1. Den o. a. Artikel kann ich nicht unkommen-tiert lassen, insbesondere nicht das Fazit, was eine moralische Verpflichtung zur Impfung fordert.
2. Diese Aufforderung ist nicht nur rein mo-ralisch fragwürdig, sondern auch wissenschaftlich. Es gibt nun eben KEINE Evidenz, dass die Grippeimpfung von health care pro-fessionals unter den Patienten patienten-relevante Endpunkte verhindert (Cochrane review doi: 10.1002/14651858.CD005187.pub4. „The results for specific outcomes: laboratory-proven influenza or its complica-tions (lower respiratory tract infection, or hospitalisation or death due to lower respiratory tract illness) did not identify a benefit of healthcare worker vaccination on these key outcomes.“)
3. Auch in anderen Gruppen sind Vorteile der Impfung nicht belegt oder allenfalls minimal (Cochrane reviews: doi: 10.1002/14651858.CD000364.pub4 doi: 10.1002/14651858.CD004876.pub3 doi: 10.1002/14651858.CD001269.pub4).
4. Zudem ist die Impfung zwar nebenwir-kungsarm, dennoch aber nicht völlig risikolos (Cochrane review doi: 10.1002/14651858.CD004876.pub3 „Inactivated vaccines caused local harms and an estimated 1.6 additional cases of Guillain-Barré Syndrome per million vaccinations. The harms evidence base is limited.“)
5. Es erscheint lohnenswerter, sich mit Hand-hygiene zu beschäftigen (doi: 10.1111/irv.12015).
Dr. med. Martin Gerken, Bremen
Ad 1: Damit stellt man automatisch auch den traditionellen medizinische Grundsatz „nil nocere“ in Frage: sollte man der allge-meinen Auffassung folgen, dass sich die Medizin nicht auf die Reparaturmedizin beschränken darf, sondern die Vorsorgemedizin inkludieren muss, gilt dieses Grundprinzip einschließlich der moralischen Folgen selbstverständlich auch für den Bereich der Prophylaxe.
Ad 2: Alle mir zugänglichen Cochrane Re-views zu diesem Thema beklagen eine schlechte Datenlage, insbesondere wird zudem festgehalten, dass nicht Influenza, sondern ILI (Influenza like illnesses) als Grundlage der Analyse gedient haben (vergleichsweise könnte man an der Sinnhaftig-keit einer Typhus-Impfung zweifeln, weil auch Divertikulitiden zu Darmperforationen führen können). Es bedarf hier vermutlich keiner besonderen Erwähnung, dass In-fluenza-Impfungen ausschließlich gegenüber Influenza-Viren wirksam sein können (und dies mit jährlichen Unterschieden im Sinne einer field effectiveness auch nur in ca. 50 % bis maximal 70 %). Dies hat natur-gemäß auch Auswirkungen auf die Aussagekraft gepoolter Daten. Zusätzlich erscheint aber auch der Hinweis gestattet, dass ein Mangel an Benefit, abgelesen aus verwässerten Daten, nicht automatisch mit einem negativen Effekt einer gesetzten Maßnahme gleichgesetzt werden kann.
Ad 3: Rechtlich gesehen könnte im Falle eines sich in einer belegten Influenza-Erkrankung manifestierten infektiösen Hospitalismus (wie auch sonst häufig) das Prinzip der Beweislastumkehr zur Anwendung kommen, dies erschiene – abgesehen von der spezifi-schen Problematik im Einzelfall – bereits grundsätzlich durch die Dokumentation eines minimalen Vorteils zum Nachteil der medizinischen Versorgungseinheit ausge-hebelt.
Ad 4: Abgesehen von der limitierten Evidenz dieses Reviews ist es doch unseriös, die nicht nach distinkten Impfstoffen gefilterte, sondern trotz impfstoffspezifisch unter-schiedlichem Risiko gemittelte Nebenwir-kungsrate einem Alternativwert von 0 gegenüberzustellen, wo doch allgemein bekannt ist, dass impfpräventable Krankheiten (und darunter auch ansteckende Krankheiten wie die Influenza) ein signifikant höheres Risiko schwerer (und durchaus mit dem GBS ver-gleichbarer) Krankheiten haben als 1,6/1 Mio. Immerhin sind Schutzimpfungen neben aus-reichender Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser der dritte Hauptfaktor dafür, dass sich (zumindest in unseren Breiten) die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren fast verdoppelt hat. Abgesehen davon ist mir keine (andere) medizinische Intervention bekannt, die völlig risikolos wäre – und mit allem gebotenen Respekt halte ich eine derartige Forderung auch für völlig realitätsfremd.
Ad 5: So sehr der Stellenwert der Hände-hygiene zur Vorbeugung der Influenza unbestritten ist (50 % der Infektionen erfolgen über Händekontakt), so sehr irritiert mich die durch die Formulierung ableitbare Position von Dr. Gerken, die Händehygiene als Alternative zur Impfung darstellen zu wollen. Abschließend sei mir als Autor gestattet darauf hinzuweisen, dass ich niemals die Impfung als Monostrategie zur Verhinderung des komplexen und hochinfektiösen Geschehens der so problematischen Krankheit „Influenza“ dargestellt habe, wohl aber die vorbeugende Impfung für einen unverzichtbaren Teil des Gesamtvorbeugungskonzeptes halte.
Prof. Dr. med. Martin Haditsch, Hannover und Leonding