Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Berufs- und branchenbezogene Analyse des COVID-19-Risikos in Deutschland

M. Möhner1

A. Wolik2

(eingegangen am 27.07.2020, angenommen am 30.09.2020)

Analysis of the COVID-19 risk by occupational groups and industry in Germany

Background: Cases of COVID-19 in healthcare professionals and employees in the nursing service who, as a result of their professional activities, are exposed to a significantly increased risk of infection compared to the general population can be recognised as an occupational disease (BK 3101). However, the question arises whether there is an increased risk of infection in occupational groups other than those mentioned in BK 3101..

Methods: Based on the routine data of the BARMER health insurance fund for all employed regular insured persons in the age range from 15 to under 65 years, age- and gender-specific incidence rates for COVID-19 were calculated. On this basis, standardised incidence ratios (SIR) were analysed according to industry and occupational groups as well as according to the risk groups proposed by the Collegium Ramazzini.

Results: A total of 15,167 cases of COVID-19 were identified for the more than 4.1 million regular insured persons, of which 2,890 were admitted to hospital (19.1%). For employees in the health and nursing care sector, a significantly increased risk was confirmed with SIR = 1.80 (95%CI: 1.62–1.99).
But even for risk group 2 (very high risk) a significantly increased risk was detected: SIR = 1.34 (95%CI: 1.15–1.55). The highest risk was observed among contract workers in the industrial sector and in the postal and logistics sector.

Conclusion: The analysis suggests that the risk of COVID-19 is highest among healthcare professionals, employees in the nursing service and in workplaces where inadequate occupational health and safety measures may have been implemented. In order to reduce the risk of COVID-19 in the future, the new SARS-CoV-2 occupational safety regulations must be implemented and strict monitoring of compliance with the internal policies based on these regulations must be ensured.

Keywords: COVID-19 risk – occupational disease (BK 3101) – risk groups – occupational health and safety measures

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2021; 56: S. 29-34

Berufs- und branchenbezogene Analyse des COVID-19-Risikos in Deutschland

Hintergrund: COVID-19-Fälle bei Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegedienst, die infolge der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung wesentlich erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt sind, können als Berufskrankheit (BK) anerkannt werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht auch in anderen als den in der BK 3101 genannten Berufsgruppen erhöhte Infektionsrisiken bestehen.

Methoden: Basierend auf den Routinedaten der BARMER Krankenkasse für alle erwerbstätigen Stammversicherten im Altersbereich von 15 bis unter 65 Jahren wurden alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzraten für COVID-19 berechnet. Auf deren Basis wurden standardisierte Inzidenzratios (SIR) nach Branchen- und Berufsgruppen sowie nach den vom Collegium Ramazzini vorgeschlagenen Risikogruppen analysiert.

Ergebnisse: Für die mehr als 4,1 Millionen Stammversicherten wurden insgesamt 15.167 Erkrankungsfälle ermittelt, von denen 2890 stationär aufgenommen wurden (19,1%). Für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegedienst wurden mit SIR = 1,80 (95%-KI: 1,62–1,99) deutlich erhöhte Erkrankungsrisiken bestätigt. Aber auch für die Risikogruppe 2 („very high risk“) wird ein signifikant erhöhtes Risiko ermittelt: SIR = 1,34 (95%-KI: 1,15–1,55). Das höchste Risiko wird unter den Leihbeschäftigten im industriellen Bereich sowie in der Post- und Logistikbranche beobachtet.

Schlussfolgerung: Die Analyse deutet darauf hin, dass das Risiko an COVID-19 zu erkranken neben den Berufen im Gesundheits- und Pflegebereich an solchen Arbeitsplätzen am höchsten ist, an denen möglicherweise keine ausreichenden Arbeitsschutzmaßnahmen getroffen wurden. Um die Erkrankungsrisiken zukünftig zu reduzieren, bedarf es der Umsetzung der neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel sowie einer strikten Kontrolle der Einhaltung der darauf aufbauenden innerbetrieblichen Maßnahmen.

