Folge 1: Treiber der Neuen Arbeitswelt – Herausforderungen für den Arbeitsschutz
Einleitung
Ein Kongress greift aktuelle Themen auf und ist eine wichtige Momentaufnahme und Austauschplattform. Der im Oktober 2022 in Stuttgart stattgefundene Kongress der Fachvereinigung Arbeitssicherheit1 im Rahmen der Arbeitsschutz Aktuell ist ein gutes Beispiel dafür. Hier wurden aktuelle Schlüsselthemen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes angesprochen. Es zeigte sich, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz bei allen Themen umfassend betrachtet werden muss, die Ursachen vielschichtig sein können und Lösungen in die allgemeinen Abläufe integriert werden müssen. Für die Erreichung des Schutzziels ist es wesentlich, dass bei den Beteiligten eine Akzeptanz bei der Vorgehensweise besteht. Dadurch gewinnt der Arbeits- und Gesundheitsschutz weiter an Bedeutung und kann dazu beitragen, die Bindung der Beteiligten an das Unternehmen zu stärken. Dies ist bei dem heutigen Arbeitsmarkt ein nicht zu unterschätzender Benefit.
Wir möchten Ihnen einige der auf dem Kongress angesprochenen Themen in einer ASU-Serie in loser Reihenfolge vorstellen. Wo möglich verbinden wir diese mit weiteren aktuellen Aspekten und möchten zur interdisziplinären Diskussion anregen. Für die Serie sind folgende Themen vorgesehen:
Treiber der neuen Arbeitswelt – Herausforderungen für den Arbeitsschutz
Subjektive und objektive Risikobewertung
Wer lotst was in der Prävention? Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
Klimawandel und die Risiken für die Arbeitswelt
Präventionskultur entwickeln
Vision Zero realisieren. Wie geht das?
Mobile Arbeit
Gefahrstoffe
Wir konnten die Leiter der jeweiligen Blöcke des Kongresses dafür gewinnen, das jeweilige Thema für die Leserschaft der ASU aufzubereiten.
In unserem ersten Beitrag stellt Beate Beermann die „Treiber der Neuen Arbeitswelt“ vor.
News from Occupational Health and Safety (Part 1): Drivers of the New Working World – Challenges for Occupational Safety and Health
Welchen substanziellen Beitrag der Arbeitsschutz leisten kann, hat unter anderem die Corona-Krise gezeigt. Die umfängliche Sensibilisierung betrieblich Verantwortlicher wie Geschäftsleitungen hat zu umfangreichen Maßnahmen in den Betrieben geführt. 79 % der Betriebe berichteten, Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten umgesetzt zu haben (BeCovid-Studie, s. „Weitere Infos“). Dabei wurden sie von Akteuren des Arbeitsschutzes sowohl unmittelbar als auch mittelbar durch die Bereitstellung relevanter Informationen zur Maßnahmengestaltung unterstützt. Nicht zuletzt die zeitnahe Bereitstellung der SARS-Cov-2 Arbeitsschutzregel hat für mehr Sicherheit im Umgang mit den Herausforderungen in den Betrieben beigetragen. Es zeigte sich somit eine belastbare Allianz der Arbeitsschutzakteure und der betrieblich Verantwortlichen, die in dieser spezifischen Krisensituation von den etablierten Arbeitsschutzstrukturen profitierten. Für die anstehenden Herausforderungen im Wandel der Arbeitswelt stellt sich nun die Frage, wie diese positive Kooperation auch für zukünftig anstehende Gestaltungsaufgaben nutzbar gemacht werden kann.
Eine wesentliche Maßnahme, die Erwerbsarbeit während der Pandemie in weiten Bereichen weiterhin möglich gemacht hat, war die Arbeit von zuhause. Nachdem anfänglich deutlich wurde, dass die digitalen Voraussetzungen für die virtuelle Arbeit nur begrenzt vorhanden waren, wurde relativ schnell „nachgebessert“. Und obwohl weiterhin eine Unsicherheit hinsichtlich der Definition – Telearbeit, mobiles Arbeiten, Homeoffice2 – und der Gestaltungsanforderungen auf Seiten der Betriebe und Beschäftigten besteht, reagierte der Arbeitsschutz schnell mit der Bereitstellung von Anleitungen zur Gefährdungsbeurteilung und Handlungsempfehlungen und leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeit im häuslichen Bereich.
