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doi:10.17147/asu-1-426482
Recognition of Lyme borreliose for special risk groups
For the recognition of an occupational disease under No. 3102 “Diseases transmissible from animals to humans”, concrete proof of infection through the bite of an infected tick was previously required, especially for Lyme borreliosis. The Federal Social Court (BSG) has now clarified that a simplified determination is sufficient for particularly vulnerable groups of people. In principle, it is sufficient to prove that there was a particular risk of infection due to the corresponding contamination of the insured person’s work environment.
Kernaussagen
Anerkennung der Borreliose für besondere Gefährdungsgruppen
Für die Anerkennung einer Berufskrankheit der Nr. 3102 „Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten“ wurde bisher speziell für die Lyme-Borreliose der konkrete Infektionsnachweis durch den Stich einer infizierten Zecke gefordert. Das Bundessozialgericht (BSG) hat nunmehr klargestellt, dass für besonders gefährdete Personengruppen eine erleichterte Feststellung genügend ist. Grundsätzlich sei der Nachweis ausreichend, dass eine besondere Infektionsgefahr wegen der entsprechenden Durchseuchung des Tätigkeitsumfelds der versicherten Person bestand.
Tatbestand
Die Klägerin war von Januar 1999 bis Juni 2000 als Erzieherin in einem Waldkindergarten in Baden-Württemberg beschäftigt. Während dieser Tätigkeit war sie durchgängig der Gefahr einer Infektion mit Borrelien aufgrund von Zeckenstichen ausgesetzt. Regelmäßig suchte sie ihren Körper auf Zecken ab, entdeckte jedoch in dieser Zeit weder festgesaugte Zecken noch eine sogenannte Wanderröte. Auch erfolgte zeitnah zu ihrer Tätigkeit im Waldkindergarten keine ärztliche Feststellung einer Borrelieninfektion.
Im Juni 2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung einer Lyme-Borreliose als Berufskrankheit (BK) und reichte hierzu diverse ärztliche Unterlagen ein. Die Beklagte zog weitere ärztliche Unterlagen und Stellungnahmen bei und holte Auskünfte des Trägers des Waldkindergartens sowie der Staatlichen Gewerbeärztin ein. Im Anschluss lehnte sie die Anerkennung einer BK 3102 ab, weil das Krankheitsbild einer (Neuro-)Borreliose nicht vorliege und kein besonderes Infektionsrisiko während der Tätigkeit im Waldkindergarten bestanden habe. Nach einer Studie seien nur 16 % der dortigen Zecken mit Borrelien infiziert gewesen. Die Klägerin habe des Weiteren ein außerberufliches, vergleichbares Erkrankungsrisiko geschildert. Es spräche deshalb mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen der Berufstätigkeit im Waldkindergarten und der Entstehung einer Erkrankung durch borrelieninfizierte Zecken (Bescheid vom 20.02.2009 und Widerspruchsbescheid vom 16.06.2009).
Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung einer Stellungnahme des Regierungspräsidiums Stuttgart sowie eines fachorthopädischen und eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, dass bei der Klägerin eine BK 3102 in Form der Lyme-Borreliose vorliege. Die Klägerin sei während ihrer Tätigkeit im Waldkindergarten einer besonderen Gefahr der Borrelieninfektion durch Zeckenstiche ausgesetzt gewesen. Die bei ihr bestehende Lyme-Borreliose sei hierdurch verursacht worden (Urteil vom 28.04.2015).
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben. Die Voraussetzungen für die Feststellung einer BK 3102 seien nicht erfüllt, weil bereits die erforderliche Einwirkung fehle. Es sei kein konkreter Nachweis eines Zeckenstichs gerade bei der versicherten Tätigkeit im Waldkindergarten gelungen. Dass die Klägerin bei dieser Tätigkeit durchgängig einer besonderen Gefahr der Infektion mit Borrelien durch Zeckenstiche ausgesetzt gewesen sei, genüge nicht. Deshalb könne offenbleiben, ob sie an einer Lyme-Borreliose erkrankt sei (Urteil vom 14.05.2020).
Auf die Revision der Klägerin hat das BSG das Urteil aufgehoben und an das LSG zurückverwiesen. Es konnte mangels hinreichender Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 hat.