Schlüsselwörter: COVID-19-Risiko – Berufskrankheit (BK 3101) – Risikogruppen – Arbeitsschutzmaßnahmen

Einleitung

Es ist seit langem bekannt, dass bei Beschäftigten im Gesundheitsdienst insbesondere bei der Behandlung und Pflege von infektiösen Patienten ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht. Bereits im Jahre 1929 wurden deshalb Infektionskrankheiten bei Beschäftigten in Krankenhäusern, in Einrichtungen der Wohlfahrtspflege sowie in anderen Bereichen des Gesundheitsdienstes in die Liste der Berufskrankheiten (BK) aufgenommen. In der aktuellen Verordnung wird diese Berufskrankheit unter BK 3101: „Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war“ geführt. Im Jahre 2018 wurden 1982 Anzeigen auf Verdacht einer BK 3101 gestellt, 1123 Fälle wurden im gleichen Zeitraum als BK anerkannt (DGUV 2019). Auf die Influenza entfielen in den vergangenen Jahren jedoch weniger als ein Prozent dieser Fälle (Dulon et al. 2018). In der gegenwärtigen Pandemie wurden dem Robert Koch-Institut (RKI) jedoch bereits 12.865 COVID-19-Fälle bei Beschäftigten in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen mit besonderer Relevanz für die Transmission von Infektionskrankheiten (gemäß §23 IfSG) gemeldet, von denen 587 hospitalisiert wurden und 20 verstarben (RKI 2020). Bis Anfang Juli 2020 ist bereits für 5.762 Beschäftigte aus solchen Einrichtungen die COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt worden (Deutsches Ärzteblatt, 9. Juli 2020). Es ergibt sich jedoch die Frage, ob auch in anderen als den in der BK 3101 genannten Berufsgruppen erhöhte Infektionsrisiken auftreten. In einem kürzlich erschienenen Statement des Collegiums Ramazzini (2020) wurde eine Liste von Berufen vorgestellt, die ein hohes bzw. sehr hohes Risiko haben, sich im Rahmen ihrer üblichen Arbeitsaufgaben durch Kontakte mit Patienten bzw. Kunden zu infizieren. Ziel der vorliegenden Analyse ist es daher, die Erkrankungsrisiken bezüglich COVID‑19 in den verschiedenen Berufs- und Branchengruppen unter Berücksichtigung dieser Klassifikation und angepasst auf die in Deutschland umgesetzten Lockdown-Maßnahmen zu analysieren. Eine Kurzfassung der nachfolgenden Analyse wurde bereits im Deutschen Ärzteblatt publiziert (Möhner u. Wolik 2020).

Methoden

Die Analyse beruht auf Routinedaten der BARMER Krankenkasse, bei welcher rund neun Millionen Person krankenversichert sind. Es wurden die Daten aller erwerbstätigen Stammversicherten im Altersbereich von 15 bis unter 65 Jahren herangezogen, die im Zeitraum vom 01. Januar bis 31. Mai 2020 bei der BARMER versichert waren.

Eine versicherte Person wurde als COVID-19-Fall gezählt, sofern eine der folgenden ICD10-Diagnosen auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) oder als Aufnahme‑, Neben- oder Entlassungs-Krankenhausdiagnose dokumentiert wurde: U07.1, U07.2, U04.9, B34.2 sowie B97.2 (BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung 2020). Als Inzidenzdatum wurde jeweils das Datum der ersten Diagnosestellung im Zeitraum vom 01. Januar bis 31. Mai 2020 mit Datenstand vom 15. Juni 2020 verwendet. Um der höheren Validität der Krankenhausdiagnosen Rechnung zu tragen und die Schwere der Erkrankung mit zu berücksichtigen, wurde eine zweite Analyse unter alleiniger Verwendung der Krankenhausdiagnosen durchgeführt.

