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Prävention

Interaktionsarbeit – Berücksichtigung spezifischer Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung

Interactive Work – Consideration of Specific Psychosocial Factors in Workplace Risk Assessments

Arbeitswelt im Wandel

Die Relevanz des Themas „Psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Nicht zuletzt ist die steigende Bedeutung psychischer Belastungen auf den Wandel einer komplexen und dynamischen Arbeitswelt zurückzuführen (Carstensen 2015). Steigender Zeit- und Leistungsdruck, immer höhere Geschwindigkeit und geforderte Flexibilität haben neue Belastungen für Beschäftigte zur Folge (Ahlers 2015). So ist die heutige Arbeitswelt geprägt von ständiger Erreichbarkeit, anonymen Beziehungen und befindet sich in einem ständigen Wandel, der kontinuierliche Anpassungsprozesse erforderlich macht.

Als eine treibende Kraft des Wandels und den daraus folgenden veränderten Anforderungen kann dabei die Tertiarisierung verstanden werden. Waren im Jahr 1982 22 % aller Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich beschäftigt, waren es 2014 bereits 73 % (Jacobsen 2018). Dabei haben sich mit der Entwicklung hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft nicht nur die Rahmenbedingungen, sondern auch die Belastungssituationen vieler Beschäftigter verändert (Beermann et al. 2020). So gewinnen neben informationsverarbeitenden vor allem interaktionsbezogene Tätigkeiten an Bedeutung (Junghanns u. Morschhäuser 2013). Im Rahmen dieser Entwicklung ergeben sich neue Belastungen für Beschäftigte. In diesem Kontext ist beispielsweise auf steigende emotionale Anforderungen oder auf den Umgang mit schwierigen Kundinnen/Kunden, Patientinnen/Patienten oder Klien­tinnen/Klienten zu verweisen (Irastorza et al. 2016). Welche Relevanz Interaktionsarbeit – verstanden als die Arbeit an und mit Menschen – dabei zukommt, zeigt der Index-Report 2018 des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). So arbeiten laut dem DGB-Index „Gute Arbeit“ (2018) rund zwei Drittel aller Beschäftigten in Deutschland sehr häufig oder oft in direktem Kontakt mit Kundinnen/Kunden, Patientinnen/Patienten, Lernenden und anderen betriebsexternen Personengruppen. Bislang wurde Interak­tionsarbeit dabei vorrangig dem Dienstleistungssektor zugeordnet. Betrachtet man dagegen die branchenspezifische Auswertung des DGB-Index-Reports, so zeigt sich, dass Interaktionsarbeit auch außerhalb des Dienstleistungssektors in einer Vielzahl von Berufen an Bedeutung gewinnt (Tisch et al. 2020).

Neben dem strukturellen Wandel einzelner Sektoren ist in den letzten Jahren ebenfalls zu beobachten, dass das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen einem Veränderungsprozess unterliegt (Metz u. Rothe 2017). Empirisch fundierte Berichte wie zum Beispiel der von der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) publizierte Bericht „Sind wir heute anders krank?“ belegen die Zunahme psychischer Erkrankungen (Marschall 2013). So stellen psychische Erkrankungen laut dem aktuellen DAK-Gesundheitsreport (2018) die auffälligste Entwicklung der letzten 15 Jahre im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen dar.

Vor diesem Hintergrund haben Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Gesellschaft eine Novellierung des Arbeitsschutzgesetztes verabschiedet. Seit 2013 fordert das Arbeitsschutzgesetz alle Arbeitgebenden explizit auf, die „psychische Belastung von Beschäftigen bei der Arbeit“ zu erheben und zu dokumentieren (Hahnzog 2015). Im Gesetzestext des Arbeitsschutzgesetzes § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 3, § 6 Abs. 1) werden psychische Belastungen ausdrücklich benannt (Kollmer et al. 2016).

Dabei zeigt sich im Spannungsfeld zwischen den gesetzlichen Anforderungen und der betrieblichen Praxis, dass rund 79 % der Betriebe psychische Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung nicht berücksichtigen (Beck u. Lenhardt 2019). Studien wie die der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bestätigen, dass sich deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich hinsichtlich der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen nur im hinteren Mittelfeld befinden (Hofmann 2014).

