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Recht

Feststellungslast bei Krebs­erkrankungen ohne Einwirkungsdosis

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Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.09.2023 – B 2 U 8/21 R

Burden of Proof for Cancers Without Exposure Dose. Judgment of the Federal Social Court of 27.09.2023 – B 2 U 8/21 R

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten über die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Der 1956 geborene Kläger war von September 1998 bis Juni 2013 als Schweißer in der Herstellung von Großkücheneinrichtungen beschäftigt. Zur Rissprüfung von Schweißnähten verwendete er azofarbstoffhaltige Sprays, die den Wirkstoff o-Toluidin enthielten. Er rauchte ab dem 22. Lebensjahr und gab dies 1999/2000 auf. Im September 2014 wurde bei ihm ein Urothelkarzinom (Harnblasenkrebs) diagnostiziert.

Die Beklagte lehnte die Feststellung der BK 1301 ab. Das stattgebende Urteil des Sozialgerichts hat das Landessozialgericht (LSG) nach Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgehoben und die Klage abgewiesen. Eine ausreichende Exposition gegenüber o-Toluidin sei nicht anzunehmen, da eine Exposition in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 μg o-Toluidin/m³ vorliege und eine schicksalhafte Verursachung nicht ausgeschlossen sei. Der Kläger sei zum Erkrankungszeitpunkt bereits in einem Alter gewesen, das ein erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko aufweise. Damit sprächen ebenso gute Gründe für eine andere Verursachung wie für die berufliche Einwirkung.

Mit der Revision macht der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts geltend. Das LSG habe entgegen dem Verordnungswortlaut der BK 1301 einen Grenzwert von 500 μg/m³ zur Voraussetzung für die Annahme einer ausreichenden beruflichen Exposition gemacht. Das BSG erkannte die Revision des Klägers als begründet und bestätigte den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Urothelkarzinoms als BK 1301. Die Voraussetzungen für die Anerkennung des Urothelkarzinoms als BK 1301 seien bei dem Kläger nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt. Danach sei der Kläger von 1998 bis Ende Juni 2013 während seiner versicherten Beschäftigung als Schweißer bei der Rissprüfung von Schweißnähten (im sog. Rot-Weiß-Verfahren) aufgrund der Verwendung azofarbstoffhaltiger Rissprüfmittel o-Toluidin inhalativ und dermal ausgesetzt gewesen.

Schutzbereich der Berufskrank­heiten ohne Einwirkungsdosis

Für die Anerkennung der BK 1301 müsse das Urothelkarzinom durch aromatische Amine verursacht worden sein. Insoweit gelte – wie auch sonst in der Gesetzlichen Unfallversicherung – die Theorie der wesentlichen Bedingung, die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruhe. Stehe hiernach die versicherte Tätigkeit als eine der Ursachen der Erkrankung fest, müsse sich auf der zweiten Stufe der Prüfung die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen als die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr darstellen. Die Wesentlichkeit der Ursache sei zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung rechtlich zu beurteilen.

Bei BK‘en ohne Einwirkungsdosis könne ein Ursachenzusammenhang aber regelmäßig nicht wegen des Unterschreitens einer normativen Mindestexpositionsdosis verneint werden, wenn eine solche nicht tatsächlich nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmt werden könne. Vielmehr sei mit dem Vorhandensein der in der BK genannten Listenstoffe am Arbeitsplatz vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen, wenn andere in Betracht kommende Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen seien.

Der Annahme eines Ursachenzusammenhangs im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie stehe dann allerdings entgegen, wenn im Rahmen der Prüfung der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen feststehe, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist. Andernfalls sei die BK anzuerkennen, wenn die Einwirkung auch rechtlich wesentlich gewesen sei.