Borreliose ist eine Krankheit i.S.d. BK 3102
Die Klägerin war als angestellte Erzieherin in einem Waldkindergarten Versicherte im Sinne der (i.S.d.) § 9 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Der Verordnungsgeber hat die BK 3102 unter der Abschnittsüberschrift „Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten“ als „Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten“ bezeichnet. Hierbei handele es sich um eine sogenannte offene BK-Bezeichnung, bei der die erforderliche Krankheit nicht präzise umschrieben, sondern nur eine Krankheitsgruppe genannt werde. Anerkennungsfähig seien mithin alle Krankheiten dieser Gruppe, die durch die betreffende Einwirkung potenziell verursacht werden könnten. Um ein bestimmtes Krankheitsbild aus dem Schutzbereich dieser BK ausschließen zu können, müsse deshalb feststehen, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden könne. Dies sei bei der Lyme-Borreliose nicht der Fall, denn diese Krankheit komme als eine von Zecken, also Tieren, durch Borrelien auf Menschen übertragbare Krankheit in Betracht. Die Lyme-Borreliose sei mithin eine Krankheit i.S.d. BK 3102.
Kein konkreter Infektionsnachweis erforderlich
Für die Feststellung einer Einwirkung i.S.d. BK 3102 genüge eine besonders erhöhte Infektionsgefahr. Eine Einwirkung i.S.d. § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. der BK 3102 liege mithin vor, wenn der Versicherte2 einer der versicherten Tätigkeit innewohnenden besonderen Gefahr der Infektion mit einer von Tieren übertragbaren Erkrankung ausgesetzt gewesen sei. Die besondere Infektionsgefahr sei nicht Bestandteil eines Ursachenzusammenhangs zwischen versicherter Tätigkeit und einer Infektionskrankheit i.S.d. BK 3102, sondern sie ersetze als eigenständiges Tatbestandsmerkmal die Einwirkung. Deshalb müsse kein konkreter Kontakt mit einem Tier und deshalb hier auch kein Stich durch eine mit Borrelien infizierte Zecke nachgewiesen sein.
BK‘en 3101 und 3102 gleichgelagert
Der Senat habe bereits in früheren Beschlüssen (2 BU 82/89 + B 2 U 14/98 R) ausgeführt, dass an das Vorliegen einer BK 3102 keine anderen Anforderungen zu stellen seien als im Falle einer BK 3101. Es reiche der Nachweis einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr, der Versicherte bei der Berufstätigkeit ausgesetzt seien. Die BK‘en 3101 und 3102 seien insoweit „gleichgelagert“. Eine bestimmte Infektionsquelle müsse nicht nachgewiesen sein.
Zwar habe der Senat in seiner Entscheidung vom 27.06.2017 (B 2 U 17/15 R) bezüglich der Anerkennung einer Lyme-Borreliose als BK 3102 erwogen, ob hinsichtlich der Einwirkung i.S.d. BK 3102 etwas anderes gelte als hinsichtlich der Einwirkung i.S.d. BK 3101. Hierzu habe er darauf hingewiesen, dass die BK 3101 eine besondere Infektionsgefahr schon tatbestandlich voraussetzte, während der Verordnungsgeber die erforderliche Einwirkung in der BK 3102 gerade nicht definiert habe. Der Senat habe in der genannten Entscheidung ausdrücklich offengelassen, ob für die Anerkennung einer Krankheit – auch einer Lyme-Borreliose – als BK 3102 ein konkreter Nachweis eines Tierkontakts durch einen Zeckenstich gerade bei der versicherten Tätigkeit erforderlich sei oder ob es genüge, dass der Versicherte in seiner Tätigkeit (dort als forstwirtschaftlicher Unternehmer) generell einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko durch Borrelien ausgesetzt gewesen war. Diese Frage beantworte der Senat dahin, dass es entsprechend der bisherigen Rechtsprechung zur BK 3102 für das Vorliegen einer Einwirkung ebenso wie bei der BK 3101 genüge, dass der Versicherte berufsbedingt einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt ist. Dies folge aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der BK 3102.