Ziel des Beitrags ist es, auf Basis einer qualitativen Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) interaktionsspezifische Belastungen zu identifizieren, zu systematisieren und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu reflektieren. Dafür wurden 106 Personen in sechs Beschäftigtengruppen und 33 Organisationen aus ganz Deutschland interviewt (➥ Tabelle 1). Der Erhebungszeitraum der Befragung erstreckte sich von 2020 bis 2022. So wurde ein tiefergreifendes Verständnis von interaktionsspezifischen Gefährdungen gewonnen. Aus Basis der persönlichen Erfahrungen der Intervieweten konnten Rückschlüsse auf gestaltungsrelevante Faktoren für Interaktionsarbeit gezogen werden. Zudem soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags der Frage­stellung nachgegangen werden, wie in der betrieblichen Praxis bereits interaktionsspezifische Belastungen im Rahmen der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden.

Warum werden interaktionsspez­fische Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nur ­unzureichend berücksichtigt?

Aufgrund der steigenden Anzahl psychischer Erkrankungen kommt der Beurteilung psychischer Belastungen eine besondere Bedeutung zu (Sträter et al. 2022). So ist es vor dem Hintergrund der Reduktion gesundheitlicher Beeinträchtigungen sowie der Vermeidung abnehmender Leistungsfähigkeit von Beschäftigten erforderlich, dass psychische Belastungen am Arbeitsplatz frühzeitig erkannt und im Sinne der prospektiven Arbeitsgestaltung schon in ihrer Entstehung verhindert werden (Brandstädter et al. 2019; Sträter 2021). In Anbetracht der zunehmenden Verlagerung des Beschäftigungsschwerpunkts hin zum Dienstleistungsbereich werden die Anforderungen aus der Arbeit an und mit Menschen bedeutsamer (Hacker et al. 2020; Wehrmann 2022).

Im Widerspruch dazu zeigt sich, dass trotz der steigenden Relevanz von Interaktionsarbeit die Belastungen in der Arbeit an und mit Menschen bei der Analyse, Bewertung und Gestaltung von Arbeitsbedingungen weitgehend unberücksichtigt bleiben (Thorein et al. 2020). Eine Ursache für die Vernachlässigung interaktionsspezifischer Belastungen ist unter anderem das Fehlen von Erhebungsinstrumenten zur Erfassung interaktionsspezifischer Belastungsfaktoren (Schmidt et al. 2012).

So zeigt die von Richter (2010) durchgeführte Analyse bestehender Instrumente zur psychischen Gefährdungsbeurteilung, dass die Anforderungen in der Arbeit an und mit Menschen bislang bei einer Vielzahl von Arbeitsanalyseverfahren kaum berücksichtigt werden. Nach Richter (2010) handelt es sich bei der Mehrheit der Instrumente vorwiegend um universell einsetzbare Verfahren, die die Tätigkeitsspezifika von Interaktionsarbeit nur unzureichend beleuchten. Entsprechend deuten die Validierungsstudien darauf hin, dass die etablierten Verfahren vorwiegend für körperliche oder geistige Tätigkeiten entwickelt und erprobt wurden. Verfahren zur Analyse interaktiver Tätigkeiten sind nur selten vorzufinden.

Der Fokus in der bisherigen arbeitswissenschaftlichen Forschung zu interaktionsspezifischen Belastungen lag auf der Erforschung emotionaler Arbeitsanforderungen (Dormann u. Zapf 2004). Weniger Beachtung fand dagegen, dass weitere Belastungen aus der Arbeit an und mit Menschen resultieren wie beispielsweise verbale Aggressionen (Dormann et al. 2017), überzogene Kundenerwartungen (Dormann u. Zapf 2004) oder Streitigkeiten mit Kundinnen und Kunden (Grandey et al. 2004).