Tatsachenvermutung aus ­Einwirkungsgröße

Der Ursachenzusammenhang scheitere bei der BK 1301 nicht an den arbeitstechni­schen Voraussetzungen wegen Unterschreitens einer Mindestexpositionsdosis. Der Ursachenzusammenhang im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie könne bei BK‘en ohne tatbestandliche Einwirkungsgrößen regelmäßig nicht wegen des Unterschreitens einer normativen Mindestexpositionsdosis verneint werden. Anders als bei BK‘en mit tatbestandlichen Einwirkungsgrößen sei bei BK‘en ohne solche Einwirkungsgrößen ein Rückschluss vom Unterschreiten der Einwirkungsdosis auf das Fehlen des Ursachenzusammenhangs nicht möglich, wenn eine solche nicht tatsächlich durch den wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmt werden könne.

Der Verordnungsgeber habe im Rahmen der Anlage 1 zur BKV BK‘en mit verschiedenen tatbestandlichen Voraussetzungen normiert. Insgesamt finden sich nicht oder bezeichnete Krankheiten ebenso wie keine oder konkretisierende Einwirkungen und auch Kombinationen hieraus: Krankheiten ohne Bezeichnung mit konkretisierten Einwirkungen, bezeichnete Krankheiten ohne konkretisierte Einwirkungen und bezeichnete Krankheiten mit konkretisierten Einwirkungen. Bei BK‘en mit näher definierten besonderen Einwirkungen („harten Kriterien“) bestehe einerseits bereits bei Nachweis dieser in der Norm selbst genannten Einwirkungsgröße eine Tatsachenvermutung für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Einwirkung. Andererseits sei aber eine Anerkennung der jeweiligen BK ausgeschlossen, wenn die normierte Einwirkungsdosis nicht erreicht werde. Hingegen seien bei BK‘en ohne konkretisierte Einwirkungen normative Vorgaben in Form einer Mindestdosis oder Mindestdauer der Einwirkung nicht bestimmt. Bei solchen BK‘en sei aufgrund der Einwirkungsintensität weder eine vergleichbare Tatsachenvermutung noch ein entsprechender Ausschluss des Ursachenzusammenhangs möglich.

Anforderung an Mindest­belastungsdosis

Bei BK‘en ohne vorgegebene Einwirkungsintensität können bei Nachweis der berufsbedingten Einwirkung dieser Stoffe die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht allein wegen unzureichender Einwirkungen verneint werden, wenn eine Mindestexpositionsdosis auch nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht bestimmt werden könne. Bei einer BK ohne ausreichend konkretisierte Einwirkungsdosis seien nach der Senatsrechtsprechung die in der Definition der BK beschriebenen Einwirkungen durch Verwaltung und Gerichte unter Zuhilfe­nahme des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu konkretisieren und festzustellen, bei welcher Dosis sie nicht mehr geeignet sind, die betreffende Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu verursachen. Bei der so vorzunehmenden Bestimmung der Mindestbelastungsdosis müsse deren Wert so niedrig bemessen werden, dass im Falle seiner Unterschreitung auch in besonders gelagerten Fällen ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen
sei.

Für BK‘en, bei denen eine Dosis-Wirkungs-Beziehung nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht näher bestimmt werden kann, folge daraus, dass bei Nachweis berufsbedingter Einwirkungen die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht allein deswegen verneint werden könnten, weil die Einwirkungsdosis in ihrer Qualität und Quantität nicht ausgereicht haben kann, die Erkrankung zu verursachen. Dies gilt grundsätzlich jedenfalls bei sogenannten stochastischen BK‘en, denen keine klaren Erkenntnisse über Dosis-Wirkungs-Beziehungen zugrunde liegen und deren medizinisches Krankheitsbild typischerweise weit verbreitet ist (z. B. Krebs) und hinsichtlich der beruflichen Verursachung nicht mittels typischer Marker abgegrenzt werden könne.