Die Angaben zu Branche und Beruf wurden den kodierten Angaben zur Sozialversicherung entnommen. Die Angaben zur Branche basieren auf der vom Statistischen Bundesamt (2008) herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige. Probanden mit unbekannter Branche wurden ausgeschlossen. Um eine Gruppierung der Branchen möglichst gut auf die Fragestellung anzupassen, wurden einige Umkodierungen notwendig. Teilweise reichten die ersten zwei Stellen des Branchenkodes aus. Bei den Arztpraxen wurde jedoch z.B. die Differenzierung bis auf die vierte Stelle des Branchenkodes verwendet. Die Details der Umkodierungen sind im Online-Anhang enthalten (Tabelle S1).

Die Angaben zum Beruf lagen in der Kodierung entsprechend dem aktuell gültigen Schlüsselverzeichnis der Bundesagentur für Arbeit vor (2019), wobei der Schlüssel lediglich bis in die Tiefe der ersten drei Stellen verwendet wurde. Auch hier wurden Probanden mit fehlender Kodierung ausgeschlossen.

Die Infektions-Risikoklassifikation wurde in Anlehnung an die Einteilung des Collegiums Ramazzini (2020) vorgenommen. In den Gruppen 1 und 2 sind die Berufe enthalten, die mit „high risk“ bzw. „very high risk“ eingestuft wurden. In die Gruppe 3 wurden jene Berufe aus der Gruppe „very high risk“ eingeordnet, welche unter die Definition der BK 3101 fallen, d.h. Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und aus Pflegeeinrichtungen. Alle anderen Beschäftigten wurden in die Gruppe 0 eingruppiert. Bei der Zuordnung in die Risikogruppen wurden lediglich die Kombinationen aus Branche und Beruf berücksichtigt, in denen nach unserer Kenntnis auch während des Lockdowns gearbeitet wurde. So wurden von den Beschäftigten im Einzelhandel lediglich diejenigen in die Gruppe 2 (very high risk) klassifiziert, die im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln sowie Getränken, in Drogerien und Apotheken oder auch an Tankstellen arbeiteten. Auch Fahr- und Servicepersonal im öffentlichen Personennahverkehr sowie im Eisenbahnfernverkehr wurde in die Gruppe 2 eingeordnet. Der Gruppe 1 wurden Beschäftigte aus Wach- und Sicherheitsdiensten, der Lebensmittelherstellung und der Versorgung mit Energie und Wasser, sowie der Abfallentsorgung zugeordnet. Die vollständige Liste der Zuordnung in die Risikogruppen ist im Online-Anhang enthalten (Tabelle S2).

Statistische Methoden

Auf der Basis der Angaben aus den AU-Bescheinigungen und den Krankenhausdiagnosen wurden die kumulativen Inzidenzraten nach Geschlecht und 5-Jahre-Altersgruppen für den untersuchten Bestand der BARMER berechnet. Auf dieser Basis wurden sodann standardisierte Inzidenzverhältnisse (standardized incidence ratio - SIR) für Branchen, Berufsgruppen und Kombinationen von Branche und Beruf berechnet. Für die Analyse der drei Risikogruppen wurden ebenfalls SIRs berechnet, wobei jedoch die alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenzraten aus der Gruppe 0 als Referenz herangezogen wurden. Zu allen SIRs wurden die 95%-Konfidenzintervalle (95%KI) ermittelt. P-Werte werden nicht angegeben, da die Analysen bis auf jene zu den Risikogruppen hypothesengenerierenden Charakter haben und somit der Überprüfung an einem weiteren Datenkörper bedürfen. Alle Berechnungen erfolgten mit der Statistik-Software STATA, Version 16.1 (StataCorp LP 2019).

