mit lungengängigen Schweißrauchen und -gasen „extrem“ waren, seien also entgegen dem Revisionsvorbringen nicht die räumlichen Umgebungsbedingungen entscheidend, sondern es komme auf die Höhe der Schweißrauchkonzentration in der Atemluft an, deren 90-Perzentilwert, der Extrembedingungen anzeige, für das Lichtbogenhandschweißen mindestens 5,5 mg/m³ betrage und an „uneingeschränkt“ beziehungsweise „optimal belüfteten“ Arbeitsplätzen ermittelt worden ist, das heißt gerade außerhalb beengter Räume. Für diesen Wert sei es – entgegen der Revision – auch nicht entscheidend, ob der Versicherte Schweißer oder ein sogenannter „Bystander“ gewesen sei.

Nach dem arbeitstechnischen Sachverständigengutachten sei der Versicherte gegenüber Schweißrauchen und -gasen unter Extrembedingungen in diesem Sinne insgesamt 170 Monate (= 14 Jahre) exponiert gewesen. Damit erfülle er die aufgezeigten arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine extreme und langjährige Einwirkung im Sinne der BK 4115 ohne weiteres.

Schutzbereich der BK 4115

Schließlich bestehe kein Zweifel, dass der Schutzbereich der BK 4115 den berufsbedingten Gesundheitsschaden des Versicherten erfasse und der Unfallversicherungsträger deshalb auch aus teleologischer Sicht einstandspflichtig sei. Der Senat komme daher zu der Überzeugung, dass anders als etwa bei der sogenannten Wirbelsäulen-BK 2108 eine abschließende und bindende Auslegung des Begriffs „extrem“ in der BK 4115, gerade auch im Lichte des aktuel­len Stands wissenschaftlicher Erkenntnisse, möglich sei. Wie dargelegt, sei ab einer Schweißrauchkonzentration von 5,5 mg/m³ von Extrembedingungen auszugehen, so dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien, sobald Versicherte etwa zehn Jahre beziehungsweise 15.000 Stunden lang dieser oder einer höheren Schweißrauchkonzentration ausgesetzt gewesen
seien.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

doi:10.17147/asu-1-216979

Kernaussagen

  • Für die BK 4115 kommt es nicht auf die räumlichen Umgebungsbedingungen, sondern vielmehr nur auf die Höhe der Schweißrauchkonzentration in der Atemluft an.
  • Die BK 4115 erfasst nicht nur die Berufsgruppe der Schweißer und das Bedienpersonal von Schweißanlagen, sondern auch Personen, die in der Nachbarschaft schweißtechnischer Arbeiten als sogenannte „Bystander“ tätig sind.
  • Ab einer Schweißrauchkonzentration von 5,5 mg/m³ ist von Extrembedingungen auszugehen.
  • Langjährig exponiert sind Versicherte nach etwa zehn Jahren beziehungsweise 15.000 Stunden mit einer Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/m³ oder mehr.
  • Auf die Zehnjahresgrenze ist jeder Tag anzurechnen, an dem Betroffene – wenn auch nur kurzzeitig als Schweißer, Bystander oder Bediener schweißtechnischer Anlagen – einer extremen Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/m³ oder mehr ausgesetzt waren.
  • Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

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