Historische Entwicklung der BK’en 3101 und 3102
Dem Wortlaut der BK 3102 sei ebenso wenig wie dem der BK 3101 zu entnehmen, dass ein konkreter Kontakt mit infizierten Tieren oder mit infiziertem Material festgestellt werden müsse.
Für den Verzicht auf den Nachweis eines konkreten Kontakts spreche auch die weitgehend parallele historische Entwicklung der BK‘en 3101 und 3102. Der Entwicklungsgeschichte sei nicht zu entnehmen, dass dieser Nachweis für die BK 3102 erforderlich, für die BK 3101 hingegen eine besondere Gefährdung ausreichend sein sollte. Die Ursprungsvorschrift zur BK 3101, die BK 22, erfasste gemäß der Zweiten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BK‘en (2. BKVO) vom 11.02.1929 Infektionskrankheiten und zählte konkrete Betriebe und Tätigkeiten im Einzelnen auf. Die Dritte Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (3. BKVO) vom 16.12.1936 listete diese BK als BK 26. Auch die Ursprungsvorschrift der BK 3102, die BK 27 i.d.F. des § 2 Nr. 11 der Vierten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BK‘en (4. BKVO) vom 29.01.1943 benannte in Spalte III als Unternehmen die „Tierhaltung und Tierpflege sowie Tätigkeiten, die durch Umgang oder Berührung mit Tieren … zur Erkrankung Veranlassung geben“. Beide BK‘en stellten nicht auf den konkreten Nachweis eines Kontakts mit Menschen oder Tieren, sondern nur auf die Art der Tätigkeit ab. Zur BK 27 führte die Verordnungsbegründung dementsprechend aus, da eine Gefährdung durch Übertragung von Tierkrankheiten in einer Reihe von Berufen bestehe, solle durch Einbeziehung von einigen bei Menschen häufig beobachteten Tierkrankheiten der gleiche Versicherungsschutz gewährt werden wie beim Pflegepersonal in Krankenhäusern unter anderem nach BK 26 der 3. BKVO, und zwar unbeschadet der Tatsache, dass die Übertragung selbst in der Regel den Tatbestand des Unfalls erfüllt und insoweit bereits versicherungsrechtlich berücksichtigt werden kann. Die Fünfte Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BK‘en (5. BKVO) von 26.07.1952 übernahm als neue BK‘en 39 und 40 die bisherigen BK‘en 22 beziehungsweise 26 und 27, strich jedoch aus Vereinfachungsgründen die bislang ausdrücklich benannten Krankheiten. Mit der Sechsten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BK‘en (6. BKVO) vom 28.04.1961 wurden die oben genannten BK‘en unter der Überschrift „Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten“ nunmehr als BK‘en 37 und 38 weitergeführt. Mit Blick auf die BK 38, „Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten“, entfiel die Beschränkung auf bestimmte Unternehmen, unter anderem um Zweifel auszuräumen, ob auch der Umgang mit leeren Behältnissen unter die Aufzählung fiel. Erst durch die 7. BKVO vom 20.06.1968 wurde die BK 37, Vorläufervorschrift der BK 3101, dahin gefasst, dass die Anerkennung einer BK nicht nur für Versicherte in konkret benannten Tätigkeiten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium, sondern nunmehr auch für Versicherte, die durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt waren, in Betracht kam. Damit sollte der Versicherungsschutz, allerdings beschränkt auf Versicherte, die im Einzelfall durch ihre Tätigkeit der Ansteckungsgefahr besonders ausgesetzt waren, ausgeweitet werden. Weder wurde die Regelung zur BK 38, Vorgängervorschrift zur BK 3102, geändert, noch sei anderweitig ersichtlich, dass gleichzeitig eine Beschränkung des Versicherungsschutzes erfolgen sollte.