Keine Mindestbelastungsdosis bei BK 1301

Bei der BK 1301 handele es sich um eine BK, die im Tatbestand keine Einwirkungsgrößen benennt und bei der Dosis-Wirkungs-Beziehungen auch nicht durch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand belegt seien. Konkrete und verbindliche Aussagen über aufgenommene Mengen an aromatischen Aminen nach dermaler oder inhalativer Exposition gegenüber Azofarbstoffen oder Bildung im Körper durch reduktive Spaltung seien nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand nicht möglich. Bei der BK 1301 handele es sich um eine stochastische BK. Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen, bedingt durch aromatische Amine, seien weder klinisch, histologisch noch nach ihrem Verlauf von solchen Erkrankungen anderer Ursachen abzugrenzen. Bei der BK 1301 sei daher mangels tatbestandlich vorgegebener Einwirkungsintensität einerseits und wegen unbestimmbarer Mindestexposi­tionsdosis andererseits ein Rückschluss von der Einwirkungsdosis auf die Verneinung des Ursachenzusammenhangs nicht möglich.

Ein Mindestexpositionswert oder auch nur eine Grenzwertorientierung ergebe sich auch nicht aus dem vom LSG gezogenen Vergleich der anteiligen Verwendung der Rissprüfungsspraydosen unter Berücksichtigung eines unter zweiprozentigen Anteils des Azofarbstoffs auf Basis des kanzerogenen aromatischen Amins o-Toluidin einer­seits und dem früheren TRK-Wert für o-Toluidin in Höhe von von 500 μg/m³ beziehungsweise den in der vom Sachverständigen D. zitierten Studie von Ward et al. 1996 beschriebenen o-Toluidin-Werten in Höhe von 412 + 366 μg/m³ beziehungsweise 516 + 513 μg/m³ andererseits. Das Abstellen auf den TRK-Wert als Mindestdosis sei grundsätzlich unzulässig. Der Senat habe bereits entschieden, dass auch bei der Einhaltung von Arbeitsplatzgrenzwerten von einer Gefährdung auszugehen sein kann, die einer arbeitsmedizinischen Beurteilung bedarf. Rückschlüsse vom TRK-Wert auf eine geeignete Einwirkung seien demnach ebenso wenig möglich wie solche von den Studienergebnissen von Ward et al. (1996).

Weiter Schutzbereich der BK 1301

Der Ärztliche Sachverständigenbeirat (ÄSVB) habe mit seiner wissenschaftlichen Stellungnahme zur BK 1301 aus dem Jahr 2011 unter Bezugnahme auf die genannte Studie zwar ausdrücklich klargestellt, dass o-Toluidin – anders als im Merkblatt ursprünglich vermerkt – genotoxisch sei, dabei aber weder diese noch andere Werte als Grenzwerte bestimmt. In Ermangelung eines Mindestschwellenwerts könne bei der BK 1301 keine sichere Dosis benannt werden, deren Unterschreiten von vornherein eine Verursachung des im Verordnungstext geforderten Krankheitsbildes
durch die versicherte Einwirkung ausschließt.

Das folge daraus, dass aromatische Amine nicht direkt kanzerogen wirken, sondern erst die aus ihnen im körpereigenen Stoffwechsel entstehenden Metaboliten einen Tumor verursachen könnten. Aus diesem Grund ergebe sich ein unterschiedliches Erkrankungsrisiko bei gleicher Exposition. Zudem wäre die Streubreite von Messergebnissen bei nachgestellten Arbeitsplätzen so groß, dass diese Werte allenfalls zur groben Orientierung und nicht als Grundlage für einen Grenzwert geeignet seien. Auch deswegen sei die BK 1301 keine Dosis-BK geworden. Der Verordnungsgeber habe eine Grenzwertbestimmung bewusst nicht getroffen. Vielmehr habe er mit dem Normtext der BK 1301 deutlich gemacht, dass er aromatische Amine angesichts ihres Gefahrenpotenzials ohne jegliche Abgrenzung auch niedrigschwellig als gefährlich einstuft und dieser Versicherungstatbestand entsprechend seinem Schutzzweck weit zu fassen sei. Grund für die Einführung dieses BK-Tatbestands sei insoweit allein die Erkenntnis gewesen, dass für Erkrankungen der Harnwege aromatische Amine in Betracht kommen können.

