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Resolutions with Broad Impact: Occupational Medicine at the 128th German Medical Assembly
Sektorverbindende Versorgung mit der Arbeitsmedizin – Eine Chance für die Gesundheit der Menschen in der Lebenswelt „Arbeit“
Besondere Bedeutung für die Arbeitsmedizin hat der Antrag des Vorstands der Bundesärztekammer zur sektorübergreifenden Versorgung mit Einbeziehung der Arbeitsmedizin, der von der deutschen Ärzteschaft positiv beschieden wurde. Der Antrag lautet wie folgt:
„Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 fordert, dass die medizinische Versorgung in Deutschland an den individuellen Präventions- und Versorgungspfaden sektorenverbindend ausgerichtet werden muss. Die Zusammenarbeit der in den Versorgungssektoren der ambulanten und stationären Medizin sowie der Arbeitswelt, Rehabilitation und im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) tätigen Ärztinnen und Ärzte muss ausgebaut und die sektoralen Grenzen müssen überwunden werden. Das Wissen über gesundheitsrelevante Faktoren aus allen Lebensbereichen in der Arbeitswelt muss daher in Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation immer mitgedacht und berücksichtigt werden. Eine umfassende arbeitsmedizinische Versorgung ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Versorgung der Menschen über die Arbeitswelt hinaus. Vorhaben zur sektorenverbindenden Versorgung unter Einbeziehung der Arbeitsmedizin sollten gefördert werden.“
Der Antrag wurde vom Vorstand der Bundesärztekammer wie folgt begründet:
„Die Präventions- und Versorgungspfade müssen sich an den individuellen Lebensbedingungen und Lebenswelten des Einzelnen orientieren. Für berufstätige Personen ist hierbei sowohl für die Prävention als auch für die Therapie und Rehabilitation unter Berücksichtigung der Lebenswelt „Arbeit“ eine sektorenverbindende Versorgung von besonderer Bedeutung.
In Deutschland sind täglich 46 Millionen Erwerbstätige mit beruflichen Belastungen und Beanspruchungen konfrontiert, die bei der medizinischen Versorgung zu berücksichtigen sind. Der Versorgungssektor Arbeitswelt stellt damit das größte Präventionssetting in unserer Gesellschaft dar. Mit dem Präventionsgesetz (PrävG) und dessen Umsetzung seit 2015 sowie insbesondere in der COVID-19-Pandemie wurde die Bedeutung von medizinischen Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz offensichtlich. Denn die Arbeitswelt ist aufgrund der Belastungen und Beanspruchungen, die auf den Erwerbstätigen lasten, nicht nur der größte gesellschaftliche Präventionskontext, vielmehr ist durch die Gestaltung der konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort für jeden Erwerbstätigen ein wesentlicher Wirkmechanismus für gesundheitsförderliche Maßnahmen gegeben.
Beim Präventionsgesetz handelt es sich um ein Artikelgesetz, dessen Potenzial für eine sektorenverbindende Versorgung der Gesellschaft in der Ärzteschaft noch nicht in seiner ganzen Bedeutung wahrgenommen und umgesetzt wird. Eine Vermittlung entsprechender Kenntnisse hierzu, auch unter Einbeziehung der Inhalte weiterer relevanter Gesetze, Verordnungen und Vorschriften (SGB II, SGB V, SGB VII, SGB IX, SGB XI, ArbSchG, ASiG, Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, Arbeitsmedizinische Regel 3.3 [Ganzheitliche Vorsorge]), muss daher verstärkt in die Fort- und Weiterbildung eingebunden werden, um eine sektorenverbindende Versorgung der Gesellschaft sicherzustellen.
Es muss bedacht werden, dass wir in einer alternden Gesellschaft, bei gleichzeitiger Zunahme von chronischen Krankheiten wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, muskuloskelettalen Beschwerden, aber auch psychischen Erkrankungen leben. Die Möglichkeiten der Arbeitswelt müssen genutzt werden, frühzeitig entstehende und bestehende Erkrankungen zu entdecken, damit unser leistungsfähiges ambulantes und stationäres Gesundheitssystem ein Fortschreiten der Erkrankung möglichst verhindern und kompetente Therapien rasch einleiten kann. Bei einem solchen sektorenverbindenden Ansatz kann durch eine frühzeitige Intervention auch bei jüngeren Erwerbstätigen ein wesentlicher Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und zur Senkung der Krankheitslast in der Bevölkerung erzielt werden.