Letzteres spiegelt sich insbesondere in der im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) veröffentlichten „Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz“ wider (GDA 2018). Die von der GDA veröffentlichte Checkliste „Merkmalsbereiche und Inhalte der Gefährdungsbeurteilung“ stellt der BAuA (2014, S. 30) zufolge die „fachlich fundierte Verständigung auf [wichtige] Inhalte der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ dar und benennt vier zentrale Merkmalsbereiche: Arbeitsinhalt, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen und Arbeitsumgebung (GDA 2018). Im Rahmen der GDA-Leitlinien wird deutlich, dass der gegenwärtige Stand der arbeitswissenschaftlichen Forschung vor allem den Belastungsfaktor Emotionsarbeit abdeckt, darüber hinausgehende interaktionsspezifische Belastungsfaktoren jedoch nur bedingt eine Berücksichtigung fanden. Der Gefährdungsfaktor „soziale Beziehungen“ wird zwar benannt, bezieht sich allerdings nur auf die interne Interaktion zwischen Belegschaft und Führungskräften und lässt damit Belastungsfaktoren in der Interaktion mit betriebs­externen Personengruppen (z. B. Kundinnen/Kunden, Klientinnen/Klienten, Patientinnen/Patienten etc.) außer Acht (Thorein 2020). Vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung von Interaktionsarbeit stellt sich die Frage, inwieweit die von der GDA (2018) genannten Gefährdungsfaktoren die Belastungsfaktoren ausreichend detailliert benennen, die typischerweise mit der Interaktionsarbeit einhergehen (Thorein 2017).1

Aus der bislang geringen Berücksichtigung der Anforderungen in der Arbeit an und mit Menschen resultiert die Notwendigkeit, künftig tätigkeitsspezifische Anforderungen von Interaktionsarbeit stärker in den Prozess der Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen (Thorein 2017). So bedarf es in Zukunft sowohl der Erweiterung bestehender Instrumente und Checklisten als auch der Konstruktion neuer auf den Kontext der Interaktionsarbeit bezogener Arbeitsanalyseverfahren, um die besonderen Anforderungen von Interaktionsarbeit stärker in den Fokus der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung zu rücken (Thorein 2020).

Wie geht die betriebliche Praxis mit der Gefährdungsbeurteilung von interaktionsspezifischen Be­lastungen um?

Die Ergebnisse der qualitativen Studie zeigen ein deutliches Auseinanderklaffen der gesetzlichen Vorgaben einerseits und deren Umsetzung in der betrieblichen Praxis andererseits. So verdeutlichen die Befunde, dass nur ein geringer Anteil der befragten Organisationen psychische Belastung im Rahmen der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen. Sofern Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durchführten, spielten interak­tionsspezifische Belastungen kaum eine Rolle. Von 33 befragten Organisationen hatten nur vier Organisationen eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen durchführt, von denen wiederum nur zwei Organisationen interaktionsspezifische Gefährdungen erfassten. Einer der wesentlichen Gründe lag in der Unwissenheit der Verantwortlichen darüber, was psychische Belastungen sind, welche Folgen diese haben können und welche Verfahren für den eigenen Unternehmenskontext angewendet werden können.

„Fünf Prozent unserer Betriebsräte können damit vielleicht was anfangen. Das ist eine Riesenkatastrophe und das ist auch, auch in Pandemiezeiten, da haben wir gesagt ‚der Schlüssel dafür, dass ihr bei der Arbeit nicht alle krank werdet, ist die Gefährdungsbeurteilung‘. Ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll. Das ist eine Schweinerei. Da fangen wir an mit Jugendarbeitsschutzgesetz, da fangen wir an mit vernünftiger Bezahlung, da fangen wir an mit dem Arbeitszeitgesetz. Daran wird sich ja schon nicht gehalten. Dann ist der Schritt bis zur Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung ja noch sehr, sehr weit. Und diese Branche hat ein Selbstverständnis entwickelt, das abseits der Spielregeln schwebt. Und das, ja, ist ein Kampf, den wir täglich führen“ (Arbeitnehmervertreter in der Gastronomie).

Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen und arbeitspolitischen Aufmerksamkeit, die dem Thema psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren entgegengebracht wurde, zeigt sich, dass diese stellenweise nach wie vor stigmatisiert werden. So berichtete ein Arbeitnehmervertreter im Bereich der Gastronomie: „Ich kann mich erinnern, dass selbst ein Geschäftsführer eines Arbeitgeberverbandes, als die psychische Gefährdungsbeurteilung ins Spiel kam, wie er lautstark wirklich gesagt hat: ‚Herr XY, jetzt müssen wir auch noch Psychiater für die Beschäftigten spielen. Was kann ICH denn dafür, wenn er zu Hause Probleme hat‘“. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass in der betrieblichen Praxis nach wie vor ein Gefährdungsverständnis vorherrscht, das sich primär an physischen Gefährdungsfaktoren (z. B. Hitze, ergonomischen Aspekten, Hygiene­maßnahmen) orientiert. Insbesondere in Bereichen wie Baumärkten, Fastfood-Restaurants oder Möbelhäusern wurde physischen Faktoren in der Gefährdungsbeurteilung eine große Relevanz beigemessen. Dabei zeigte sich, dass, wenn eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde, diese sich oftmals nur auf die Analyse beschränkte und keine weitergehenden Maßnahmen abgeleitet wurden.

„Eine Gefährdungsbeurteilung ist aber nichts wert, wenn daraus keine Maßnahmen erfolgen, die auch umgesetzt werden. Und also das ist ja Sinn und Zweck des Ganzen. Ansonsten bleibe ich bei der Analyse stehen […]. Also häufig werden sie nicht gemacht, aber wenn sie gemacht werden, dann wird es durchgeführt, dann wird da drüber gesprochen und irgendwann verschwindet es in der Schublade. Es mangelt am Ende also häufig tatsächlich daran, dass sinnvolle Maßnahmen abgeleitet werden“ (Experte in der Pflege).

Dabei führten die Verantwortlichen die geringe flächendeckende Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung darauf zurück, dass Verantwortlichen bei der Nichtdurchführung keine rechtlichen Konsequenzen drohten: „Also wir haben ja gesetzliche Regelungen bei der Gefährdungs­beurteilung, die aber keiner durchführt, … aber wo kein Kläger, da kein Richter“ (Experte in der Pflege).

Welche interaktionsspezifischen ­Belastungen sollten im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden?

Ziel der vorliegenden Studie war es, zen­trale interaktionsspezifische Gefährdungen zu identifizieren. Dabei entstand vor dem Hintergrund der Identifizierung von branchen- und berufsübergreifenden Faktoren für die Gefährdungsbeurteilung von Interaktionsarbeit ein hierarchisches Kategoriensystem. Die hierarchische Struktur resultierte aus der Betrachtung von Gefährdungsfaktoren auf der Interaktionsebene (d. h. aus der direkten Interaktion von Dienstleistenden mit Kundinnen/Kunden, Patientinnen/Patienten und Klientinnen/Klienten) sowie gestaltungsrelevanten Faktoren auf der
arbeitsorganisatorischen Ebene (➥ Abb. 1; s. auch Wehrmann 2023).

Abb. 1:  Gefährdungsfaktoren auf der Interaktionsebene und der arbeitsorganisatorischen Ebene (eigene Darstellung)

Abb. 1: Gefährdungsfaktoren auf der Interaktionsebene und der arbeitsorganisatorischen Ebene (eigene Darstellung)

