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Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe

Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe

Nichtgenotoxische Kanzerogene besitzen eine Wirkschwelle, die Ableitung gesundheitsbasierter Luftgrenzwerte ist daher grundsätzlich möglich. Genotoxische Stoffe besitzen im Gegensatz hierzu, von Ausnahmen abgesehen, keine Wirkschwelle; gesundheitsbasierte Luftgrenzwerte sind daher nicht ableitbar. Zur Bewertung der inhalativen Arbeitsplatzexposition werden gleich-wohl Beurteilungsmaßstäbe benötigt. Die technischen Richtkonzentrationen (TRK-Werte) wurden 2005 wegen Missinterpretationen außer Kraft gesetzt, im Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) wurde als Konsequenz ein risikobezogenes Beurteilungskonzept ausgearbeitet.

Eckpunkte dieses Risikokonzepts war die Festlegung von zwei Risikogrenzen, die in einem gesellschaftspolitischen Diskurs festgelegt wurden. Arbeitsplatzkonzentrationen oberhalb der so genannten Toleranzkonzentration galten fortan als nicht mehr tolerierbar; das Arbeitsplatzrisiko, an Krebs zu erkranken, wird als zu hoch bewertet. Das Risiko, unterhalb der so genannten Akzeptanzkonzentration an Krebs zu erkranken, wird im Gegensatz hierzu im Vergleich mit anderen Arbeitsplatzrisiken und mit anderen Risiken des alltäglichen Lebens so niedrig bewertet, dass keine zusätzliche Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Zwischen Akzeptanz- und Toleranzkonzentration sind mit abnehmendem Abstand zur oberen Risikoschwelle verstärkt zusätzliche Maßnahmen gefordert. Die unterschied-lichen technischen, organisatorischen, administrativen und persönlichen Schutzmaßnahmen sind wesentliche Elemente des gestuften Maßnahmen-plans.

Die Festlegung der Risikogrenzen erfolgte nach Auswertung unterschied-licher Arbeitsplatzrisiken der gewerblichen Wirtschaft sowie vergleichbarer Krebsrisiken in der Allgemeinbevölkerung.

Seit Verabschiedung des neuen Risikokonzepts, mittlerweile auch als Ampelmodell bekannt, wurden für ca. 20 Stoffe Expositions-Risiko-Beziehun-gen (ERB) abgeleitet und mit deren Hilfe bereits für 14 Stoffe bzw. Stoffgruppen Toleranz- und Akzeptanzkonzentration festgelegt und in der TRGS 910 veröffentlicht. Nach einer sechsjährigen Erprobung dieses Konzepts im Rahmen der Bekanntmachung Gefahrstoffe (BekGS) wurde es im April d. J. als technische Regel für Gefahrstoffe (TRGS 910) „Risikobezogenes Maßnahmen-konzept für Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen“ veröffentlicht, womit die neuen Beurteilungsmaßstäbe eine neue rechtliche Relevanz erhalten haben.

Schlüsselwörter: Risikokonzept – Kanzerogene –Arbeitsplatzrisiko – Gefahrstoffe – Expositions-Risiko-Berziehungen

Risk concepts for carcinogenic substances

Non-genotoxic carcinogens have an effective threshold, so that the derivation of health-based air limit values is therefore fundamentally possible. Genotoxic substances on the other hand, apart from some exceptions, have no effective threshold, so that health-based air limit values cannot be derived. Assessment standards are therefore required for the evaluation of the inhalative workplace exposure. The technical guideline concentrations (TRK-values) were rescinded in 2005 because of misinterpretations, and in consequence the Committee for Hazardous Substances (AGS) developed a risk-related evaluation concept.

The key points of this risk concept were the establishment of two risk limits, that were defined in a socio-political discourse. Workplace concentrations above the so-called tolerance concentration were regarded as no longer tolerable; the workplace risk of falling ill due to cancer is assessed as too high. The risk of falling ill due to cancer below the so-called acceptance concentration is evaluated so low in comparison to other workplace risks and other risks of daily life that no additional protective measures have to be taken. Between the acceptance and tolerance concentration, and with increasing proximity to the upper risk threshold, additional measures are increasingly required. The different technical, organisational, administrative and personal protective measures are essential elements of the tiered action plan.

The establishment of the risk limits took place following the evaluation of different workplace risks in trade and industry, as well as comparable cancer risks among the general population.

Since the adoption of the new risk concept, in the meantime also known as the traffic light model, exposure-risk relationships (ERB) have been derived for some 20 substances, and with their help, tolerance and acceptance concentrations for 14 substances or substance groups have been established and published in TRGS 910. After a six-year testing of this concept in the context of the notification of hazardous substances (BekGS), it was published in April of this year as a technical rule for hazardous substances (TRGS 910), the “Risk-related concept of measures for activities involving hazardous, carcinogenic substances”, by which the new assessment standards were imbued with new legal relevance.

Keywords: risk concepts – carcinogens – workplace risk – hazardous substances – esposure-risk relationships

H.F. Bender

(eingegangen am 11. 06. 2013, angenommen am 08. 10. 2013)

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2014; 49: 436–445

Ausgangspunkt

Ziel des Arbeitsschutzes ist, Mitarbeiter vor gesundheitlichen Schäden zu schützen. Die allgemeinen Anforderungen sind im Arbeitsschutzgesetz geregelt, die spezifischen Gefährdungen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen in der Gefahrstoffverordnung.