Nachweisschwierigkeiten vermeiden
Schließlich sprächen Sinn und Zweck des § 9 SGB VII i.V.m. der BK 3102 dafür, dass das Tatbestandsmerkmal der Einwirkung nicht den Nachweis eines konkreten Kontakts mit einem infizierten Tier, zum Beispiel durch einen Stich, erfordere. Grundsätzlich solle durch die Anerkennung von BK‘en Versicherungsschutz gewährt werden für schädigende Einwirkungen, die konkret nicht im Einzelnen nachweisbar sind. Dies gelte für die Infektionskrankheiten nach der BK 3101, aber auch für solche der BK 3102. Sei ein Nachweis möglich, so könne bereits ein Arbeitsunfall vorliegen. Versicherten solle Versicherungsschutz durch Anerkennung einer BK 3101 oder BK 3102 gewährt werden, weil bei ihren versicherten Tätigkeiten eine besondere Infektionsgefahr bestehe und der Nachweis der konkreten Infektionsquelle Schwierigkeiten bereite. So habe der Senat bereits zur BK 3101 ausgeführt, die Listen-BK‘en seien in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass Versicherte über einen längeren Zeitraum schädigenden Einwirkungen ausgesetzt seien und erst diese längerfristige Belastung zu der Erkrankung führe. Bei der BK 3101 bestehe hingegen die Besonderheit, dass die schädliche Einwirkung, also der Ansteckungsvorgang, bei dem die Krankheit übertragen werde, ein einmaliges, punktuelles Ereignis darstelle, das häufig im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden könne. Meistens seien verschiedene Infektionsquellen und Übertragungswege denkbar, ohne dass sich feststellen lasse, bei welcher Verrichtung es tatsächlich zu der Ansteckung gekommen sei. Gerade aus diesem Grunde seien Infektionskrankheiten, deren auslösendes Ereignis – die einmalige Ansteckung – an sich eher die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfülle, als BK bezeichnet worden.
Um den Nachweisschwierigkeiten zu begegnen, genüge bei der BK 3101 als Einwirkung i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, dass der Versicherte einer der versicherten Tätigkeit innewohnenden Infektionsgefahr besonders ausgesetzt gewesen sei. Später habe der Senat dies dahin präzisiert, dass die besondere Infektionsgefahr nicht Bestandteil eines Ursachenzusammenhangs zwischen versicherter Tätigkeit und Infektionskrankheit sei. Sie ersetze vielmehr als eigenständiges Tatbestandsmerkmal die Einwirkungen und sei mit dem weiteren Tatbestandsmerkmal „Verrichtung einer versicherten Tätigkeit“ durch einen wesentlichen Kausalzusammenhang, hingegen mit der Erkrankung nur durch die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs verbunden. Dies gelte auch für die BK 3102. Daher seien auch für die erhöhte Infektionsgefahr bei der BK 3102 hinsichtlich des Beweismaßstabs die Anforderungen zu stellen, die ansonsten für das Tatbestandsmerkmal der Einwirkungen zu beachten sind. Sie müsse im Vollbeweis vorliegen.
Besonders erhöhte Infektionsgefahr
Während ihrer Tätigkeit als Erzieherin in einem Waldkindergarten sei die Klägerin einer besonders erhöhten Gefahr der Infektion durch Borrelien aufgrund von Zeckenstichen ausgesetzt gewesen. Für die Feststellung der erhöhten Infektionsgefahr habe der Senat in Fortentwicklung seiner früheren Rechtsprechung in seinem Urteil vom 02.04.2009 (B 2 U 30/07 R) für die BK 3101 ausgeführt, dass sich diese im Einzelfall aufgrund der Durchseuchung des Umfelds der Tätigkeit oder der Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtung ergeben könne. Erforderlich sei eine konkret erhöhte Ansteckungsgefahr, eine schlicht abstrakte Infektionsgefahr genüge nicht.
Lasse sich das Ausmaß der Durchseuchung nicht aufklären, könne aber das Vorliegen eines Krankheitserregers im Arbeitsumfeld nicht ausgeschlossen werden, sei vom Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung auszugehen. Das weitere Kriterium der mit der versicherten Tätigkeit verbundenen Übertragungsgefahr richte sich nach dem Übertragungsmodus der jeweiligen Infektionskrankheit sowie der Art, der Häufigkeit und der Dauer der vom Versicherten verrichteten gefährdenden Handlungen. Da für die Anerkennung der BK 3101 eine besonders erhöhte Infektionsgefahr vorausgesetzt werde (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 SGB VII), komme es darauf an, welche einzelnen Arbeitshandlungen im Hinblick auf den Übertragungsweg besonders gefährdend seien.
