Stellungnahme zum Buch von Florian Steger und Carolin Wiethoff, Mitteldeutscher Verlag 2018.
Anschreiben
Sehr geehrter Kollege Panter,
beiliegend übersende ich Ihnen eine Stellungnahme mit der Bitte, diese in unserer Verbandszeitschrift zu veröffentlichen. Als Präsident unseres VDBW haben Sie sich auch sehr für die Analyse der Vergangenheit engagiert, um für die Zukunft positive Effekte zu erzeugen. Dies ist mit der Arbeit von Prof. Steger und Co. leider nicht gelungen.
Die Autoren unterlagen dem Kardinalfehler der DDR-Aufarbeitung: Einengung der Analysen auf „Staatssicherheit und Unrechtsstaat“; die „Besserwessis“ haben kaum Ahnung vom Leben in der DDR, aber wollen dauernd erklären, wie man gelebt, gelernt und gearbeitet haben soll.
Falls Sie sich eine faktenreiche, authentische Übersicht über die „Arbeitsmedizin im Osten Deutschlands (1945–1990)“ verschaffen möchten, empfehle ich Ihnen die von J.Kupfer, E.-P.Kühn und mir verfasste, gleichnamig Veröffentlichung in Med.Ges. 1999; 5:1–117 (Heft 21), ISSN 1430-6964.1
Ich bin mir sicher, dass Sie die Souveränität haben, auch gegenüber den Auftraggebern nonkonforme Positionen unzensiert zur Veröffentlichung freizugeben.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen Herbert Kreibich, Eichwalde
Stellungnahme
Dieses Buch erschien als Sonderband einer Studienreihe der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom Autor, der im Wissenschaftlichen Beirat der zentralen „Gauck“-Behörde (= BStU) agiert, gefördert durch die Stiftung Arbeitsmedizin und Prävention des VDBW.
Bereits auf dem 32. Betriebsärztekongress in Dresden 2016 gab es den Start für diese Arbeit mit dem vom Präsidenten Panter vorgegebenen Ziel „Aus der Vergangenheit für die Zukunft“. Der Inhalt wird dem Titel des Buches nicht gerecht. Es erfolgen keine systematischen Darlegungen zu den Aufgabenstellungen, zum rechtlichen Rahmen, zur Mitarbeiter-Struktur, zur Arbeitsweise, zu den Ergebnissen der arbeitshygienischen Prävention, der arbeitsmedizinischen Sekundär-Prävention, der Berufskrankheiten-Entwicklung, zur Mitwirkung und Teilhabe von Betriebsärzten und Arbeitsmedizinern des Bezirkes Magdeburg in der Forschung (die Arbeitsmedizin war einer von vier Forschungsschwerpunkten der DDR-Medizin neben Onkologie, Herz/Kreislauf und Stoffwechsel) sowie in der Lehre (Ausbildung Studenten, Spezialisierung Fachärzte, Fortbildung), aber auch keine Übersichten zu den Problemen, Widersprüchen, Defiziten und Fehlern; Vorzüge wurden nicht eruiert.
Sehr akribisch wurden von jungen Wissenschaftlern, die das für sie ferne, fremde Betriebsgesundheitswesen nicht kennenlernten, vor allem Polizei-, Geheimdienst- und vertrauliche Verwaltungsakten analysiert mit dem dann zu erwartenden Ergebnis. Diese Archivquellen belegen die „dunklen“, negativen Seiten des Geschehens, aber nicht das Typische, das Wesentliche, die Realitäten insgesamt.
1986 gab der Präsident der Internationalen Vereinigung für Arbeitssoziologie, der US-Amerikaner R.H. Elling, nach umfangreicher Recherche folgendes Fazit ab: „In der Sphäre der Verbindung von Arbeits- und Gesundheitsschutz und der primären Gesundheitsfürsorge steht – wenn auch noch viele Probleme vorhanden sind – die DDR an vorderster Stelle unter den untersuchten Ländern (Bundesrepublik Deutschland, DDR, Finnland, Großbritannien, Schweden, USA).“
Der jahrzehntelang amtierende Gesundheitsminister der DDR, L. Mecklinger, ein habilitierter Arbeitsmediziner, schrieb 1998: „Die Ergebnisse im Gesundheitsschutz der Werktägigen vermitteln geradezu typisch eine für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte wichtige Erkenntnis: … den offenkundigen Widerspruch zwischen Zielstellung, Aufgabenstellung, auch Willensvorstellung und dem tatsächlich Erreichten – durch die nur begrenzt vorhandenen ökonomischen Möglichkeiten der DDR.“
Im Text des Buches und im Vorwort des VDBW-Präsidenten ist die Rede vom Unterschied in der Abhängigkeit des Betriebsarztes der DDR vom Staat und seiner Unabhängigkeit in der Bundesrepublik. Als Arbeits- und Allgemeinmediziner, der seit 51 Jahren bis in die Gegenwart als Betriebsarzt tätig ist, davon 23 Jahre in der DDR, möchte ich diesbezüglich Fakten in Erinnerung bringen. In der DDR war ich Angestellter des Staates, der zugleich Eigentümer der meisten Betriebe war, erhielt mein Gehalt und Gutachten-, Obergutachten- und Rechtsgutachten-Honorare vom Staat, war anhängig von den staatlichen und gewerkschaftlichen Kontroll-Inspektionen zur Einhaltung der staatlichen Rechtsvorschriften. Als Betriebsarzt der Bundesrepublik werde ich von der Firma als Arbeitsnehmer bezahlt oder unter Vertrag genommen, bin verpflichtet die Rechtsvorschriften des Staates und der Unfallkassen einzuhalten, werde mit den Unternehmen von den staatlichen und BG-Inspektionen kontrolliert, die Vergabe (oder Nichtvergabe) und Honorierung von Gutachten erfolgt durch Unfall-, Renten- und Krankenkassen oder staatliche Gerichte.