In der „Nach-Corona-Zeit“ wurde schnell
deutlich, dass sowohl die Betriebe als auch die Beschäftigten die Möglichkeit der Arbeit von zuhause weiterhin nutzen möchten (BeCovid-Studie, s. „Weitere Infos“). Die offensichtlichen Vorteile dieser Arbeitsform zeigen sich auf Seiten der Beschäftigten in der Reduzierung von Pendelzeiten, höherer Autonomie und einer höheren Flexibilität hinsichtlich der Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Anforderungen. Damit verbunden waren häufig eine höhere Zufriedenheit und Motivation (Backhaus et al. 2019). Gleichzeitig stellt die „Unsichtbarkeit“ der Beschäftigten für den auf die betrieblichen Strukturen fokussierten Arbeits- und Gesundheitsschutz eine Herausforderung dar (Sommer 2020). Gestaltungsanforderungen an die Arbeit – seien es nun ergonomische Anforderungen wie die Ausstattung des Arbeitsplatzes oder auch die Organisation der Arbeitsprozesse und die Entgrenzung der Arbeitszeiten –, die nicht unwesentlich zur Entwicklung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz beitragen, dürfen nicht aus dem Blickfeld geraten. Der Betrieb als sozialer Ort, an dem durch die Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte auch Ressourcen zur Verfügung stehen, verliert an Bedeutung (Rothe et al. 2017). Um die Vorteile der Arbeit von zuhause mittelfristig als Beitrag zur Reduktion der Belastung für die Beschäftigten zu nutzen, bedarf es ausbalancierter Nutzungskonzepte, die das vorhandene Gestaltungswissen integrieren. Hier kommt dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, aber auch den Gestaltenden gesetzlicher Rahmenbedingungen eine zentrale Verantwortung
zu.
Während die Gestaltungsanforderungen hinsichtlich der flexiblen Nutzung von Arbeitsort und damit häufig verbunden auch der Arbeitszeit definierbar sind, kommt mit der Frage der Nutzung neuer Technologien eine Herausforderung auf den Arbeitsschutz zu, die nicht selten erst einmal eine Definition des Gegenstandsbereichs notwendig
macht.
Relativ überschaubar in Bezug auf den Gestaltungsauftrag erscheint hier der Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Die weitreichende Nutzung von IKT ist für viele Beschäftigte zum Standard geworden. Damit verbunden ist auch die Flexibilisierung der Arbeit. Anders sieht es bei neuen Arbeitsformen im Bereich der „Plattformökonomie“3 aus. Darunter verbirgt sich heute ein Feld, das bezogen auf die Positionierung des Arbeitsschutzes einen Graubereich darstellt. Während formaljuristisch eine klare Zuweisung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverpflichtungen aus europäischer Rechtsprechung vorzuliegen scheint, bilden sich diese Verantwortlichkeiten in der Realität eher nicht ab. Hier bedarf es einer zukunftsbezogenen Ausgestaltung der arbeitsschutzbezogenen Verantwortlichkeiten.
Noch unklarer werden die zukunftsbezogenen Aufgaben des Arbeits- und Gesundheitsschutzes hinsichtlich der Auswirkungen des Einzugs der Digitalisierung und der Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in den Betrieben (siehe hierzu Schwerpunktprogramm: Sicherheit und Gesundheit in der digitalen Arbeitswelt, „Weitere Infos“). Dabei steht primär der Produktionsbereich im Fokus. Und auch hier zeigt sich deutlich, dass eine differenzierte Betrachtung von Chancen und Risiken notwendig ist. Digitalisierung und der Einsatz von KI bieten die Möglichkeit der Verknüpfung und Vernetzung von Arbeitsmitteln, Produkten und Leistungen und können damit zur Optimierung von Arbeitsprozessen beitragen. KI bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Arbeit stärker an den Menschen anzupassen und damit die alte arbeitswissenschaftliche Forderung der differenziellen Gestaltung von Arbeit umzusetzen. Zudem ergibt sich in weiten Bereichen auch die Gelegenheit, durch adaptive Assistenzsysteme, Beschäftigte mit spezifischen Einschränkungen in die Arbeitsprozesse zu integrieren.
Gleichzeitig zeigen vorliegende Studien (vgl. Meyer et al. 2021), dass eine verstärkte Vernetzung nicht selten zu höheren Arbeitsbelastungen führen. Besonders häufig werden als Belastungsfaktoren die höheren Anforderungen an Softwarebedienung und Technostress sowie die Intensivierung der Arbeit genannt. Einen nicht zu vernachlässigenden Belastungsfaktor stellt in vielen Bereichen auch die Intensivierung der Arbeit bei gleichzeitiger Leistungsüberwachung und wahrgenommener Verletzung des Beschäftigtendatenschutzes dar.
Diese mögliche Gefährdung fokussiert auch der auf EU-Ebene geplante horizontale Rechtsakt (s. „Weitere Infos“). Der Ansatz dieser Regelungen basiert auf der Annahme, dass KI nahezu alle Aspekte unseres Lebens durchdringen wird und damit eine rechtssichere Ausgestaltung der differenziellen Nutzungen nötig ist. Die Arbeitswelt stellt einen Bereich dar, in dem KI entsprechend geregelt werden muss. Das betrifft zum einen die Einhaltung des Beschäftigtendatenschutzes und die Vermeidung von (Leistungs-)Kontrolle am Arbeitsplatz, zum anderen aber auch konkret den Einsatz von „Risiko-KI“. Also Anwendungen von KI in Maschinen oder auch Produkten, die zu einer direkten Gefährdung führen kann. Die sichere Nutzung von KI setzt voraus, dass vorab eine Prüfung des Risikopotenzials zum Beispiel im Kontext von Normung oder
Regelsetzung erfolgt.