Gefährdungsfaktoren auf der Interaktionsebene

Negative personenbezogene Kundenverhaltensweisen umfassten sowohl unhöfliche (z. B. respektlose, unfreundliche und unverschämte) als auch aggressive Verhaltensweisen. Beispiele für unhöfliches Verhalten waren etwa, dass Kundinnen und Kunden die Dienstleistenden duzten, nicht begrüßten oder sich nicht für den erbrachten Service bedankten. So berichtet eine Kassiererin eines Baumarkts: „Genau. Hallo. Bitte. Danke. Tschüss. Das ist eine Seltenheit geworden. Also da kommst du dir halt auch vor wie ein Mensch zweiter Klasse“. Weitergehend berichteten die Beschäftigten, dass sie sich von der Kundschaft ungerecht und unfair behandelt fühlten, etwa, wenn Kundinnen/Kunden „betrügen oder eine Show abziehen oder […] unaufrichtig sind“ (Beschäftigte im Einzelhandel). Konkret drückte sich beispielsweise ein unfaires Verhalten im Einzelhandel darin aus, dass Kundinnen und Kunden versuchten, reklamierte Ware zu manipulieren, um den Kaufpreis zurückerstattet zu bekommen. Aggressive Kundenverhaltensweisen ließen sich hinsichtlich verbaler, sexueller und physischer Aggressionen differenzieren. Verbale Aggressionen umfassten das Beleidigen, Beschimpfen und Anschreien der Dienstleistenden sowie das Androhen von körperlicher Gewalt. Sexuelle Aggressio­nen manifestierten sich in unangebrachten Bemerkungen, sexualisierten Witzen, frauen­feindlichen Aussagen oder unerwünschten Berührungen. Physische Aggressionen äußerten sich in Schlagen und Bespucken von Beschäftigten, im Bewerfen mit Gegenständen oder sogar in Mordversuchen. Diese gewaltvollen Auseinandersetzungen hatten teilweise schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die Beschäftigten. So berichtet ein Polizist: „Und dann greift er urplötzlich zu einer Stereoanlage, versucht, den Kollegen damit zu schlagen. Aus dem Nichts. Der Kollege fällt aufs Bett, er springt auf ihn rauf, fängt ihn an zu würgen, so lange, bis der tatsächlich auch schon Bewusstseinseintrübung hat“.

Negative arbeitsbezogene Kundenverhaltensweisen: Im Vergleich zu personenbezogenen Verhaltensweisen richteten sich arbeitsbezogene Verhaltensweisen nicht gegen die Person, sondern gegen den Arbeitsgegenstand. Einer der wohl am häufigsten genannten Belastungsfaktoren stellten dabei überzogene Kundenerwartungen dar:

„Aber das andere sind halt auch die Erwartungen, die sie an sich selbst haben ans eigene Berufsbild, die Erwartungen aber auch der Angehörigen, die an sie rangetragen werden. Die Angehörigen der Pflegebedürftigen, die ja irgendwie auch erwarten, dass die Schwester kommt, wenn sie gerufen wird. Und sofort da stehen muss. Und wenn das halt nicht mal innerhalb von fünf Minuten funktioniert, dann wird teilweise auch beleidigend auf die Pflegekräfte eingegangen“ (Experte in der Pflege).

Weitergehend nannten die Beschäftigten als Belastungsfaktor in der Zusammenarbeit mit ihren Kundinnen und Kunden illegitimen Beschwerden oder Rachehandlungen (z. B. schlechte Bewertungen im Internet). Darüber hinaus berichteten die Beschäftigten immer wieder von einer mangelnden Kooperation der Kundinnen und Kunden.

Traumatische Erfahrungen ergaben sich insbesondere aus der Konfrontation mit Tod, schweren Krankheiten sowie dem Schicksal von Kundinnen/Kunden, Patientinnen/Patienten und Klientinnen/Klienten. Zudem bezogen sich traumatische Ereignisse auf den Umgang mit schweren Unfallereignissen oder Rettungseinsätzen. Dabei waren insbesondere Beschäftigte im Polizeidienst damit konfrontiert, bei schweren Unfällen den Familienangehörigen Nachrichten über den Tod ihrer Angehörigen überbringen zu müssen.

„Und dann fährt man zu den Menschen nach Hause, trifft im besten Fall, Sarkasmus jetzt, im besten Fall Mutter mit drei Kindern am Mittagstisch und muss den Leuten sagen, dass Papa nicht mehr nach Hause kommt! Da ist man persönlich schon sehr mitfühlend und das reißt mich dann auch mit“ (Beschäftigter im Polizeidienst).

Gefährdungen aus der Emotionsarbeit bezogen sich auf die erlebte Inkongruenz von geforderten und tatsächlich erlebten Emotionen. So gaben die Befragten vielfach an, dass es zu ihrer Arbeitsaufgabe gehöre, die eigenen erlebten (negativen) Emotionen zurückzuhalten, um dem von der Organisation geforderten (positiven) Gefühlsausdruck zu entsprechen. So berichtet eine Kassiererin eines Baumarkts:

„Wenn ich richtig miserabel angemotzt werde, wenn der Kunde kommt, dann fällt es mir natürlich schon schwer, zu dem Kunden freundlich zu bleiben. Ich meine, ich tue es trotzdem und schiebe alles andere in den Hintergrund, aber zähneknirschend. Also da merke ich schon, wie so Engelchen und Teufelchen sich miteinander streiten und sagen: ‚Fahre dem doch jetzt einmal richtig schön über den MUND‘“.

