Einführung
Gerade in Mitteleuropa, wo Wirtschaft und Industrie maßgeblich vom Mittelstand geprägt und in großem Maße international ausgerichtet sind, stellen sich immer wieder Fragen, die aus Sicht der „traditionellen“ Arbeitsmedizin eher „exotisch“ anmuten können. Die internationale Ausrichtung und die relativ hohe Zahl an Expatriates lässt die fachlichen Grenzen zwischen Arbeits-, Flug-, Reise-, Tropen- und Sportmedizin – schließlich verbringen die Mitarbeiter notgedrungen auch ihre Freizeitaktivitäten im Ausland – immer fließender werden. Zunehmend kommen weitere Fachbereiche bis hin zur Notfallmedizin hinzu. Einige dieser Fragen verlangen Spezialkenntnisse, beispielsweise in Physiologie, Infektiologie, Notfallmedizin, Innerer Medizin, Gynäkologie und vielen anderen Fachbereichen. Derartige Fragen sind zumeist nur in Zusammenarbeit zwischen Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen zufriedenstellend zu lösen.
Zukünftig werden in ASU in regelmäßiger Folge Fälle dargestellt, die beispielhaft die facettenreiche Breite der Arbeitsmedizin ins Bewusstsein rücken und zu fachübergreifender Zusammenarbeit zugunsten der betreuten Arbeitnehmer motivieren sollen. Es muss dabei betont werden, dass es sich um Einzelfalllösungen handelt, für die es eventuell auch andere Lösungen gegeben hätte. In jedem Fall haben sie jedoch funktioniert und konnten in den Betriebsablauf angemessen integriert werden.
Fall 1: Verblüffende arbeitsmedizinische Fragen bei Arbeitnehmern in extremer Kälte
Eine zunächst merkwürdig klingende Problematik tauchte in einem norddeutschen Produktionsbetrieb auf, bei dem aus produktionstechnischen Gründen die Temperatur von –45 °C auf –55 °C abgesenkt worden war. Die Fehlerrate stieg, die Produktqualität ließ nach und die Mitarbeiter – obwohl nach den Empfehlungen mit angemessener Schutzkleidung ausgestattet – klagten darüber, dass sie, seitdem die Temperaturen niedriger seien, unter Sehstörungen litten. Einige formulierten es konkreter, indem sie angaben, nicht mehr scharf zu sehen bzw. Schriftzüge nicht mehr lesen zu können. Bei Betriebsbegehungen konnte keine Ursache gefunden werden. Die Teilnehmer der Begehung konnten die Beschwerden auch nicht nachvollziehen, sie selbst konnten sehen wie gewohnt.
Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie fachübergreifend die Arbeitsmedizin sein kann: Man hatte zwar zahlreiche Arbeitsmediziner um Rat gebeten, jedoch ohne Erfolg. Womit man nicht gerechnet hatte ist, dass die Problematik in der Expeditionsmedizin sehr wohl bekannt ist: Bei derart tiefen Temperaturen können nicht nur bei hohem Atemminutenvolumen Erfrierungen der Lungen vorkommen, Spannungsrisse an Zähnen auftreten oder sogar Zähne thermisch zerspringen, wenn mit offenem Mund geatmet wird. Es können auch weitere Organsysteme unmittelbar von der Kälte betroffen sein, völlig unabhängig von Schäden wie Erfrierungen oder Unterkühlung. Im konkreten Fall handelt es sich um eine thermisch bedingte „Schrumpfung“ der oberen (äußeren) Korneaschichten. Damit kommt es zu einer Abflachung des vorderen Augenbereiches und zu einer reversiblen Weitsichtigkeit. Dadurch ist auch leicht erklärt, warum Fehler auftraten, weil die Mitarbeiter Beschriftungen nicht mehr lesen konnten.