Die Gefährdungen am Arbeitsplatz sind nach § 6 Gefahrstoffverordnung fachkundig zu ermitteln und zu beurteilen. Als Beurtei-lungsmaßstäbe sind hierfür primär die in der TRGS 900 veröffentlichten Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) heranzuziehen. Gemäß der Definition der AGW kann bei Einhaltung davon ausgegangen werden, dass bei täglich achtstündiger Exposition, fünf Tage pro Woche über das ganze Arbeitsleben die Gesundheit der Beschäftigten im Allgemeinen nicht beeinträchtigt wird. Als gesundheitsbasierte Grenzwerte können AGW nur für Stoffe aufgestellt wer-den, die eine toxikologisch oder epidemiologisch ermittelte Wirkschwelle besitzen. Mit Ausnahme der genotoxischen Eigenschaft wird bei allen anderen von der Existenz einer Wirkschwelle ausge-gangen, einschließlich der reprotoxischen oder sensibilisierenden Wirkung.

Bis 2005 wurden für krebserzeugende Stoffe technisch begrün-dete TRK-Werte (Technische Richtkonzentration) vom damals zuständigen Unterausschuss (UA) V des AGS festgelegt. Das Risiko, beim TRK-Wert an einem Tumor zu erkranken, wurde – von Ausnahmen abgesehen – nicht abgeleitet und war daher in der Regel nicht bekannt. Lagen Daten zu einer chronischen, nicht krebserzeugenden Wirkung vor, wurden diese bei der Grenzwertableitung berücksichtigt. Aufgrund der begrenzten personellen Ressourcen erfolgte keine Überprüfung der TRK-Werte und Anpassung an den fortschreitenden Stand der Technik. Erste Abschätzungen der Wahrscheinlichkeit, beim TRK-Wert an Krebs zu erkranken, wurden nach dem so genannten Steinhoff-Modell berechnet. Hierbei wurde von der niedrigsten tierexperimentell ermittelten Dosis linear zum Nullpunkt extrapoliert (Dr. Steinhoff, Bayer AG, bis in die 90er Jahre Vorsitzender des Beraterkreises Toxikologie des AGS).

In der betrieblichen Praxis wurden die TRK-Werte häufiger als gleichwertig mit den AGWs betrachtet; das beim TRK-Wert noch vorhandene Krebsrisiko wurde ignoriert. Die nach der Gefahrstoffverordnung vorgeschriebene permanente Anpassung an den sich weiterentwickelnden Stand der Technik bei krebserzeugenden und erbgutverändernden Stoffen wurde erfahrungsgemäß nicht im erforderlichen Umfang von allen Betrieben befolgt. Gleichwohl ist die häufiger artikulierte Behauptung, dass keine Minimierung der Exposition stattgefunden hat, durch vorliegende Expositionsdaten eindeutig widerlegt. Eine Überprüfung der Expositionen in zuständigen VCI-Arbeitskreis 2008 hat ergeben, dass bei vielen Stoffen die ausgesetzten TRK-Werte um mehr als eine Zehnerpotenz unterschritten werden.

Mit dem Aussetzen der TRK-Werte in 2005 wurde ein neues Kapitel im Arbeitsschutz bei krebserzeugenden Stoffen in Deutschland aufgeschlagen. Bei der Ableitung der Grenzwerte stehen jetzt die gesundheitlichen Risiken im Vordergrund. Als Ziel wurde im AGS festgelegt, dass sich das gesundheitliche Risiko bei Arbeiten mit Kanzerogenen im Vergleich zu Stoffen ohne krebserzeugendes bzw. erbgutveränderndes Potenzial nicht grundlegend unterscheiden soll; ein vergleichbares Schutzniveau ist anzustreben. Konsequenterweise wurde ein Konzept zur Berechnung des zusätzlichen Tumorrisikos in Abhängigkeit der aufgenommenen Dosis benötigt. Mit dieser Aufgabe wurde ein eigener Arbeitskreis im Unterausschuss III „Stoffbewertung“ beauftragt. Da zur Berechnung der Gesundheitsrisiken eine quantitative Konzentration-Risiko-Beziehung benötigt wird, wurde das Benchmark-Konzept ausgewählt. Im Weiteren wird nicht auf die Details dieses Konzepts eingegangen, in zahlreichen Publikationen wurde es bereits ausführlich diskutiert. Die grundsätzlichen Probleme aller auf Tierversuchen basierenden Berechnungsverfahren werden an späterer Stelle aufgegriffen.

Risiken des täglichen Lebens und bei der Arbeit

Ausgangspunkt der Überlegungen der Projektgruppe „Risikokonzept“ des AGS war der Bericht des Länderarbeitskreises Immissionsschutz von 1992, überarbeitet 2004. Für die sieben wichtigsten Umweltkanzerogene

  • Arsen
  • Asbest
  • Benzol
  • Cadmium und Cadmiumverbindungen
  • Dieselrußpartikel
  • PAK (Benzo[a]pyren)
  • 2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-p-dioxin (TCDD)

wurde bei einer 70-jährigen Exposition bei den in Städten anzu-treffenden Konzentrationen ein zusätzliches Krebsrisiko von 1 pro 1000 berechnet, gegenüber 1 pro 5000 im ländlichen Raum. Da die Angleichung der zusätzlichen Krebsrisiken der städtischen an die Landbevölkerung nicht direkt als realisierbar angesehen wurde, sollte als Zwischenschritt durch expositionsmindernde Maßnahmen eine Zusatzrisiko von 1 zu 2500 angestrebt werden. Diesem Krebsrisiko sind grundsätzlich alle Menschen durch die vorhandenen Umweltbedingungen in Deutschland ausgesetzt, unabhängig von einer beruflichen Tätigkeit.