Die Unplanbarkeit von Interaktionsarbeit ergab sich vor allem daraus, dass die befragen Beschäftigten weder wussten, wer die Dienstleistung im nächsten Moment in Anspruch nehmen würde noch vorhersehen konnten, wie sich die Kundinnen und Kunden im nächsten Moment verhalten würden. Dies machte es für die Beschäftigten schwer, eine entsprechende Reaktion vorab planen zu können. Zugleich berichteten die Befragten immer wieder, dass ihr Arbeitsalltag grundsätzlich nicht planbar sei:

„Also du kannst jetzt nicht morgens sagen: ‚Ich mache das und das und das und DAS. Und dann bin ich fertig.‘ Das funktioniert nicht. Sondern da kommen eben halt noch dreißigtausend andere Sachen zwischendurch rein, die dich dann von deiner eigentlichen Arbeit wieder wegholen“ (Beschäftigter im Baumarkt).

Eine hohe Interaktionsintensität bezog sich sowohl auf eine hohe qualitative als auch quantitative Interaktionsanforderung. Während die qualitative Interaktionsanforderung sich auf die Komplexität, Schwere und Qualität der zu leistenden Arbeit mit Kundinnen und Kunden bezog, beschrieb die quantitative Interaktionsanforderung die Menge, Geschwindigkeit und Zeit, in der die Interaktionsarbeit zu verrichten ist (s. auch Wehrmann 2023). Dabei berichteten insbesondere die Beschäftigten einer Fastfood-Kette von hohen quantitativen Interaktionsanforderungen. Zugleich erlebten Beschäftigte in der Unternehmensberatung die hohen qualitativen Interaktionsanforderungen in der Zusammenarbeit mit ihrer Kundschaft als belastend:

„Ich hatte auch schon Workshops. Das waren so Azubi-Workshops, wo sechs hoch unmotivierte Leute vor mir gesessen haben. Und ich durfte die jetzt bespaßen, ja? Und die hatten überhaupt keine Lust, ja? Und da hatte ich vier Stunden Workshop und ich habe mich gefühlt, als hätte ich einen Zwölf-Stunden-Workshop gemacht. Also, ja, und das merkt man dann im Nachhinein“ (Beschäftigter in der Unternehmensberatung).

Gefährdungsfaktoren auf der arbeits­organisatorischen Ebene

Die Ergebnisse verweisen auf die wichtige Rolle der arbeitsorganisatorischen Rahmenbedingungen von Interaktionsarbeit. Diese können für die zu leistende Interaktions­arbeit sowohl förderlich als auch hinderlich sein (Böhle u. Weihrich 2020; Doerflinger 2022). Auf Basis der qualitativen Studie ließen sich vier übergeordnete Themenfelder ableiten, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung von Interaktionsarbeit zu berücksichtigen sind.

1. Gestaltungsfaktoren aus der ­Arbeitsaufgabe

Aus der Arbeitsaufgabe ließen sich vier Gestaltungsfaktoren identifizieren, die sich vor allem durch ihre positive Wirkung auf die zu leistende Interaktionsarbeit auszeichneten. Ausreichender Interaktionsspielraum beschrieb dabei, inwieweit die Dienstleistenden selbst entscheiden konnten, auf welche Art und Weise sie die zu leistende Interaktionsarbeit erbrachten (z. B. Wahl der Dauer, der Häufigkeit, des Inhalts der Interaktion). Zudem gaben die Beschäftigten im Rahmen der Interviews immer wieder an, dass sie mit verschiedenen widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert waren. So zeigten sich widersprüchliche Anforderungen unter anderem darin, dass Dienstleistende oftmals mit unvorhergesehenen Unterbrechungen umgehen mussten, weil sie einerseits vorgegebene Arbeitsaufgaben (z. B. Einräumen von Ware) zu erledigen hatten und andererseits Beratungsgespräche führen mussten. Weiter berichteten viele Befragte, dass Fähigkeiten und Kenntnisse zur Bewältigung der Interaktionsaufgabe vorausgesetzt, diese jedoch nicht bei Qualifizierungsmaßnahmen berücksichtigt wurden. Nicht zuletzt betonten viele Beschäftigte, dass sie die ständige Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden als anstrengend empfanden. In der Arbeitsplanung ist daher auf eine ausgewogene Verteilung von interaktiven und monologischen Tätigkeiten zu achten.