Durchseuchung und Übertragungsgefahr
Die Durchseuchung des Arbeitsumfelds auf der einen und die Übertragungsgefahr der versicherten Verrichtungen auf der anderen Seite stünden in einer Wechselbeziehung zueinander. An den Grad der Durchseuchung könnten umso niedrigere Anforderungen gestellt werden, je gefährdender die spezifischen Arbeitsbedingungen seien. Je weniger hingegen die Arbeitsvorgänge mit dem Risiko der Infektion behaftet seien, umso mehr erlange das Ausmaß der Durchseuchung an Bedeutung. Bestehe zumindest die Möglichkeit einer Infektion, sei im Wege einer Gesamtbetrachtung der Durchseuchung und der Übertragungsgefahr festzustellen, ob sich im Einzelfall eine Infektionsgefahr ergebe, die gegenüber der Gesamtbevölkerung nicht nur geringfügig, sondern besonders erhöht sei. Entscheidend sei immer die Gesamtwürdigung der das Arbeitsumfeld und die versicherte Tätigkeit betreffenden beiden Risikobereiche unter Berücksichtigung des spezifischen Übertragungsmodus und Verbreitungsgrades der jeweiligen Infektionskrankheit. Diese Erwägungen für die Feststellung der erhöhten Infektionsgefahr i.S.d. BK 3101 gelten wegen der dargestellten vergleichbaren Ausrichtung der beiden BK‘en auch für die hier relevante besonders erhöhte Gefahr einer durch den Stich einer infizierten Zecke bewirkten Infektion mit Borrelien i.S.d. BK 3102.
Dementsprechend habe das LSG hier festgestellt, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Erzieherin in einem Waldkindergarten der besonderen Gefahr einer Infektion mit Borrelien aufgrund von Zeckenstichen ausgesetzt war. Es habe seine Überzeugung ebenso wie das SG auf die eingeholten Stellungnahmen und Auskünfte zur Durchseuchung der Zecken in dem Gebiet des Kindergartens mit Borrelien sowie auf die Angaben zur Erhöhung der Ansteckungsgefahr von Mitarbeitern in einem Waldkindergarten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung gestützt. An diese Feststellungen sei der Senat gebunden (§ 163 SGG), weil sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind.
Funktioneller Krankheitsbegriff
Ob die Klägerin an einer hier als BK 3102 festzustellenden Lyme-Borreliose leide, könne der Senat mangels der erforderlichen Tatsachenfeststellungen nicht beurteilen. Würden – wie vorliegend – die Rechtsbegriffe „Durch Infektionserreger verursachte Krankheiten“ und „Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten“ durch einen fachmedizinischen Diagnosebegriff („Lyme-Borreliose“) ausgefüllt, so bedeute dies, dass diesem Diagnosebegriff der Bedeutungs- beziehungsweise Sinngehalt zukomme, den ihm der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand beimesse. Es müssten die Diagnosekriterien vorliegen, die krankheitsbeweisend seien, also nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft erfüllt sein müssten, um die Diagnose zu sichern. Das Recht knüpfe damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an, die die überwiegende Mehrheit der Fachmediziner, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Gebiet über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, wissenschaftlich fundiert vertreten.
Ob die durchgeführten Laboruntersuchungen in diesem Sinne krankheitsbeweisend seien, werde das LSG festzustellen haben. Die Borrelieninfektion als solche stelle keine von Tieren auf Menschen übertragbare „Krankheit“ i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII und der BK 3102 dar, wie der Senat bereits entschieden habe. Gesetz und Verordnungsgeber hätten den im Recht der BK‘en vorausgesetzten Krankheitsbegriff nicht näher festgelegt, sondern von einer Definition abgesehen, weil der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ständige Anforderungen dessen bewirke, was als Krankheit erkannt werden kann. In der Sozialversicherung umschreiben Rechtsprechung und Literatur Krankheiten auch im BK-Bereich als regelwidrigen Körper- und Geisteszustand. Dabei komme nicht jeder körperlichen Regelwidrigkeit – hier das Vorhandensein von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi – im Sinne einer Normabweichung (normativer Krankheitsbegriff) Krankheitswert im Rechtssinne zu. Erforderlich sei vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt werde (funktioneller Krankheitsbegriff). Davon ausgehend reiche die bloße Aufnahme schädigender Substanzen in den Körper allein im Regelfall nicht aus. Vielmehr sei es grundsätzlich notwendig, dass die Einwirkung über zunächst innerkörperliche Reaktionen oder Strukturveränderungen hinaus zu irgendeiner Funktionsstörung führe. Auch genüge ein bloßer Krankheitsverdacht für die positive Feststellung einer „Krankheit“ nicht. An diesen Anforderungen an eine als BK 3102 festzustellende Lyme-Borreliose halte der Senat trotz der geäußerten Bedenken fest.