Umweltrisiko durch Umweltkarzinogene: 1 zu 5000 bis 1 zu 1000 (70 Jahre)

Gemäß einem Bericht des Bundesministeriums für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit (BMU 2008) beträgt die mittlere effektive Jahresdosis der Bevölkerung in Deutschland 2,1 mSv, die sich wie folgt zusammen setzt:

  • 1,1 mSv durch Inhalation von Radon und seinen Zerfallsprodukten
  • 0,3 mSv durch Nahrung
  • 0,4 mSv durch direkte terrestrische Strahlung
  • 0,3 mSv durch direkte kosmische Strahlung

In einigen europäischen Ländern werden deutliche höhere mittlere Strahlenbelastungen mit bis zu 10 mSv erreicht.

Gemäß Mitteilung der internationalen Strahlenschutzkommission (IRCP, Bundesamt für Strahlenschutz 2009) wird bei einer Strahlendosis von 1 mSv von 100 000 Menschen bei 5 ein strahlungs-induzierter Krebs ausgelöst – das zusätzliche Krebsrisiko durch die natürliche Strahlendosis beträgt somit 1 zu 10 000.

Natürliches Strahlenrisiko: 1 zu 10 000

Neben der natürlichen bzw. der beruflich verursachten radioaktiven Strahlenbelastung sind wir zusätzlich aus diagnostischen Gründen einer Röntgenstrahlung ausgesetzt. Das zusätzliche Krebsrisiko bei einer einmaligen Röntgenuntersuchung in Abhängigkeit der Untersuchungsart kann  Tabelle 1 entnommen werden. Gemäß Bericht des Umweltministeriums beträgt die mittlere effektive Dosis durch Röntgen- und CT-Untersuchungen in Deutschland 2008 ca. 1,8 mSv (BMU 2008). Somit entspricht das mittlere Krebsrisiko der Bundesbürger durch Röntgenuntersuchungen in etwa dem natürlichen Strahlenrisiko. Tabelle 1 gibt die Strahlendosis unterschiedlicher diagnostischer Röntgenuntersuchungen an, in  Tabelle 2 sind die zusätzlichen Krebsrisiken aufgelistet (IRCP, Bundesamt für Strahlenschutz 2009).

Geht man davon aus, dass bei jedem Bundesbürger im Laufe seines Lebens mindestens einmal eine Röntgenuntersuchung des Thorax (Lunge) durchgeführt wird, errechnen sich dadurch 8000 zusätzliche Tumore über 70 Jahre bzw. ca. 100 pro Jahr. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Berechnung dieses Exzessrisikos nach den gleichen Grundlagen wie für die beruflich oder natürlich bedingte Strahlenbelastung erfolgte. Aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Annahmen kann das tatsächliche Risiko hiervon abweichen, die Relation der unterschiedlichen Risiken untereinander jedoch nicht.

Die Strahlenschutzverordnung begrenzt für beruflich gegenüber radioaktiver Strahlung exponierte Beschäftigte die maximal zulässigen Strahlendosen. Die maximal jährlich zulässige Strahlendosis wurde auf 20 mSv festgelegt, die Lebensarbeitsdosis zusätzlich auf 400 mSv begrenzt. Hieraus errechnet sich ein zusätzliches Krebsrisiko auf Basis der Angaben der internationalen Strahlenschutzkommission, basierend auf den gleichen Grundlagen wie für die natürliche Strahlung, von 2 zu 100 Beschäftigten.

Risiko durch berufliche Strahlenexposition vom 400 mSv: 2 zu 100 (45 Jahre)

Gemäß Trinkwasserverordnung sind 10 µg Arsenoxid pro Liter Trinkwasser zulässig; eine Konzentration, die in mehreren Kommunen nur mit hohem Aufwand aufgrund des natürlichen Vorkommens von Arsenoxid einhaltbar ist. Unter der Annahme eines lebenslänglichen Trinkwasserkonsums von täglich zwei Liter errechnet sich hierdurch nach dem Leitfaden zur Ableitung der Exposition-Risiko-Zahlen nach TRGS 910 ein zusätzliches Krebsrisiko von 5 zu 10 000.

Zusätzliches Krebsrisiko durch Arsen im Trinkwasser: 5 zu 10 000 (70 Jahre).

Als weitere Grundlage für die gesellschaftspolitisch festzulegenden Risikozahlen wurden die Unfallrisiken der gewerblichen Wirtschaft betrachtet. In  Tabelle 3 sind die meldepflichtigen Unfallzahlen der unterschiedlichen Wirtschaftsbereiche aufgeführt.

Die Anzahl der meldepflichtigen Unfälle sagt nichts über deren Schwere aus; neben Unfällen mit reversiblen Verletzungen sind auch schwerwiegende Verletzungen mit bleibenden Körperschäden als auch die tödlichen Arbeitsunfälle enthalten.  Tabelle 4 listet die tödlichen Arbeitsunfälle von 2009 bis 2011 auf.

Berechnet man das Risiko eines Beschäftigten, einen tödlichen Arbeitsunfall während des Arbeitslebens von 45 Jahren zu erleiden, resultieren die in  Tabelle 5 aufgeführten Todesfallrisiken.

Bei einer detaillierten Betrachtung der tödlichen Arbeitsunfälle nach den jeweiligen Branchen ist ein deutlich differenziertes Bild erkennbar ( Tabelle 6). Im Vergleich zur sichersten Branche in Deutschland ist das arbeitsbedingte Todesfallrisiko im Transport und Verkehrswirtschaft um den Faktor 28 höher.