Ziel des risikobasierten Ansatzes des horizontalen Rechtsakts zu KI ist die Definition der Anforderungen an KI-Systeme in Abhängigkeit ihres Risikopotenzials. Je höher das Risikopotenzial der eingesetzten KI, desto höher sind die Prüfanforderungen. Grundsätzlich gilt, dass Genauigkeit, Robustheit und Cybersicherheit gewährleistet sein müssen. Die Nutzung von KI mit hohem Risikopotezial setzt dagegen sowohl eine systematische Daten-Governance (Training, Test, Validierung) als auch ein nachvollziehbares Risikomanagement voraus.
Damit stellen sich neue Herausforderungen sowohl hinsichtlich des „vorgelagerten“ Arbeitsschutzes im Sinne der Produktsicherheit als auch bei der betrieblichen Nutzung für den betrieblichen Arbeitsschutz.
Seitens der Hersteller ergeben sich daraus Verpflichtungen hinsichtlich Risikobeurteilung sowie des gesundheitsgerechten und sicheren Designs. Auf Seiten des Betreibers/Arbeitgebers steht die Verpflichtung zur Gefährdungsbeurteilung und der Ableitung adäquater Arbeitsschutzmaßnahmen. Dabei sind auf beiden Seiten entsprechende Regelungen und Empfehlungen zur rechtssicheren Gestaltung bereitzustellen. Distribution entsprechender Kenntnisse, Umsetzung und die Verzahnung der Bereiche wird den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Zukunft vor Herausforderungen stellen.
Auch im Bereich des Einsatzes von Digitalisierung und KI liegen dementsprechend Chancen und Risiken beieinander. Wobei deutlich ist, dass sich hinter den Schlagworten vielfältige Herausforderungen für die Arbeitswissenschaften und den Arbeitsschutz verbergen. Aktuell ist offensichtlich, dass begleitende Forschung zur Technologieentwicklung und der betrieblichen Anwendung forciert werden muss. Die fachliche Fundierung hinsichtlich angemessener Gestaltungsmöglichkeit bedarf der Weiterentwicklung und darauf aufbauend auch der Umsetzung angemessener regulativer Instrumente sowie nicht zuletzt der breiten Kompetenzentwicklung der Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.
So müssen auch die Akteure des Arbeitsschutzes die Entwicklung und den Einsatz digitaler Instrumente forcieren, um damit die Anschlussfähigkeit des Arbeitsschutzes zu erhöhen. Das betrifft die angemessene Nutzung und Weiterentwicklung des Regelwerks genauso wie die Kompetenzentwicklung im Umgang mit den neuen Herausforderungen auf Seiten der Akteure. Neben der Instrumentenentwicklung geht es dabei in erheblichem Maße um die Weiterentwicklung des strategischen Handelns, um damit auch der zunehmenden Unsichtbarkeit des Arbeitsschutzes zu begegnen.
Ein Arbeitsschutz, der sich diesen Herausforderungen stellt, leistet einen substanziellen Beitrag zum nachhaltigen Ressourcenmanagement und zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit. Das daraus eine respektable Compliance im Arbeitsschutz resultieren kann, hat die Corona-Krise gezeigt. Notwendige Voraussetzungen sind zukunftssichere Arbeitsschutzstrukturen sowie die Nutzung der Kompetenzen des Arbeitsschutzes und ihre zukunftsorientierte Weiterentwicklung.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Backhaus N, Wöhrmann AM, Tisch A: BAuA Arbeitszeitbefragung in Deutschland. baua: Bericht kompakt. Dortmund: BAuA, 2019.
Rothe I, Adolph L, Beermann B et al.: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung. 1. Aufl. Dortmund: BAuA, 2017.
Meyer SC, Hartwig M, Tisch A, Wischniewski S: Veränderte Arbeitsanforderungen in der digitalisierten Arbeitswelt. Unterschiede nach Digitalisierungsgrad des Arbeitsmittels. baua: Bericht kompakt. Dortmund: BAuA, 2021, S. 3, Projektnummer: F 2490.
Statistisches Bundesamt: Mikrozensus 2021, Genesis-Datenbank Tabelle 12211-0001. 2022 (abgerufen am 25.08.2022)
Sommer S: Digitalisierung. Flexibilisierung. Arbeitsschutz. Unsichtbarkeit. Ergebnisse einer qualitativen Studie. sicher ist sicher2020; 71 (Nr. 5).
doi:10.17147/asu-1-288491
Weitere Infos
BAuA: Betriebe in der COVID-19-Krise (BeCovid-Studie), 2. Welle vom 24.8. bis 4.9.2020
https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Forschung/Forschungsprojekte/f2514.html
BAuA: Schwerpunktprogramm: Sicherheit und Gesundheit in der digitalen Arbeitswelt
https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Forschung/Schwerpunkt-Digitale-Arbeit/S…
Europäischer Rat: Gesetz über künstliche Intelligenz: Rat will sichere und die Grundrechte wahrende KI fördern
https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/12/06/arti…
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