Tabelle 2:  Kumulative Inzidenz (01.01. bis 31.05.2020) von Erwerbspersonen für COVID-19 nach Alter und Geschlecht je 100.000 PersonenTable 2: Cumulative incidence (01.01 – 31.05.20200) of COVID-19 in working population by age and gender per 100,000 persons

Tabelle 2: Kumulative Inzidenz (01.01. bis 31.05.2020) von Erwerbspersonen für COVID-19 nach Alter und Geschlecht je 100.000 Personen
Table 2: Cumulative incidence (01.01 – 31.05.20200) of COVID-19 in working population by age and gender per 100,000 persons

Ergebnisse

Die Basispopulation besteht aus rund 4,1 Millionen Stammversicherten der BARMER im Alter von 15 bis unter 65 Jahren. Im Zeitraum vom 01. Januar bis 31. Mai 2020 wurden für insgesamt 15.167 Personen mindestens eine Diagnose gestellt, die nach den oben genannten Kriterien COVID-19 zugeordnet werden konnte. Von diesen wurden im o.g. Zeitraum 2.890 stationär aufgenommen (19,1%), so dass deren Einstufung auf der Krankenhaus-Entlassungsdiagnose basiert. Sowohl unter den Krankenhaus-Diagnosen als auch unter den AU-Diagnosen entfallen über 90% auf die seit dem 1. April 2020 gültigen ICD10-Kodes U07.1 und U07.2 ((➥ Tabelle 1).

Die Diagnosehäufigkeit für COVID-19 unter Mitberücksichtigung der AU-Bescheinigungen ist für Frauen im Vergleich zu Männern knapp 40% höher. Die niedrigste Inzidenz wird für beide Geschlechter in den mittleren Altersgruppen beobachtet. Die Häufigkeit der schwereren Krankheitsverläufe, die einer stationären Aufnahme bedurften, nahm für Männer im Gegensatz zu den Frauen mit dem Alter signifikant zu ((➥ Tabelle 2).

Die Analyse nach Branchen zeigte für den Krankenhaus- und Pflegebereich signifikant erhöhte Risiken nach beiden Kriterien auf ((➥ Tabelle 3). Für weitere Branchen werden zwar erhöhte Risiken für einen schweren Verlauf beobachtet, jedoch sind die unter Einbeziehung der AU-Daten geschätzten Risiken für diese Branchen unauffällig. Eine Übersicht über die Risiken aller Branchen mit mindestens 5 stationären Fällen ist im Anhang (Tabelle S3) enthalten. Die Analyse nach Berufsgruppen ergibt ein ähnliches Bild. Insbesondere für Berufe in der Human- und Zahnmedizin, in der Alten- und Krankenpflege sowie im Rettungsdienst werden erhöhte Erkrankungsrisiken beobachtet ((➥ Tabelle 4 und S4).

Tabelle 3:  Branchen mit signifikant erhöhten standardisierten Inzidenzratios für COVID-19 auf Basis der KlinikdatenTable 3: Sectors with significantly higher standardised incidence ratios for COVID-19 based on clinical data

Tabelle 3: Branchen mit signifikant erhöhten standardisierten Inzidenzratios für COVID-19 auf Basis der Klinikdaten
Table 3: Sectors with significantly higher standardised incidence ratios for COVID-19 based on clinical data
Tabelle 4:  Berufe mit signifikant erhöhten standardisierten Inzidenzratios für COVID-19 auf Basis der KrankenhausdatenTable 4: Occupations with significantly higher standardised incidence ratios for COVID-19 based  on hospital data

Tabelle 4: Berufe mit signifikant erhöhten standardisierten Inzidenzratios für COVID-19 auf Basis der Krankenhausdaten
Table 4: Occupations with significantly higher standardised incidence ratios for COVID-19 based
on hospital data

Die Analyse nach den in Anlehnung an die Einteilung des Collegiums Ramazzini gebildeten Risikogruppen zeigt, dass in den in der BK 3101 aufgeführten Berufen auch die höchsten Risiken bezüglich COVID-19 zu beobachten sind ((➥ Tabelle 5). Aber auch für die Gruppe 2 (very high risk) wird ein signifikant erhöhtes Risiko ermittelt: SIR = 1,34 (95%KI: 1,15 – 1,55). Die SIRs in den einzelnen Untergruppen fallen allerdings sehr heterogen aus ((➥ Tabelle 6). Das höchste Risiko wird unter den Leihbeschäftigten im industriellen Bereich sowie in der Post- und Logistikbranche beobachtet. Mehr als die Hälfte der Erkrankungsfälle unter den Leihbeschäftigten sind dabei der Post- und Logistikbranche zugeordnet.