Legt man als mittlere Arbeitszeit 45 Jahre zugrunde, resultieren hieraus folgende arbeitsbedingte Todesfallrisiken in 2011 in der Bundesrepublik Deutschland:

Risiko eines tödlichen Arbeitsunfalls, Basisjahr 2011: 8 bis 320 zu 10 000 (45 Jahren)

Analog der Arbeitsunfälle nimmt auch die Anzahl tödlicher Wege-unfälle von und zum Arbeitsplatz seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kontinuierlich ab und erreichte in 2010 mit 373 Toten einen historischen Tiefpunkt ( Tabelle 7). Das Risiko, innerhalb eines Arbeitslebens von 45 Jahren einen tödlichen Wegeunfall zu erleiden, war etwa halb so hoch wie das eines tödlichen Arbeitsunfalls in der sichersten Branche, der Gesundheit und Wohlfahrtspflege. Berücksichtigt man jedoch, dass die durchschnittliche Fahrtzeit zur Arbeitsstätte nur ca. eine Stunde pro Tag beträgt, so ist das Risiko im Vergleich mit der Arbeitszeit signifikant höher und mit dem Todesfallrisiko eines öffentlich Beschäftigten vergleichbar.

Festlegung der Risikozahlen

Zur Festlegung der Risikozahlen wurde im AGS eine Projektgruppe unter Leitung des Autors installiert, die zwei Risikoschwellen festlegen sollte, von der Projektgruppe als Toleranz- und Akzeptanzrisiko bezeichnet:

  • Toleranzrisiko: Die Wahrscheinlichkeit bei Expositionen oberhalb der Toleranzschwelle an einem Tumor zu erkranken wird als zu hoch bewertet, diese Risiken gelten als nicht mehr tolerierbar, hinnehmbar.
  • Akzeptanzrisiko: Die Wahrscheinlichkeit bei Expositionen unterhalb der Akzeptanzschwelle an einem Tumor zu erkranken wird als so niedrig bewertet, dass keine zusätzlichen Maßnahmen zur weiteren Reduzierung staatlicherseits gefordert werden müssen, diese Risiken gelten als akzeptierbar.

Da für nichtgenotoxische Kanzerogene grundsätzlich eine Wirkschwelle existiert, unterhalb derer kein bzw. kein relevantes Krebsrisiko befürchtet werden muss, werden Toleranz- und Akzeptanzrisiko nur für genotoxische Kanzerogene abgeleitet.

Gemäß Definition der Senatskommission zur Prüfung gesund-heitlicher Arbeitsstoffe (DFG 2013), kurz MAK-Kommission, besteht bei Stoffen der Kategorie 4 bei Einhaltung des MAK-Werts kein Risiko einer zusätzlichen krebserzeugenden Gesundheitsgefährdung. Die Zuordnung zu Kategorie 4, desgleichen bei Kategorie 5, erfolgt grundsätzlich unabhängig von der Einstufung nach CLP-Verordnung 1272/2008 in die Kategorien 1A, 1B oder 2. Da die Einstufung nach CLP-Verordnung sowohl in Kategorie 1A (nachgewiesene Humankanzerogene) als auch in Kategorie 1B (Kanzerogene, deren krebserzeugendes Potenzial bisher nur in Tierversuchen eindeutig nachgewiesen wurde) oder Kategorie 2 (Stoffe, die in Verdacht stehen, ein krebserzeugendes Potenzial zu besitzen) unabhängig des vorherrschenden krebserzeugenden Wirkpotenzials erfolgt, können der Kategorie 4 grundsätzlich Stoffe aller EG-Kategorien zugeordnet werden.

In der 52. Mitteilung (DFG) 2013 sind u. a. folgende Stoffe in Kategorie 4 eingeordnet:

  • Dioxan,
  • Hexachlorbenzol,
  • Lindan (-Hexachlorcyclohexan),
  • Polyacrylsäure, vernetzt,
  • Schwefelsäure,
  • 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin,
  • Tetrachlormethan,
  • Trin-n-butylphosphat und
  • Trichlormethan (Chloroform).

Gemäß Definition der MAK-Kommission besitzen auch einige genotoxische Kanzerogene eine Schwelle, unterhalb derer das verbleibende krebserzeugende Risiko keinen relevanten Beitrag zur Gesundheitsgefährdung mehr beiträgt. Diese Stoffe werden der Kategorie 5 zugeordnet:

  • Ethanol,
  • Acetaldehyd,
  • Styrol und
  • Isopren (2-Methylbutadien).

Da für Stoffe mit MAK- oder AGW-Wert nach TRGS 900 (BAuA 2013) bei Einhaltung im Allgemeinen keine Gesundheitsgefährdung befürchtet werden muss, besteht keine Notwendigkeit, für diese Kanzerogene risikobezogene Bewertungsschwellen abzuleiten. Diese werden ausschließlich für genotoxische krebserzeugende Stoffe festgelegt, für die keine gesundheitlich unbedenkliche Konzentration festgelegt werden können.

Die Festlegung der beiden „Grenzrisiken“ ist eine gesellschaftspolitische Festlegung, basierend auf den neuesten wissenschaftlichen Grundlagen der Kanzerogenese. Zusätzlich ist ein Interessenausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Beschäftigten auf unversehrte Gesundheit und den Kosten zusätzlicher Schutzmaßnahmen, betrachtet im Kontext einer von Konkurrenz geprägten Wirtschaftssituation, notwendig.