Auch wenn mit dem vom LSG in Bezug genommenen Sachverständigengutachten von D. davon ausgegangen werde, dass die Allgemeinbevölkerung gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert sei, hindere das ubiquitäre Vorkommen nicht zusätzliche berufsbedingte Einwirkungen in einem für die Entstehung von Harnblasenkrebs geeigneten Ausmaß. Mangels näherer Dosisbestimmungen durch die BK selbst oder entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse sei vorliegend schon ausreichend, dass sich mit einer Arbeitsplatzexposition überhaupt eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos ergebe.

Ausschluss anderer Krankheits­ursachen

Zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen habe das LSG für den Senat bindend festgestellt, dass für den Kläger keine Messwerte für seine Tätigkeitsstelle vorliegen und dass seitens des Präventionsdienstes der Beklagten keine kumulative Exposition berechnet wurde. Auch existieren keine allgemeingültigen Messwerte, die Rückschlüsse auf die Intensität der Exposition von o-Toluidin geben. Damit habe das LSG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die Rückschlüsse auf eine konkrete Einwirkungsintensität und zur Bestimmung der arbeitstechnischen Voraussetzungen zulassen.

Mit den tatsächlich festgestellten versicherungsbedingten Einwirkungen durch o-Toluidin sei vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen, wenn konkurrierende Krankheitsursachen ausgeschlossen werden können und ausgeschlossen worden sind. Sei eine Mindestexposi­tionsdosis weder normativ vorgegeben noch anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes bestimmbar und sind andere nach aktuellem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Betracht kommende Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen, sei mit dem Vorhandensein der in der BK genannten Listenstoffe am Arbeitsplatz, hier also von aromatischen Aminen, vom Vor­liegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen.

Der Senat habe allerdings entschieden, dass beim Fehlen konkurrierender Ursachen nicht automatisch ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung anzunehmen sei. Insbesondere genüge nach der Senatsrechtsprechung bei komplexen Krankheitsgeschehen, die mehrere Ursachen haben können, die fehlende Feststellbarkeit von konkurrierenden Ursachen nicht für die Annahme der haftungsbegründenden Kausalität. Indes habe der Senat auch darauf hingewiesen, dass ein klar erkennbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung zur Bejahung der Kausalität genüge, wenn keine Anhaltspunkte für eine alternative (innere oder äußere) Krankheitsursache bestehen. Wenn die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer allein wesentlichen außerberuflichen wie zum Beispiel einer inneren Verursachung zu verneinen ist, komme danach durchaus der Schluss in Betracht, dass eine vorhandene geeignete berufliche Einwirkung auch ein geeignetes Krankheitsbild verursacht habe.

Wesentlichkeit durch Ursachen­ausschluss

Unter Berücksichtigung der Besonderheiten von BK‘en wie der BK 1301, denen der Verordnungsgeber auch ohne konkrete Dosis-Wirkungs-Beziehung ein hohes Gefährdungspotenzial beimisst, führte der Senat diese Rechtsprechung dahingehend fort, dass eine wesentliche Verursachung durch die berufliche Exposition anzunehmen ist, wenn andere Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen sind. Anderenfalls würde die vom Verordnungsgeber mit der Aufnahme einer Einwirkung in die BKV getroffene Wertentscheidung unterlaufen, dass die Beteiligten von deren generellen Eignung zur Verursachung bestimmter Erkrankungen und von deren Entschädigungswürdigkeit auszugehen haben.

Krebserkrankungen lägen regelmäßig multifaktorielle Geschehensabläufe zugrunde, deren Ursachen teils im beruflichen, teils im außerberuflichen Bereich liegen, ohne dass insofern eine wissenschaftlich begründete exakte Bezifferung der jeweiligen Verursachungsbeiträge möglich ist. Eine solche Auslegung von BK‘en ohne vorgegebene Mindestexpositionsdosis entspreche auch § 2 Abs. 2 SGB I, wonach bei der Auslegung sozialrechtlicher Vorschriften sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Andernfalls bliebe angesichts vielfältiger, in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen nur teilweise bekannter und erforschter gesundheitsschädlicher Umwelteinflüsse, denen jeder in seinem persönlichen Umfeld in mehr oder weniger großem Umfang ausgesetzt ist, der vom Verordnungsgeber bewusst weitgefasste Schutz der BK weitgehend bedeutungslos.