Auch die betriebliche Wiedereingliederung nach Arbeitsunfähigkeit ist von hoher Relevanz, da diese die gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit ermöglicht. Hierbei kommt der Arbeitsmedizin im Rahmen der sektorenverbindenden Versorgung eine wichtige Lotsenfunktion zu. Der Gesetzgeber hat zu Recht ein betriebliches Eingliederungsmanagement vorgesehen.“
Aus Sicht der Arbeitsmedizin ist dieser Beschluss ein wichtiges Bekenntnis der deutschen Ärzteschaft zur Einbeziehung der arbeitsmedizinischen Kompetenz bei der integrativ ausgerichteten Gesundheitsversorgung der berufstätigen Bevölkerung. Viel zu häufig werden bei Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation individuelle berufliche Einflussfaktoren kaum oder nicht adäquat berücksichtigt. Die alleinige Information über die Berufsbezeichnung ist nicht ausreichend, um berufliche Belastungen und die daraus abzuleitenden Beanspruchungen im Einzelfall im Kontext mit dem aktuellen Konsultationsanlass in der kurativen Medizin zu beurteilen und gegebenenfalls in die weiteren ärztlichen Maßnahmen einzubeziehen. Bereits Hippokrates (460–377 v. Chr.) hat erkannt, dass die Anamnese unter Einbeziehung der Lebensumstände einschließlich des Berufs der Patientin/des Patienten eine hohe Bedeutung für die Diagnostik und Therapie hat.
Sollte es schwierig sein, die Wechselbeziehung zwischen der Gesundheit beziehungsweise Krankheit und der beruflichen Tätigkeit direkt mit der Patientin/dem Patienten zu klären, dann ist mit Zustimmung der betroffenen Person unter Berücksichtigung der ärztlichen Schweigepflicht zu empfehlen, Kontakt mit der zuständigen Betriebsärztin beziehungsweise dem Betriebsarzt aufzunehmen. Zudem sollten im Wege der derzeit stattfindenden Anbindung aller Leistungserbringer an die Telematik-Infrastruktur und die damit verbundene Nutzung der elektronischen Patientenakte zukünftig die verbesserten Möglichkeiten zu einem Informationsaustausch insbesondere an den Versorgungsschnittstellen zwischen Prävention, Kuration und Rehabilitation genutzt werden.
Da die Zusammenarbeit zwischen kurativ und präventiv tätigen Ärztinnen/Ärzten häufig dadurch erschwert ist, dass die kurativ tätige Ärzteschaft oftmals zu wenig Kenntnisse über das Aufgaben- und Leistungsspektrum der Arbeitsmedizin haben, sollten diese Punkte noch stärker im Medizinstudium sowie bei ärztlichen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen berücksichtigt werden. Auch bei der Erstellung von medizinischen Leitlinien sollten vermehrt berufliche Einflussfaktoren auf die Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation berücksichtigt werden. Unabhängig von ethischen Gesichtspunkten kann unsere Gesellschaft es sich bei zunehmend begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem nicht mehr leisten, parallel und nicht sektorübergreifend zu agieren.
Verbesserung des UV- und Hitzeschutzes bei der Arbeit
Der Klimawandel führt zu einer Vielzahl von gesundheitsrelevanten Veränderungen in unserer Umwelt. Man denke nur an den zunehmenden Temperaturanstieg mit einer erhöhten beziehungsweise verlängerten UV-Einstrahlung. Damit einher geht eine Veränderung des Allergenspektrums sowie eine erhöhte und länger andauernde Pollenexposition und ein zeitlich verlängerter Pollenflug mit dem Auftreten neuer Allergenquellen (z. B. Ambrosia). Darüber hinaus werden sowohl neue zusätzliche Infektionserreger, etwa in der Zunahme von Vektoren (u. a. Zecken, Stechmücken), als auch das Auftauchen von tropischen und subtropischen Infektionserregern (z. B. Malaria, Dengue Fieber) erkannt. Nicht zu vergessen sind ebenfalls die erhöhten Ozonkonzentrationen, die Zunahme klimatisch bedingter psychischer Belastungen sowie die Zunahme von Extremwetter im Zusammenhang mit dem Klimawandel.
Unter dem Gesichtspunkt einer Verbesserung des UV- und Hitzeschutzes bei der Arbeit wurde auf dem Deutschen Ärztetag folgender Beschluss gefasst:
„Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 appelliert an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, auf eine deutliche Stärkung des UV- und Hitzeschutzes bei der Arbeit im Freien hinzuwirken, etwa durch konzertierte mediale Kampagnen in der Öffentlichkeit und in den Betrieben. Dabei sollte das Ministerium eng mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der Ärzteschaft und der verschiedenen Berufsgenossenschaften zusammenarbeiten.“
Begründet wurde dieser Antrag wie folgt:
„2023 war der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Aufgrund des Klimawandels sind zukünftig immer extremere und häufigere Hitzeperioden zu erwarten, die der Gesundheit der Menschen in Deutschland erheblich schaden können.
Obwohl die Gesundheitsministerkonferenz bereits im September 2020 die Umsetzung von Hitzeschutzplänen bis 2025 beschlossen hatte, liegen bislang nur in wenigen Kommunen und Landkreisen Hitzeaktionspläne vor.