In einem intensiven wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs wur-den in der Projektgruppe folgende Risikoschwellen festgelegt, bezogen auf eine 40-jährige kontinuierliche Exposition:

  • Toleranzrisiko: 4 zu 1000
  • Akzeptanzrisiko: 4 zu 10 000
  • 4 zu 100 000 spätestens ab 2018

Als Zielwert für das Akzeptanzrisiko wurde 4 zu 100 000 festgelegt. Da dieser zurzeit für die überwiegenden Stoffe nicht mit vertretbarem technischem und wirtschaftlichem Aufwand erreichbar ist, wurde ein Zwischenschritt mit einem Akzeptanzrisiko von 4 zu 10 000 eingelegt. Das Risiko 4 zu 100 000 entspricht dem gleichen Risiko wie etwa 1 zu 1 Million für die Allgemeinbevölkerung unter der Annahme der gleichen Gesamtdosis unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Expositionsdauern und exponierten Gruppen.  Tabelle 8 zeigt die unterschiedlichen Expositionsparameter auf.

Die Ableitung der Toleranz- und Akzeptanzkonzentration erfolgt mittels Expositions-Risiko-Beziehungen (ERB) nach dem „Leitfaden zur Quantifizierung von Krebsrisikozahlen bei Exposition gegenüber krebserzeugenden Substanzen für die Grenzwertsetzung am Arbeitsplatz“. Details zur Berechnung der Risikozahlen können dem vorgenannten Leitfaden entnommen werden. Stehen tierexperimentelle Untersuchungen mit mehreren Dosierungen zur Verfügung, ist die Anwendung des Benchmark-Verfahrens zur Berechnung der Risikokonzentrationen empfohlen. Ausgehend von der Benchmarkkonzentration mit 10 % Tumorinzidenz BMD10 wird mittels der Benchmark-Methodik die Konzentration mit einer Tumorinzidenz von 0,1 % berechnet. Zur Berechnung der weiteren Risikokonzentrationen wird von dieser Benchmark-Konzentration linear zum Nullpunkt extrapoliert. Die häufig im Bereich niedriger Konzentrationen feststellbare Sublinearität wird im Sinne eines konservativen Ansatzes durch einen linearen Ansatz ersetzt.

Liegen keine Studien mit mehreren Dosisgruppen vor, wird, ausgehend von der im Tierverssuch abgeleiteten Konzentration, mit 25 % Tumorinzidenz T25 linear zum Nullpunkt extrapoliert.

Die Berechnung der Toleranzkonzentration und insbesondere der Akzeptanzkonzentration folgt somit einem konservativen Ansatz und darf nicht mit den realen Wahrscheinlichkeiten, bei den jeweiligen Konzentrationen an Krebs zu erkranken, gleichgesetzt werden. Viele biologische Mechanismen und Prozesse, die von der Bildung einer entarten Zelle bis zum makroskopisch erkennbarem Tumor durchlaufen werden, können mit diesem einfachen Modell nicht abgebildet werden. Bei vergleichbarer Datenlage erlaubt die Methodik einen Vergleich der Gesundheitsrisiken unterschiedlicher Stoffe. Das Konzept eignet sich daher insbesondere im Rahmen administrativer Maßnahmen zur Identifizierung der größten Gesundheitsrisiken zur Festlegung effizienter Schutzmaßnahmen.

Abbildung1 zeigt die Expositions-Risiko-Beziehungen von zwei Stoffen, Stoff X mit linearer Funktion, Stoff Y mit so genannter Knickfunktion.

Das Akzeptanz- und das Toleranzrisiko teilen die möglichen Expositionen in drei Risikobereiche ein: oberhalb des Toleranzrisikos liegt der Bereich des hohen Risikos, unterhalb des Akzeptanzrisikos der Bereich des niedrigen Risikos und dazwischen der mittlere Risikobereich ( Abb.2).

Maßnahmenkonzept

Durch die farbliche Zuordnung gemäß dem Ampelmodell wird einfach erkennbar, in welchem Risikobereich sich die konkrete Expositionssituation befindet. Den jeweiligen Risikobereichen sind konkrete Maßnahmen zugeordnet:

Im „Rotbereich“, oberhalb der Toleranzkonzentration, sollen Arbeitnehmer nicht exponiert werden.

Im gelben Bereich sind weitere Schutzmaßnahmen notwendig, deren Stringenz mit dem Abstand zur Akzeptanzkonzentration steigt.

Im grünen Bereich reichen die Grundmaßnahmen nach dem Maßnahmenkatalog aus, zusätzliche technische Maßnahmen sind nicht notwendig.

Dieser Maßnahmenkatalog ist integraler Bestandteil des umfassenden Schutzmaßnahmenkonzepts für krebserzeugende Stoffe nach der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 910.  Abbildung3 verdeutlicht, dass mit zunehmender Konzentration ober-halb der Akzeptanzkonzentration die Not-wendigkeit zur Durchführung zusätzlicher Schutzmaßnahmen kontinuierlich zunimmt, umgekehrt nimmt das Gewicht sozioökonomischer Faktoren entsprechend ab.

Das neue Schutzmaßnahmenkonzept krebserzeugender Stoffe wurde 2009 als Be-kanntmachung 910 vom BMAS veröffentlicht und sollte in der Praxis vor der Implementation in die Gefahrstoffverordnung auf Praxistauglichkeit geprüft werden. Hierzu wurde im Unterausschuss I „Gefahrstoff-management“ der AK „Risikokonzept“ unter Leitung des Autors eingerichtet. Neben der Weiterentwicklung der BekGS 910 wurden die vom Unterausschuss III abgeleiteten Expositions-Risiko-Beziehungen mit Festlegung der Akzeptanz- und Toleranzkonzentration auf praktische Umsetzbarkeit überprüft.