Eine Diskrepanz zu BK‘en mit „harten Kriterien“ ergebe sich mit der Annahme der arbeitstechnischen Voraussetzungen der hier betroffenen BK bei Ausschluss von Konkurrenzursachen nicht. Denn bei solchen BK‘en mit „harten Kriterien“ existiere beim Nachweis der in der Norm selbst genannten Einwirkungsgröße bereits eine Tatsachenvermutung für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Krebserkrankung und der Einwirkung, ohne dass ein Abstellen auf andere konkurrierende Krankheiten für die Begründung der BK erforderlich sei. Auch widerspreche die Annahme der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht dem Grundgedanken der gesetzlichen Unfallversicherung, die als Sonderentschädigungssystem im Rahmen der Sozialversicherung die Haftung des Unternehmens in den Fällen ablösen soll, in denen es wegen der Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs für einen Gesundheitsschaden einstandspflichtig sei.

Die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs bleibe Maßstab der Beurteilung. Denn erst wenn alle nach aktuellem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Betracht kommenden Ursachen positiv ausgeschlossen sind, könne im Rahmen der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen eine berufsbedingte Verursachung angenommen werden.

Feststellungsanforderungen für Ausschluss

Den Gesamtfeststellungen des LSG lasse sich für den Senat bindend entnehmen, dass andere, nach aktuellem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand typische Krankheitsverursachungen nicht in Betracht kämen und vom LSG unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen als Ursache ausgeschlossen wurden. Das betreffe namentlich die Einnahme bestimmter Medikamente, die zu einem erhöhten Harnblasenkarzinomerkrankungsrisiko führen, chronische Harnwegsinfekte oder Steinleiden und eine Bestrahlungstherapie im kleinen Becken.

Gleiches gelte für das Rauchen (hier 15 Packungsjahre). Das LSG hat insoweit in nicht zu beanstandender Weise das eingeholte Sachverständigengutachten ausgewertet und für den Senat bindend festgestellt, dass der Kläger das Rauchen bereits im Jahr 2000 aufgegeben hat und es so nicht mehr hinreichend wahrscheinliche Ursache der Harnblasenerkrankung ist.

Soweit das LSG zu der Überzeugung gelangt, es sprächen ebenso gute Gründe für eine andere wie für die berufliche Verursachung, könne dies eine überragende Bedeutung der unversicherten außerbetrieblichen Ursache nicht begründen. Vielmehr fuße die Annahme des LSG auf einer fehlerhaften rechtlichen Schlussfolgerung von der Möglichkeit auf die Wahrscheinlichkeit. Denn das LSG konnte weder das konkrete Schicksal benennen noch dieses – im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung – feststellen. Art, Intensität und Dauer der schicksalhaften Erkrankung konnten nicht als Tatsachen festgestellt werden.

Etwaig „gute Gründe“ für die Annahme einer unversicherten Alternativursache könnten insoweit bei der Kausalitätsbeur­teilung als bloße Behauptung die überwiegend wahrscheinliche Ursächlichkeit der tatsächlich erfolgten beruflichen Einwirkung nicht zulässig ausschließen. Aus dem vom LSG erwähnten altersbedingten Harnblasenrisiko ließen sich Schlüsse zum Nachteil des Klägers nicht ziehen. Das mittlere Erkrankungsalter für das Harnblasenkarzinom in Deutschland liege bei knapp 75 Jahren. Zwar steigt die Harnblasenkrebsinzidenz in der Allgemeinbevölkerung ab etwa dem 50. Lebensjahr an, doch müssten Harnblasenerkrankungen aufgrund des mittleren Erkrankungsalters von 75 Jahren als vorgezogene und damit berufsbedingte Erkrankung betrachtet werden, wenn sie im Alter von 50 bis 75 Jahren aufträten. Der Kläger sei altersuntypisch mit 58 Jahren an dem Harnblasenkarzinom erkrankt.