Zurecht wird im Buch die Mitwirkung der Betriebsärzte in den Ärzteberatungskommissionen (ÄBK) zur Senkung des Krankenstandes kritisiert. Mir ist kein Betriebsarzt bekannt, der diese Tätigkeit freiwillig und gern machte, nur auf Anweisung. Andererseits wäre hierzu auch aktuell Handlungsbedarf: Mitwirkung der Betriebsärzte im Betrieblichen Eingliederungs-Management (BEM)?, MDK-Ärzte beenden Arbeits-Unfähigkeits-Zeit nach Aufforderung der Unternehmen?
Die DDR-Fachärzte für Arbeitsmedizin (in den 80er Jahren ca. 1000) und die ca. 1200 Diplom-Ingenieure, Dipl.-Physiker, Dipl.-Chemiker, Dipl.-Psychologen für Arbeitshygiene (auch 5-jährige Spezialisierung wie Fachärzte) waren in der Gewerbe-Aufsicht, in wissenschaftlichen Instituten und im Betriebsgesundheitswesen präventiv tätig. Die meisten der 3000 Betriebsärzte waren Allgemeinmediziner, Internisten, Chirurgen, Gynäkologen, HNO- und Augenärzte, Dermatologen u.a. mit zweijähriger Betriebsmedizin-Qualifikation. Sie waren in ihrem jeweiligen Fachgebiet auch anteilig an der medizinischen Versorgung der Beschäftigten, ihrer Familien und der Anwohner beteiligt. Das wurde ausnahmslos von Ärzten, Mitarbeitern der Betriebe und Patienten – im Unterschied zu den Autoren des Buches und auch zum VDBW-Präsidenten – als sehr positiv bewertet, zumal generell die präventiven Aufgaben nicht vernachlässigt wurden. Die im Buch wiederholte, gegenteilige Aussage trifft nicht zu. Die ca. 7,5 Mio. Beschäftigten der DDR wurden von den o.g. Ärzten und Fachwissenschaftlern hauptberuflich medizinisch, arbeitsmedizinisch und arbeitshygienisch betreut. Hinzu kamen in landwirtschaftlich geprägten Regionen kommunal tätige Ärzte, die bestimmte arbeitsmedizinische Aufgaben (wie Reihenuntersuchung) übernahmen. Die Mitwirkung der Betriebsärzte bei der medizinischen Betreuung erhöhte ihr Ansehen, auch unter den ärztlichen Kollegen, ungemein; ein Nachwuchsproblem bestand u.a. auch deshalb nicht.
Im Vorwort wird festgestellt, dass „die ärztliche Schweigepflicht für Betriebs-, und Werksärzte von existentieller Bedeutung ist.“ Das galt auch in der DDR, die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht war kriminell und an- sowie einklagbar.
Nicht nachvollziehbar ist für den Rezensenten, dass zum Thema dieses Buches auch SS-Verbrechen an jüdischen Kindern oder Verhältnisse am Altstadt-Krankenhaus oder anderen Krankenhäusern abgehandelt werden sowie in epischer Breite die völlig sachfremden Abschnitte 3.1.2, 3.1.3, 3.2.2.2 und 3.3.2.
Fazit: Bezogen auf das Ausgangsziel „Aus der Vergangenheit für die Zukunft“ sollte bei fortzusetzender historischer Aufarbeitung das für die Zukunft Produktive (das Feuer, nicht die Asche) herausgearbeitet werden. Wenn diese Stellungnahme den üblichen Rahmen sprengt, so ist dies in der guten Absicht geschehen, in Ergänzung zu den dürftigen Aussagen dieses Buches das Gesamtbild „Betriebsgesundheitswesen/Arbeitsmedizin in Magdeburg/DDR“ in die Mitte zwischen „gut und böse“ zu rücken.
Prof. Dr. sc. med. Herbert Kreibich
Facharzt für Allgemeinmedizin und für Arbeitsmedizin