Ein brancheninterner Vergleich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zeigt, dass Beschäftigte mit häufigem direkten Kontakt zu Patienten bzw. zu pflegebedürftigen Personen ein höheres Erkrankungsrisiko haben als die übrigen Beschäftigten in diesen Branchen. Im Krankenhausbereich berechnen sich die entsprechenden SIRs zu 2,10 (95%KI: 1,82 – 2,41) bzw. 1,40 (95%KI: 1,08 – 1,79) und im Bereich der Altenpflege zu 1,95 (95%KI: 1,47 ‑ 2,54) bzw. 1,18 (95%KI: 0,94 ‑ 1,48), jeweils berechnet auf Basis der Krankenhausdiagnose

Für Beschäftigte in Arztpraxen wurde ein nur leicht erhöhtes Risiko für schwere Erkrankungsverläufe festgestellt. Unter Einbeziehung der AU-Daten ergab sich jedoch für alle drei auf Basis des Branchenkodes unterscheidbaren Typen von Arztpraxen ein signifikant erhöhtes Risiko, welches von den Zahnarztpraxen (SIR = 1,26) über die Fachartpraxen (SIR = 1,62) bis zu den Allgemeinarztpraxen (SIR = 2,23) jeweils signifikant anstieg.

Tabelle 5:  Standardisierte Inzidenzratios für COVID-19 nach Risikogruppen in Anlehnung an die Einteilung des Collegiums RamazziniTable 5: Standardised incidence ratios for COVID-19 by risk groups based on the Collegium Ramazzini  classification system

Tabelle 5: Standardisierte Inzidenzratios für COVID-19 nach Risikogruppen in Anlehnung an die Einteilung des Collegiums Ramazzini
Table 5: Standardised incidence ratios for COVID-19 by risk groups based on the Collegium Ramazzini
classification system
Tabelle 6:  Standardisierte Inzidenzratios für COVID-19 nach spezifischen RisikogruppenTable 6: Standardised incidence ratios for COVID-19 by specific risk groups

Tabelle 6: Standardisierte Inzidenzratios für COVID-19 nach spezifischen Risikogruppen
Table 6: Standardised incidence ratios for COVID-19 by specific risk groups

Diskussion

Die Analyse hat gezeigt, dass das Risiko an COVID-19 zu erkranken in jenen Berufen am höchsten ist, die im Rahmen ihrer Tätigkeit häufig direkten Kontakt zu COVID-19-Patienten bzw. zu potentiell infizierten Personen haben. Jedoch werden auch in Berufen mit zu vermutenden beengten Arbeitsplätzen und nicht optimalen Hygienebedingungen erhöhte Erkrankungsrisiken beobachtet. Auffällig sind insbesondere die hohen Erkrankungsrisiken bei Beschäftigten in Leiharbeit. Zudem ist die Hospitalisierungsrate wegen COVID-19 für diese Beschäftigten mit 55,7% fast drei Mal so hoch wie der Durchschnitt. Es muss daher befürchtet werden, dass es in dieser Gruppe viele weitere Erkrankungsfälle gab, die jedoch aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nicht zu einem Arztbesuch bzw. nicht zur Weiterleitung der AU-Bescheinigung führten (Deutsches Ärzteblatt, 25. Juni 2020).

Für Berufe in der Fleischverarbeitung und Leihbeschäftigte in der Lebensmittelherstellung werden zwar auch SIR >2 beobachtet, welche jedoch wegen zu geringer Fallzahlen nicht belastbar sind.

Aus der Analyse ergaben sich andererseits keine Anhaltspunkte dafür, dass z.B. in Supermärkten oder bei Beschäftigten im Nahverkehr vermehrt COVID-19 Erkrankungen aufgetreten sind. Offensichtlich sind die in diesen Bereichen ergriffenen Arbeitsschutzmaßnahmen ausreichend gewesen.