Weiterentwicklung des Risikokonzeptes

Zusätzlich zur Expositions-Risiko-Beziehung für die krebserzeugende Wirkung wird eine chronische, nicht krebserzeugende Wirkung geprüft. Hierzu wird die in tierexperimentellen Untersuchungen bei wiederholter Applikation (subakut, subchronisch oder chronisch) ermittelte Wirkschwelle einer Arbeitsplatzkonzentration unter Ignorierung der krebserzeugenden Wirkung abgeleitet. Liegt diese intern als „AGW-analoger-Wert“ bezeichnete Konzentration unterhalb der Toleranzkonzentration, wird sie anstelle der Toleranzkonzentration in die TRGS 910 eingetragen. Hierdurch verringert sich der Gelbbereich, eine Überschreitung ist wegen einer unmittelbaren Gesundheitsgefährdung nicht zulässig (siehe Beispiele Acrylamid in  Tabelle 9).

Akzeptanz- und Toleranzkonzentration werden grundsätzlich als Schichtmittelwerte (analog AGW und MAK-Wert), die durchschnittliche Konzentration über einen achtstündigen Arbeitstag festgelegt. In Abhängigkeit der toxikologischen Wirkung wird für die Toleranzkonzentration ein Überschreitungsfaktor für Expositionsspitzen festgelegt; als Defaultwert gilt analog TRGS 900 für chronisch schädigende Stoffe ein Faktor von acht. In Abhängigkeit der toxikologischen Eigenschaften werden kleinere Überschreitungs-faktoren festgelegt, wenn der „AGW-analoge-Wert“ unterhalb der achtfachen Toleranzkonzentration liegt (Tabelle 9). Da unterhalb der Akzeptanzkonzentration für die gesundheitliche Bewertung Expositionsspitzen keine Bedeutung besitzen, muss sie ausschließlich als Schichtmittelwert überwacht werden; daher werden keine Überschreitungsfaktoren festgelegt.

Grundsätzlich werden Akzeptanz- und Toleranzkonzentration nicht unterhalb der unbelasteten Außenluft (ubiquitäre Konzentration) festgelegt. Bei ihrer Festlegung wird auf Basis allgemein zugänglicher Quellen die allgemeine Hintergrundkonzentration ermittelt und ggf. zur Korrektur herangezogen. Liegt die örtliche, nicht vom Emittenten beeinflusste Außenluftkonzentration oberhalb der Akzeptanzkonzentration, darf diese von der ermittelten Arbeitsplatzkonzentration subtrahiert werden.

Die Einhaltung der Akzeptanz- und Toleranzkonzentration muss mit den zur Verfügung stehenden Bestimmungsmethoden überprüft werden können. Zur messtechnischen Überwachung der Toleranzkonzentration sind Anforderungen von DIN EN 481 einzuhalten. In Abweichung dieser Vorgaben wird die Akzeptanzkonzentration nicht unter die analytische Nachweisgrenze der empfohlenen Bestimmungsverfahren festgelegt. Diese muss die Anforderungen zur Bestimmung der Arbeitsplatzexposition nach TRGS 402 erfüllen (BAuA 2011). Bei zahlreichen anorganischen Metallverbindungen erlauben derzeit verfügbare und auch in absehbarer Zukunft zur Verfügung stehende Bestimmungsmethoden nicht die Ermittlung der abgesenkten Akzeptanzkonzentrationen (Hahn et al. 2013). Bei der vorgesehenen Absenkung auf das Risikoniveau 4 zu 100 000 wird dies berücksichtigt.

Eine analoge Vorgehensweise ist bei endogen gebildeten Metaboliten anzuwenden. Liegt die natürlicherweise endogen gebildete Konzentration krebserzeugender Stoffe zwischen Akzeptanz- und Toleranzkonzentration, ist eine Absenkung unter diese natürliche, nicht vom Arbeitsplatz be-einflussbare Konzentration nicht sinnvoll. Ein Spezialfall liegt vor, wenn diese bei oder sogar über der Toleranzkonzentration liegt. In Anlehnung an die Festlegung von Isopren (2-Methylbutadien) wurde beschlossen, dass eine Festlegung unter diese natürliche Schwelle nicht erfolgen soll. Konsequenterweise wurde für Isopren keine Akzeptanz- oder Toleranzkonzentration abgeleitet, son-dern ein AGW von 1 ppm, da die Unterschiede endogene gebildeten Konzentrationen im Körper der Toleranzkonzentration entspricht. Selbst bei der Toleranzkonzentration ist daher eine arbeitsplatzbedingte Exposition nicht von der individuell gebilde-ten Isoprenmenge zu unterscheiden.

Bei der in Diskussion befindlichen Absenkung der Akzeptanzkonzentration von Ethylenoxid wird die endogen gebildete Menge zu beachten sein.

Liste der Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen

Nach Ausarbeitung der Expositions-Risiko-Beziehungen durch den Unterausschuss (UA) I, Beratung im AK-Risikokonzept des UA I und Verabschiedung durch den Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) wurden bisher die in Tabelle 9 aufgeführten Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen verabschiedet.

Krebsrisiken in der Allgemeinbevölkerung

Wie bereits oben ausgeführt, besteht für alle Menschen zumindest ein Krebsrisiko durch das natürliche Strahlenrisiko oder durch die Bildung krebserzeugender Metaboliten beim natürlichen Stoffwechsel.