Arbeitsmedizinische ­Voraussetzungen

Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK 1301 seien ebenfalls gegeben. Lasse bei einer BK ohne normativ vorgegebene oder nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmbare Mindestdosis die Einwirkungsintensität keine negativen Rückschlüsse auf den Ursachenzusammenhang im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie zu, so stehe der Annahme eines solchen Ursachenzusammenhangs gleichwohl die positive Feststellung entgegen, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen sei.

Zu BK‘en, für die keine konkrete Erkrankung bezeichnet oder beschrieben ist (offene BK), habe der Senat bereits entschieden, dass für den Ausschluss eines bestimmten Krankheitsbildes aus dem Schutzbereich dieser BK feststehen muss, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann.

Positive Feststellung von ­Alternativen

Entsprechendes müsse für BK‘en gelten, für die keine Einwirkungsdosis vorgegeben ist, sondern die als stochastische BK‘en multikausale Erkrankungen wie Krebs erfassen. Um hier einen Ursachenzusammenhang auszuschließen, muss positiv festgestellt werden, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen sei. Für die positive Feststellung, dass eine Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist, genüge die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht jedoch die bloße Möglichkeit. Sie erfordert eine Prüfung des Ursachenzusammenhangs im Sinne der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen und hat zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen: zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit, zum anderen ein Schadensbild, das – losgelöst von einer Expositionsdosis – mit der rechtlich-wesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest in Einklang stehe.

Für die Feststellung fehlender Ursächlichkeit sei daher entscheidend, dass wegen der Art oder der Lokalisation des Karzinoms, wegen des zeitlichen Ablaufs der Erkrankung (Expositionszeit, Latenzzeit und Interimszeit) oder aufgrund sonstiger Umstände im konkreten Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang trotz der beruflichen Einwirkung nicht wahrscheinlich sei. Sei ein solches „versicherungsfremdes“ Schadensbild nicht feststellbar, sei davon auszugehen, dass die Krankheit auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist. So verhalte es sich hier. Das LSG habe keine Feststellung getroffen, wonach das Harnblasenkarzinom nicht durch die berufliche Einwirkung verursacht worden sei.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Ward EM, Sabbioni G, DeBord DG et al.: Monitoring of Aromatic Amine Exposures in Workers at a Chemical Plant With a Known Bladder Cancer Excess. J Nat Cancer Institute 1996; 88: 1046–1053.

doi:10.17147/asu-1-371807

Kernaussagen

  • Bei Berufskrankheiten mit näher definierten besonderen Einwirkungen („harten Kriterien“) besteht bei Nachweis der in der Norm selbst genannten Einwirkungsgröße eine Tatsachenvermutung für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Einwirkung.
  • Bei BK‘en ohne tatbestandliche Einwirkungsgröße gilt:
  • – Bei einer Mindestbelastungsdosis nach wissenschaftlichem Er­kenntnisstand muss deren Wert so niedrig bemessen werden, dass
    im Falle seiner Unterschreitung auch in besonders gelagerten Fällen ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen ist. Das Abstellen auf den TRK-Wert
    als Mindestdosis ist grundsätzlich unzulässig.

    – Kann eine Mindestexpositionsdosis auch nicht tatsächlich nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmt werden, darf der Ursachenzusammenhang nicht wegen zu geringer Quantität oder Qualität der Exposition verneint werden. So verhält es sich
    bei der BK 1301.

    – Liegen Messwerte für die Tätigkeitstelle nicht vor und sind auch
    anderweitig keine Rückschlüsse auf die Intensität der Exposition möglich, ist vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen durch die berufliche Exposition auszugehen, wenn andere Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen sind.

    – Bei stochastische BK’en, die multikausale Erkrankungen wie Krebs erfassen, können die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen nur verneint werden, wenn im Einzelfall positiv mit dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit festgestellt ist, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist. Die Möglichkeit unab-
    hängiger Verursachung genügt nicht.

    Kontakt

    Reinhard Holtstraeter
    Rechtsanwalt; Lorichsstraße 17; 22307 Hamburg

    Foto: privat

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