Die Stärke der Analyse besteht in dem großen Umfang der Basispopulation, welche mehr als 9 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland (44.6 Mio. im März 2020) umfasst (Destatis 2020). Auch wenn einige Berufsgruppen in der Basispopulation unterrepräsentiert sind, so ermöglicht dieser interne Vergleich erste Aussagen zu branchen- und berufsspezifischen Unterschieden im Erkrankungsrisiko bezüglich COVID-19.

Die Validität der verwendeten Diagnosen, speziell derjenigen, die auf den AU-Bescheinigungen beruhen, ist ein Schwachpunkt der Analyse. Der Umstand, dass AU-Bescheinigungen im Zeitraum vom 9. März bis 31. Mai 2020 nach telefonischer Anamnese ausgestellt werden durften, aber auch fehlende Testkapazitäten in den ersten Wochen der Pandemie könnten wesentliche Ursachen für die geringe Validität dieser Diagnosen sein.

Auffällig ist, dass das unter Mitberücksichtigung der AU-Diagnosen geschätzte Risiko für Berufsgruppen, die während des Lockdowns nicht in ihrem Beruf arbeiten durften, oftmals deutlich unter dem nur auf Basis der Krankenhausdiagnosen geschätzten Risiko lag. Plausibel erscheint, dass Beschäftigte aus diesen Berufsgruppen bei nur leichten Krankheitssymptomen eher keinen Arzt aufgesucht haben, während Beschäftigte z.B. aus dem Gesundheitswesen wahrscheinlich bereits bei leichter Symptomatik zum Arzt gegangen sind, nicht zuletzt um das Virus nicht am Arbeitsplatz zu verbreiten. Es ist auch zu vermuten, dass Personen, die sich während des Lockdowns in Kurzarbeit befanden, es teilweise versäumt haben, ihre AU-Bescheinigung weiterzuleiten. Insofern sollten primär die Ergebnisse auf alleiniger Basis der Kranken­hausdiagnosen für die Bewertung herangezogen werden. Da es sich bei der Analyse um einen internen Vergleich handelt, kann angenommen werden, dass sich eine generelle Über- oder Unterschätzung der Inzidenz nur geringfügig auf die Risikoschätzer auswirken.

Die vom RKI veröffentlichten alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenzraten (RKI 2020) liegen rund 20% unter den hier ermittelten Werten (berechnet auf Basis der Altersgruppe 20 – 49 Jahre). Eine wesentliche Ursache für diesen Unterschied dürfte sein, dass in den Statistiken des RKI lediglich die Infektionen berücksichtigt werden, die durch einen Labortest bestätigt wurden (ICD10: U07.1). Eine Reduktion der Fälle in den Studiendaten auf jene mit der Diagnose U07.1 verringert den Unterschied zu den vom RKI mitgeteilten Inzidenzangaben auf nur noch 9%. Bezogen auf die hospitalisierten COVID-19-Fälle muss allerdings festgestellt werden, dass der Anteil der durch einen Labortest abgesicherten Diagnosen zwischen Mitte März und Ende Mai von 50% auf 4% sank. Eine Beschränkung der Analyse auf die durch Labortest bestätigten Fälle wurde deshalb nicht in Betracht gezogen.