Neuer Forschungsergebnisse, insbesondere aus Großbritannien zeigen, dass 40 % der Krebsrisiken der Allgemeinbevölkerung vermeidbar sind. Wichtige krebsauslösende Faktoren sind:

  • Übergewicht und falsche Ernährung
  • Rauchen
  • Bakterien
  • Viren
  • Schimmelpilze

Bereits 1967 haben Doll und Peto in einer vielbeachtenden Publikation postuliert, dass ca. 65 % aller tödlichen Krebsfälle in der westlichen Zivilbevölkerung durch falsche Ernährung und Rauchen ausgelöst werden, 7 % durch Vererbung und ca. 4 % bedingt durch krebsauslösende Faktoren am Arbeitsplatz. In zahlreichen Studien in der Folgezeit wurden die grundlegenden Ergebnisse von Doll und Peto bestätigt.  Abbildung4 stellt die wesentlichen Aussagen grafisch zusammen.

Die Bedeutung von Übergewicht wurde in neuerer Vergangenheit intensiv erforscht; seine Rolle beim Krebsrisiko gewinnt zunehmend an Bedeutung. So wird heute davon ausgegangen, dass sich bei Männern durch eine Erhöhung des Body Mass Indexes (BMI) von 25 auf 30 das Darmkrebsrisiko verdoppelt, für Nierenkrebs um den Faktor 2,5 erhöht und für Speiseröhrenkrebs verdreifacht. Für Frauen wird bei der gleichen Erhöhung des BMI eine Verdopplung des Brustkrebsrisikos vorhergesagt, bei Gebärmutterhalskrebs sogar eine Erhöhung um den Faktor 3,5 (Kaaks 2012). Allein für Deutschland wird berechnet, dass jährlich 40 000 Krebsneuerkrankungen vermieden werden könnten, wenn der BMI aller Bundesbürger unter 25 liegen würde.

Bakterielle Erkrankungen spielen beim Krebsgeschehen eine bedeutsame Rolle (Danaei 2012). Heliobacter pylori, Auslöser zahlreicher Magengeschwüre, wird für jährlich 12 000 Krebstote in Deutschland verantwortlich gemacht. Nicht behandelte oder nicht ausgeheilte Magengeschwüre können nach langjähriger Einwirkungszeit zu Magenkrebs führen, der häufig erst im Endstadium erkannt wird.

Hepatitis-C-Viren können eine chronische Entzündung der Leber auslösen, die zur Leberzirrhose und schlussendlich zu Leberkrebs führen können. Da 2–3 % der Weltbevölkerung mit Hepatitis C infiziert sind, ist die Relevanz einer Krebserkrankung entsprechend bedeutsam.

Einige humane Papilloma-Viren (HPV) können nach Ergebnissen von zur Hausen (2006) bei Frauen Gebärmutterhalskrebs auslösen. Während die meisten der HPV-Stämme unkritisch für die menschliche Gesundheit sind, ist das Risiko einer Krebserkrankung bei jungen Frauen, die sich mit HPV 16 infiziert haben, signifikant erhöht.

Als letztes Beispiel krebsauslösender Faktoren sollen die von Schimmelpilzen produzierten Toxine aufgeführt werden.  Tabelle 10 listet die Toxine, ihr hauptsächliches Vorkommen sowie die durch sie ausgelösten Krebserkrankungen auf. Insbesondere die Mykotoxine – bekanntester Vertreter ist Aflatoxin – werden zunehmend für Krebserkrankungen verantwortlich gemacht. In Tierversuchen haben sie sich als extrem potente Kanzerogene erwiesen, die bereits in sehr niedrigen Mengen eine hohe Krebsinzidenz auszulösen vermögen. Durch feucht-warme Bedingungen wird ihre Vermehrung außerordentlich begünstigt.

Einstufung kanzerogener, keimzellmutagener und reproduktionstoxischer Stoffe

Mit der EG-Verordnung 1272/2008 zur „Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen“, bekannt als CLP-Verordnung (Classification, Labelling, Packaging) wurde in der europäischen Union das von der UN festgelegte GHS-Kriterien (Globally Harmonized System) in europäisches Recht übernommen. In Anpassung an existierende internationale Einstufungssysteme wurden hierdurch die bisherigen Bezeichnungen der Einstufungskategorien der EG-Richtlinie 67/548/EWG geändert. In  Tabelle 11 sind die bisherigen und die neuen Bezeichnungen gegenübergestellt. Wie der Tabelle unschwer zu entnehmen ist, ist bei den so genannten „Verdachtsstoffen“ eine Verwechslungsgefahr gegeben: Kategorie 2 nach der bisherigen Stoffrichtlinie bezeichnete Stoffe, die sich im Tierversuch als eindeutig kanzerogen, Keimzell-mutagen oder reproduktionstoxisch eingestuft wurden, während Kategorie 2 nach der CLP-Verordnung jetzt die Verdachtsstoffe beschreibt, die bisher als Kategorie 3 bezeichnet wurden.

Eine zusätzliche Verwirrung ist bei reproduktionstoxischen Stoffen gegeben, da die bisherige klare Differenzierung zwischen fruchtbarkeitsschädigender und entwicklungsschädigender Eigenschaft weggefallen ist: die beiden sehr unterschiedlichen Eigenschaften werden mit dem gleichen H-Satz gekennzeichnet. Lediglich in der EU kann durch zusätzliche Angabe der Buchstaben D („development“ – entwicklungsschädigend) oder F („fertility“ – fruchtbarkeitsschädigend) dies ausgedrückt werden. Die Groß- bzw. Kleinbuchstaben drücken die Kategorie aus: Großbuchstaben für Kategorie 1A oder 1B, Kleinbuchstaben für Kategorie 2.