Mittels verpflichtender Aktionspläne können die Menschen vor den gesundheitlichen Folgen von Hitzewellen geschützt werden. Dabei können zahlreiche Maßnahmen mit geringen Investitionen realisiert werden. Dazu gehört etwa das Ausweisen von kühlen Aufenthaltsmöglichkeiten für vulnerable Personengruppen, die Schaffung von Trinkbrunnen und die Erstellung von Alarmplänen für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Arztpraxen, Kindergärten und Schulen, die das Ergreifen entsprechender Schutzmaßnahmen bei Hitzewellen vorsehen.“
Die Arbeitgeber sind gemäß Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, im Rahmen der sogenannten Gefährdungsbeurteilung die mit der Arbeit verbundenen Gefährdungen – unter anderem auch klimatisch bedingte Gefährdungen – zu ermitteln und zu beurteilen. Hieraus sind erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes für die Beschäftigten nach dem aktuellen Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstiger gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse abzuleiten und umzusetzen.
Prinzipiell ist bei der Prävention der Folgen des Klimawandels das „STOP-Prinzip“ anzuwenden. Bei der Rangfolge der Schutzmaßnahmen sind demnach unter anderem organisatorische und technische Schutzmaßnahmen prioritär, individuelle Schutzmaßnahmen (z. B. persönliche Schutzausrüstung) sind nachrangig zu anderen Maßnahmen.
Im Rahmen der Beratung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (u. a. gemäß des Arbeitsschutzgesetzes, des Arbeitssicherheitsgesetzes, der Arbeitsstättenverordnung, der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, der Gefahrstoffverordnung, der Biostoffverordnung und des Mutterschutzgesetzes) haben Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner selbstverständlich auch bezüglich veränderter klimatischer Bedingungen zu beraten. Zudem bedürfen gegebenenfalls besonders vulnerable berufstätige Personengruppen (z. B. Schwangere, Menschen mit akuten und/oder chronischen Erkrankungen, Behinderte, ältere Beschäftigte, Outdoorarbeitende sowie Personen, die schwere körperliche Arbeit verrichten) einer besonderen Beachtung.
Bei der Fort- und Weiterbildung von Betriebsärztinnen und -ärzten hat das Thema „Klimawandel“ aktuell große Bedeutung. Die damit verbundenen Gefährdungen für die Gesundheit der Beschäftigten bedeuten eine besondere Herausforderung für den Arbeitsschutz. Es ist daher zu überprüfen, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen die mit dem Klimawandel verbunden beruflichen Belastungen und Beanspruchungen adäquat abbilden. Gegebenenfalls sind sie an die veränderten klimatischen Bedingungen anzupassen.
Versicherungsschutz für die Personengruppe der studienbegleitend Promovierenden in der Medizin
Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsmedizin haben in den vergangenen Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass Studierende, die studienbegleiten promovieren, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen, da die Promotion zu den privaten, sogenannten „eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten“, zählt und in der Regel nicht Bestandteil des unfallversicherten Studiums ist.
Es ist daher sehr zu begrüßen, dass der Deutsche Ärztetag diese Problematik aufgenommen und folgenden Beschluss gefasst hat:
„Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 fordert die medizinischen Fakultäten, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV) und das die Fach- und Rechtsaufsicht ausübende Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf, sich mit dem Arbeitsschutz und der sozialen Sicherung der im Titel genannten Personengruppe bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheit zu beschäftigen und für eine klare rechtliche Regelung zu sorgen. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass die studienbegleitend Promovierenden der Humanmedizin bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit während der Medizinpromotion nicht jahrelang ohne Leistungen bleiben, wenn es zu Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung kommt.“
Die Begründung des Beschlusses lautet wie folgt:
„Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 hält Tätigkeiten von Doktorandinnen und Doktoranden der Humanmedizin, die studienbegleitend ohne entsprechenden Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung in dieser Zeit promovieren, für nicht verantwortlich. Er teilt nicht die von Versicherungsträgern vorgebrachte Einschätzung, dass Tätigkeiten im Rahmen der Medizinpromotion dem privaten Lebensbereich oder der beruflichen Weiterbildung zuzuordnen sind, für die der gesetzliche Unfallschutz während der Aus- und Fortbildung entfalle. Es sollte parallel geprüft werden, ob weitere Promovierende, z. B. Ärztinnen und Ärzte in der Weiterbildung, in diesen Schutz mit aufgenommen werden müssen.“
Aus Sicht der Arbeitsmedizin ist eine entsprechende Regelung vollumfänglich zu unterstützen. Diese muss jedoch auch die studienbegleitenden Promovierenden der Zahnmedizin – für die der Deutsche Ärztetag keine Beschlüsse fassen kann, hierfür ist Deutsche Zahnärztetag zuständig – mit einschließen.
doi:10.17147/asu-1-371817
Weitere Infos
Die weiteren Beschlüsse des Deutschen Ärztetages können im Protokoll abgerufen werden:
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Aerztetag/…
Info
Beschlüsse 128. Deutscher Ärztetag in Mainz
Unter anderem:
Autorin und Autoren
Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Stephan Letzel (Mainz), Dr. med. Annegret Schoeller (Berlin) und Dr. phil. Thomas Nesseler (München)