2. Gestaltungsfaktoren aus der Arbeits­organisation

Gestaltungsfaktoren aus der Arbeitsorganisation bezogen sich unter anderem auf eine ausreichende Zeit- und Personalbemessung. So gaben die Beschäftigten immer wieder an, dass sie aufgrund einer zu geringen personellen Ausstattung den Kundenbedürfnissen nicht immer gerecht werden konnten. Dabei betonten die Dienstleistenden, dass die besonderen Anforderungen der zu leistenden Interaktionsarbeit nur unzureichend bei der finanziellen Vergütung berücksichtigt werden würden. Zudem stellten insbesondere Beschäftigte, die einen hohen und intensiven Kundenkontakt hatten, die entlastende Rolle von interaktionsfreien Pausen heraus. Eine zentrale Erkenntnis, die sich im Rahmen der Interviews zeigte, war, dass schwierige Kundinnen und Kunden häufig erst infolge ungünstiger betrieblicher Rahmenbedingungen „geschaffen“ wurden. So führten lange Wartezeiten, hohe Preise oder nicht verfügbare Produkte dazu, dass Kundinnen und Kunden ihre Frustration gegenüber den Beschäftigten zum Ausdruck brachten. Zugleich war zu beobachten, dass eine kundenorientierte Gestaltung betrieblicher Prozesse (z. B. durch ein kulantes Reklamations- und Beschwerdemanagement) negative Interaktionen reduzieren konnte.

3. Gestaltungsfaktoren aus der Arbeits­umgebung und den Arbeitsmitteln

Die Ergebnisse zeigen, dass Umgebungsfaktoren wie klimatische Bedingungen (Hitze, Wärme, Zugluft etc.) oder laute Musik einen Einfluss auf das Kundenverhalten hatte.
Außerdem war bei der Gestaltung von Arbeitsmitteln darauf zu achten, dass die Kundschaft Interaktionsarbeit erleichtert und nicht erschwert. So gaben Befragte an, dass Hygienemasken zwar zum Schutz der Beschäftigten führten, die Kommunikation mit
Kundinnen und Kunden jedoch erschwerten.

4. Gestaltungsfaktoren aus der Führung, dem Kollegium und der Kultur

Die Ergebnisse verweisen vor allem auf die wichtige Rolle der sozialen Unterstützung aus dem Kollegenkreis und von Führungskräften. Insbesondere im Umgang mit traumatischen Erfahrungen kam der sozialen Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen eine besondere Stellung zu. Dabei konnten einerseits formelle Unterstützungsangebote (z. B. kollegiale Fallberatungen) den Beschäftigten helfen, mit berührenden Ereignissen besser umzugehen, andererseits waren informelle Möglichkeiten des kollegialen Austauschs wichtig, um sich zeitnah über negative Erlebnisse mit Kundinnen und Kunden austauschen zu können. Führungskräften kam insbesondere eine schützende Rolle bei konfliktreichen Auseinandersetzungen mit Kundinnen und Kunden zu. Es wurde zudem die wichtige Rolle einer gerechten
Organisationskultur hervorgehoben. Als ungerecht wurde es erlebt, wenn die Befragten versuchten, die vorgegebenen (Reklamations-)Vorschriften durchzusetzen und ihnen die Führungskräfte in den Rücken
fielen:

„Dafür habe ich jetzt mit dem Kunden eine halbe Stunde lang diskutiert? Und habe so eine Krawatte, muss mir dreißigmal auf die Zunge beißen und so viel runterschlucken. So langsam kriege ich schon Magenschmerzen. Und dann kommt die Marktleitung und haut dir einen auf den Dez und sagt: ‚Ja, dann mach das doch so, wie der Kunde es gerne hätte‘“ (Beschäftigte eines Baumarkts).