Damit sei selbst dann, wenn die Aufnahme von Borrelia burgdorferi in den Organismus des Versicherten zu einer körperlichen Abwehrreaktion des Immunsystems geführt habe, die laborchemisch bewiesen sei, noch nicht hinreichend die Störung irgendwelcher Körperfunktionen belegt. Habe die körpereigene Immunabwehr nach der Aufnahme von Borrelia burgdorferi das Auftreten von Funktionsstörungen gerade verhindert und sei die Infektion deshalb stumm beziehungsweise asymptomisch verlaufen, so liege keine „Krankheit“ im Rechtssinne und damit kein Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung vor. Mit einem positiven Ergebnis im Antikörpersuchtest und im Bestätigungstest sei somit allenfalls eine körperliche Einwirkung, nicht jedoch eine BK belegt.
Typisierte Kausalitätsannahme
Ob die Klägerin an einer Lyme-Borreliose leide, die die genannten medizinisch-diagnostischen Kriterien erfülle, habe das LSG ausdrücklich offengelassen. Für den Fall von Funktionsstörungen werde das LSG festzustellen haben, ob die Lyme-Borreliose auf die besondere Gefährdung der Klägerin mit einer Borrelieninfektion während ihrer versicherten Tätigkeit zurückzuführen sei. Liege eine durch die versicherte Tätigkeit bedingte besonders erhöhte Infektionsgefahr vor, nehme der Verordnungsgeber typisierend an, dass bei festgestellter Krankheit die haftungsbegründende Kausalität grundsätzlich gegeben ist. Diese Typisierung gelte allerdings nicht, wenn ausgeschlossen ist, dass die Infektion während oder aufgrund der versicherten Tätigkeit eingetreten sein kann. Nach Sinn und Zweck des Tatbestands der BK 3101 wie auch der BK 3102, die von der beruflichen Gefahrenexposition auf die Verursachung einer Infektionserkrankung schließen, sei das Vorliegen einer BK zu verneinen, wenn der regelhaft angenommene Ursachenzusammenhang nicht eingetreten sein kann. Für einen Ursachenzusammenhang zwischen beruflich bedingter besonders erhöhter Infektionsgefahr und Krankheit sei etwa kein Raum, wenn die Infektion unter Berücksichtigung der Inkubationszeit der Krankheit nicht während der Dauer der beruflichen Gefahrenexposition erfolgt sein könne.
Ein regelhafter Schluss von einer berufsbedingt erhöhten Ansteckungsgefahr auf eine berufliche Ursache der festgestellten Krankheit sei ferner nur gerechtfertigt, wenn neben der Gefährdung durch die versicherte Tätigkeit keine anderen, dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisiken bestanden haben. Kämen sowohl berufliche als auch außerberufliche Verrichtungen als Infektionsquelle in Betracht, von denen aber nur eine allein die Krankheit ausgelöst haben könne, müsse entschieden werden, ob sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine der unter Versicherungsschutz stehenden Handlungen als Krankheitsursache identifizieren lasse. Dann verbleibe es somit beim Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen solcher außerberuflichen Umstände müssten im Vollbeweis nachgewiesen sein. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung trügen insoweit die objektive Beweislast. Bisher fehlten hierzu Ermittlungen und Feststellungen des LSG, insbesondere auch zu dem Hinweis der Beklagten, dass die Klägerin eine Borrelieninfektion durch Zeckenstiche möglicherweise bereits früher vor ihrer Tätigkeit in dem Waldkindergarten im privaten Bereich erlitten habe.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.