Die Angaben zu Beruf und Branche stammen aus den Sozialversicherungsbescheinigungen, welche vom Arbeitgeber erstellt werden. Somit kann von einer hohen Validität der Angaben zur Branche der Versicherten ausgegangen werden. Die Angaben zum Beruf dürften hingegen weniger valide sein. Die Analysen zu Berufs- und Branchengruppen zeigen in ihren Ergebnissen jedoch gleiche Tendenzen auf, so dass auch für die Berufsangaben von einer hinreichenden Validität ausgegangen werden kann.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Risikoschätzer in der Analyse lediglich nach Alter und Geschlecht adjustiert werden konnten, Faktoren des Lebensstils aber unberücksichtigt bleiben mussten. Kürzlich publizierte Studien belegen, dass das Rauchen einen Einfluss auf die Schwere des Erkrankungsverlaufes hat (Vardavas u. Nikitara 2020; Zheng et al. 2020). Eine Verzerrung der Schätzer durch die Nichtberücksichtigung von Lebensstilfaktoren kann daher nicht ausgeschlossen werden. Bei der Interpretation der Effektschätzer muss weiterhin berücksichtigt werden, dass lediglich die Analyse der spezifischen Risikogruppen hypothesenprüfenden Charakter hat, die Analyse der Vielzahl von Branchen und Berufen jedoch nur zur Generierung von Hypothesen dienen kann.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich erhöhte Erkrankungsrisiken in den von der BK 3101 umfassten Bereichen für COVID-19 bestätigt haben, dass aber auch in anderen Bereich, insbesondere bei Beschäftigten in Leiharbeit erhöhte Erkrankungsrisiken beobachtet werden. Die Ursachen hierfür dürften wohl primär in unzureichenden Arbeitsschutzmaßnahmen liegen. Um die Erkrankungsrisiken zukünftig zu reduzieren bedarf es der Umsetzung der neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel (BMAS 2020) sowie einer strikten Kontrolle der Einhaltung der darauf aufbauenden innerbetrieblichen Maßnahmen. Das Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 (https://www.public-health-covid19.de/) hat für eine Reihe von Arbeitsbereichen spezielle Handreichungen erarbeitet, in welchen die zur Umsetzung des Infektionsschutzes erforderlichen Maßnahmen weiter konkretisiert werden.

Interessenkonflikt: Beide Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Hinweis: Weitere Tabellen finden sich im Online-Anhang beim Beitrag auf der ASU-Homepage (asu-arbeitsmedizin.com)

Literatur

Zweite Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten. RGBl I1929; S. 27–29.

BMA: Bek. des BMA v. 1.12.2000: Merkblatt zur BK Nr. 3101: Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war. BArbBl 2001; 1: 35.

Vierte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). BGBl I 2017; p. 2299.

DGUV: DGUV-Statistiken für die Praxis – 2018. Berlin: DGUV, 2019, S. 96.

Dulon M, Wendeler D, Nienhaus A: Berufsbedingte Infektionskrankheiten bei Beschäftigten im Gesundheitsdienst 2017. Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 2018; 69: 16–22.

Robert Koch-Institut (RKI): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 vom 01. Juni 2020. RKI 2020.

COVID-19 knapp 6000-mal als Berufskrankheit anerkannt. Deutsches Ärzteblatt – Nachrichten – 9. Juli 2020.

Fellows of the Collegium Ramazzini: 24th Collegium Ramazzini Statement: Prevention of Work-Related Infection in the COVID-19 Pandemic. J Occup Environ Med 2020; 62: e467–468.

Möhner M, Wolik A: Differences in COVID-19 risk between occupational groups and employment sectors in Germany. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 641–642.

BARMER: Raten der AU-Diagnosen akuter Atemwegserkrankungen bei BARMER-Versicherten. BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung 2020.

Statistisches Bundesamt: Klassifikation der Wirtschaftszweige. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2008.

Bundesagentur für Arbeit: Schlüsselverzeichnis für die Angaben zur Tätigkeit in den Meldungen zur Sozialversicherung – Ausgabe 2010 –Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit; 2019.

StataCorp.: Stata: Release 16. Statistical Software. College Station, TX: StataCorp LP; 2019.

Die Fleischarbeiter lehnen AU-Bescheinigungen aus Angst oft völlig ab. Deutsches Ärzteblatt – Nachrichten – 25 Juni 2020.

Vardavas CI, Nikitara K: COVID-19 and smoking: A systematic review of the evidence. Tob Induc Dis 2020; 18: 20.

Zheng Z, Peng F, Xu B et al.: Risk factors of critical & mortal COVID-19 cases: A systematic literature review and meta-analysis. J Infect 2020.

BMAS: SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel. GMBl 2020; 24: 484–495.

Kontakt

Dr. rer. nat. Matthias Möhner
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
10317 Berlin
Nöldnerstr. 40–42
Moehner.Matthias@baua.bund.de