Resümee

Das hier vorgestellte und unter Leitung des Autors entwickelte Risikokonzept ist ein eindeutig konservatives Bewertungsmodell; sowohl gemäß der Ableitung der berechneten oder korrekter, auf wissenschaftlicher Basis abgeschätzter Risiken, als auch bezüglich der Festsetzung der Risikozahlen.

Die europäische Grenzwertkommission SCOEL (Scientific Committee on Exposure Levels) kommt bei ihren Ableitungen zum krebserzeugenden Risiko als Funktion von Expositionshöhe und -dauer regelmäßig zu niedrigeren Risiken. Dies kann zum Teil durch die sehr konservative Annahme im deutschen Leitfaden erklärt werden. Andere Bewertungskomitees berücksichtigen stärker epidemiologische Daten, die häufig ebenfalls zu niedrigeren Risiken führen. Gemäß dem Leitfaden zur Ableitung der Expositions-Risiko-Beziehungen (ERB) werden im deutschen Modell primär gut dokumentierte tierexperimentelle Studien herangezogen, die in aller Regel deutlich schlechter dokumentierten epidemiologischen Studien werden nur ergänzend berücksichtigt.

Bereits der Vergleich mit den tödlichen Arbeitsplatzrisiken zeigt, dass das Risiko eines „klassischen“ tödlichen Arbeitsunfalls im Durchschnitt aller Branchen höher als das Akzeptanzrisiko ist, bei den gefahrenträchtigsten Berufszweigen sogar das Toleranzrisiko deutlich übersteigt. Während bei einem Arbeitsunfall das Schadensereignis tatsächlich eingetreten ist, beschreibt das Toleranz- wie das Akzeptanzrisiko lediglich ein mathematisches Risiko, an einem Tumor zu erkranken. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass das Akzeptanz- und Toleranzrisiko keine realen Erkrankungsrisiken darstellen. Beispielsweise bleibt unberücksichtigt, da die mathematische Abhängigkeit von Dosis und Latenzzeit nicht bekannt ist, dass sich die Latenzzeit mit abnehmender Dosis verlängert. Wie ist jedoch das Krebsrisiko zu bewerten, wenn die Latenzzeit die Lebenserwartung übersteigt?

Die Heilungschancen der unterschiedlichen Tumorarten wurden bewusst ignoriert, da das Konzept die Vermeidung beruflicher Krebserkrankungen zum Ziel hat, unabhängig möglicher Heilungschancen. Konsequenterweise wäre dann auch die unterschiedliche Schwere der Lebensbeeinträchtigung bei einer Tumorerkrankung zu betrachten, was ebenfalls dem Konzept der Vermeidung berufsbedingter Krebserkrankungen widerspricht.

Das vorgestellte Konzept wurde in einem intensiven Meinungsbildungsprozess zwischen Wirtschaft, Arbeitnehmern, Behörden und der Wissenschaft entwickelt. Letztendlich konnten sich alle betroffenen „Bänke“ in einem typischen demokratischen Konsens- und Kompromissprozess hierauf einigen. Ob der AGS hierfür die notwendige Legitimierung besitzt, wird von manchen Kreisen bezweifelt. Hierbei sollte bedacht werden, dass der AGS auch in anderen Bereichen weitreichende Entscheidungen trifft; jeweils nach intensiver Diskussion aller Beteiligten.

Als eindeutiger Vorteil des neuen Konzepts sollte nicht unerwähnt bleiben, dass bei Erreichen der Akzeptanzkonzentration keine weitere Verpflichtung zur Expositionsminimierung mehr besteht. Auch eindeutig krebserzeugende Stoffe dürfen unterhalb der Akzeptanzkonzentration wie „normale“ Stoffe behandelt werden. Die alte Schwarz-Weiß-Einteilung – krebserzeugend vs. nicht krebserzeugend – ist im Rahmen einer modernen Arbeitsschutzregelung nicht mehr sinnvoll!

Bleibt die Frage der Höhe der festgesetzten Risikozahlen. Das Risiko durch Exposition in der Höhe des Toleranzrisikos an einem berufsbedingten Krebs zu erkranken entspricht dem Risiko in anderen Arbeitsbereichen, z. B. im Strahlenschutz. Das Akzeptanzrisiko 4:100 000 entspricht dem Tumorrisiko, bei einer einmaligen Röntgenuntersuchung des Oberkörpers (Thorax), an Lungenkrebs zu erkranken. Daher kann darüber diskutiert werden, ob die Absenkung auf dieses Risikoniveau tatsächlich bei allen Stoffen notwendig und sinnvoll ist. In den zuständigen Arbeitskreisen des AGS besteht bereits Einigkeit, dass diese Frage mit sehr viel Augenmaß und unter Berücksichtigung der so oft zitierten sozioökonomischen Argumente geführt werden muss, eine schematische Division durch 10 vom derzeitigen Akzeptanzniveau 4:10 000 zu 4:100 000 ist aus vielerlei Gründen weder möglich noch sinnvoll.

Das neue Risikokonzept hat neue regulatorische Wege bei Exposition gegenüber krebserzeugenden Stoffen eingeschlagen, im Sinne von Arbeitsschutz und ökonomischen Notwendigkeiten wurde ein ausgewogener Kompromiss erzielt. Dieser muss jetzt in der betrieblichen Praxis mit Augenmaß umgesetzt werden.

Literatur

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Verfasser

Prof. Dr. med. Herbert F. Bender

Weimarer Straße 9

67459 Böhl-Iggelheim

hfb@gefahrstoffdidakta.de

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