Was zeigen die Ergebnisse für die konkrete Ableitung von Maß­nahmen zur menschengerechten Gestaltung von Interaktionsarbeit?

Die Ergebnisse betonen vor allem die wichtige Bedeutung der verhältnispräventiven Gestaltung von Interaktionsarbeit. So zeigt sich, dass in der Vergangenheit Organisationen oftmals versuchten, die negativen Auswirkungen von Gefährdungen aus der Interaktionsarbeit durch Trainings (z. B. „Wie gehe ich mit schwierigen Kundinnen und Kunden richtig um?“) zu verringern (Sliter u. Jones 2016). Unzureichende Berücksichtigung fand dabei, wie durch verhältnispräventive Maßnahmen Rahmenbedingungen so gestaltet werden können, dass negatives Kundenverhalten gar nicht erst auftritt (Wehrmann 2023). Grund für die geringe Umsetzung verhältnispräventiver Maßnahmen ist die Haltung, dass das Kundenverhalten außerhalb der arbeitsgestalterischen Reichweite liege und nicht gestaltbar sei
(Sliter u. Jones 2016). Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrags verdeutlichen indes, dass durch Maßnahmen wie die Implementierung eines guten Beschwerdemanagements oder die Verbesserung der Warenverfügbarkeit die Auftretenswahrscheinlichkeit von negativem Kundenverhalten verringert werden kann
(s. auch Wehrmann 2023). Neben diesen Maßnahmen sind zudem in Bereichen, in denen mit konfliktreichen Auseinandersetzungen zu rechnen ist, Sicherheitsmaßnahmen wie Notfallknöpfe, Wachschutz, Einlasskontrollen sowie Verfahrensanweisungen,
die aufzeigen, wie mit schwierigen Kundinnen und Kunden umzugehen ist, zu implementieren.

Anmerkung: Der vorliegende Artikel ist eine Zusammenfassung der noch nicht veröffentlichten Dissertation des Autors. Die Promotionsordnung der Uni Kassel erlaubt es, dass Teile der Dissertation vorveröffentlicht
werden.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

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Tisch A, Beermann B, Wünnemann L, Windel A: Interaktionsarbeit: Herausforderung für die arbeitswissenschaftliche Forschung. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2020; 74: 44–51.

Wehrmann J: Psychische Belastung in der Interaktionsarbeit. In: Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Transfer von Sicherheit und Gesundheit. Workshop 2022. Kröning: Asanger, 2022, S. 127–128.

Wehrmann J: Interaktionsbezogene Stressoren und Ressourcen – Entwicklung einer Taxonomie zur menschengerechten Gestaltung von Interaktionsarbeit. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2023 (im Druck).

doi:10.17147/asu-1-257885

Weitere Infos

Interaktionsarbeit gestalten
https://www.interaktionsarbeit.de/DE/Home/home_node.html

ver.di: Arbeiten mit Menschen im Dienstleistungssektor – Interaktionsarbeit humanisieren
https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/themen/interaktionsarbeit

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Gefährdungsbeurteilung
https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitsgestaltung-im-Betrieb/Gefaehrdungs…

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Handbuch Gefährdungsbeurteilung
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fachbuecher/Gefaehrdungsb…

Kernaussagen

  • Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kann als zentrales Instrument verstanden werden, um Interaktionsarbeit menschengerecht und gesundheitsförderlich zu gestalten.
  • Hierbei sind interaktionsspezifische Gefährdungsfaktoren wie negative Kundenverhaltensweisen, traumatische Erfahrungen (z. B. Umgang mit Sterben und Unfallereignissen), emotionale Anforderungen oder der Umgang mit Unwägbarkeiten zu berücksichtigen.
  • Die Gestaltung von förderlichen Rahmenbedingungen (z. B. ausreichender Interaktionsspielraum und interaktionsdienliche Arbeitsmittel) für Interaktionsarbeit hat dabei nicht nur einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten, sondern auch auf die Dienstleistungsqualität und den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen.
  • Kontakt

    Jonas Wehrmann
    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
    Friedrich-Henkel-Weg 1–25
    44149 Dortmund

    Fotoagentur FOX/Uwe Voelkner

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