Die einfache Lösung war das Tragen einer handelsüblichen Laborschutzbrille. Durch die recht gut abschließende Konstruktion kann sich ein wärmeres Lokalklima unmittelbar vor den Augen bilden und alle Mitarbeiter sahen nun trotz der tieferen Temperaturen wieder scharf, wenn auch um den Preis einer geringen Einschränkung des Sichtfeldes. Die Maßnahme wurde von allen Mitarbeitern gut akzeptiert und umgesetzt. Dass die Teilnehmer der Arbeitsplatzbegehung nichts verspürt haben, wundert nicht: Sie waren schlicht zu kurz in der Kälte, als dass sich nennenswerte Konsequenzen an ihrer Kornea hätten auswirken können.
Fall 2: Fieber nach Rückkehr
Eine Frau mittleren Alters lebte zunächst einige Jahre in einem Hochrisikogebiet für Dengue-Fieber. Später hielt sie sich dort nochmals beruflich auf. Etwa zwei Wochen nach ihrer Rückkehr trat eine hochfieberhafte Erkrankung auf, die klinisch als grippaler Infekt diagnostiziert wurde und länger als gewöhnlich anhielt. Erst mehrere Monate später wurden im Rahmen einer G35-Vorsorgeuntersuchung vor einer erneuten beruflich veranlassten Auslandsreise serologische Untersuchungen durchgeführt. Dabei wurde erst‑ und einmalig ein Nachweis von Dengue-IgG geführt. Es ist mithin von einem durchgemachten Dengue-Fieber auszugehen, was von besonderer Bedeutung ist, da es bei Zweitinfektionen mit einem genotypisch anderen Dengue-Virus zu schweren, lebensgefährlichen hämorrhagischen Verläufen kommen kann.
In diesem Fall spielte auch noch die Frage einer möglichen Berufskrankheit (BK) eine Rolle, die aber wegen unterbliebener serologischer Voruntersuchungen nicht einwandfrei zu klären war. Sowohl eine Dengue-AK-Nachweis-negative Rückstellprobe bzw. Testung, die vor Aufnahme beruflicher Auslandstätigkeiten durchgeführt worden wäre, als auch eine frühzeitige Testung während des akuten Infekts nach der Reiserückkehr mit Dengue-IgM-Nachweis hätten zur BK-Anerkennung geführt. Würde es dann später zu einer Zweitinfektion kommen, würden auch die möglichen besonders schweren Folgen einer Zweitinfektion als BK-Folge anerkannt werden, und zwar unabhängig davon, ob die Zweitinfektion für sich genommen eine BK darstellen würde.
Dieser Fall unterstreicht die Wichtigkeit einer serologischen Untersuchung von potenziellen Tropenkrankheiten sowie die sorgfältige, auf einer individuellen Risikoanalyse beruhenden Durchführung des G35. Dies ist nur bei umfangreichen und aktuellen reisemedizinischen Kenntnissen der durchführenden Ärzte möglich. Die Frage, ob ein Arbeitnehmer nach durchgemachtem Dengue-Fieber erneut beruflich in Dengue-Risikogebiete entsandt werden kann, wird kontrovers diskutiert. In keinem Falle rechtfertigen sich hier prinzipielle Verbote. Vielmehr sollte eine sorgfältige Risikoabwägung (Aufenthaltsdauer, Jahreszeit, Region [Stadt/Land] etc.) durchgeführt und in jedem Falle eine sorgfältige Mückenabwehr durchgeführt werden.
Schlussfolgerungen
Die vorgestellten Fälle sollen als Blitzlichter Facetten unseres Faches beleuchten, die nicht jeden Tag vorkommen. Aber sie kommen vor, und wir wissen im Alltag nicht wann! Niemand kann all diese Dinge allein beherrschen, daher der Appell an alle, über den Tellerrand zu schauen, was andere Fächer uns zuarbeiten können, und Netzwerke aufzubauen. Letzteres geht am besten völlig informell nach dem Motto „Hilfst Du mir, so helfe ich Dir!“
Für die Autoren
Prof. Dr. med. T. Küpper
Institut für Arbeits- und Sozial-medizin der RWTH Aachen
Pauwelsstr. 30 – 52074 Aachen
tkuepper@ukaachen.de