Notwendigkeit von Lüftung
Max von Pettenkofer wusste es schon 1858: „Die wesentlichsten Ausscheidungsstoffe unserer Lungen und unserer Haut, soweit sie in die Luft übergehen, sind Kohlensäure und Wasser. Gleichzeitig mit diesen geht stets noch eine geringe Menge flüchtiger organischer Stoffe in die Luft über, die sich bei einiger Anhäufung durch den Geruch bemerkbar machen. […] Somit bleibt uns kein anderer Anhaltspunkt als die Kohlensäure, deren Gehalt in der freien Luft durchgehend gering ist […] Der Kohlensäuregehalt allein macht die Luftverderbnis nicht aus, wir benützen ihn bloß als Maßstab, wonach wir auch noch den größeren oder geringeren Gehalt an anderen Stoffen schließen, welche zur Menge der ausgeschiedenen Kohlensäure sich proportional verhalten.“
Unsere Umgebungsluft enthält knapp 21 Vol. % Sauerstoff und 0,03 bis 0,05 Vol. % Kohlendioxid (CO2). Wir atmen aber Luft mit ca. 4 % CO2 aus, ungefähr dem 100fachen der eingeatmeten Luft, reichern also die Umgebungsluft mit CO2 an. CO2 ist an sich ein farbloses und geruchloses Gas. Zusammen mit der Ausatemluft kommen Bakterien und Viren, Körperausdünstungen, Ausdünstungen von Bekleidung sowie Einrichtungs- und Baumaterialien in die Raumluft. Außerdem kommt es zu einem Temperaturanstieg. Daher dient CO2 im Sinne Pettenkofers auch als einfach zu messende Leitsubstanz für die gesamte Diskussion.
Bereits ab 1000 ppm CO2 wird Unzufriedenheit über „schlechte Luft“ von 20 % der betroffenen Personen geäußert. Die Ad-hoc-Arbeitsgruppe „Innenraumrichtwerte“ des Umweltbundesamtes hat eine CO2-Konzentration von 2000 ppm oder mehr CO2 als hygienisch inakzeptabel bezeichnet.
Die Arbeitsstättenregel ASR A 3.6 „Lüftung“ fordert in dem Fenster von 1000 bis 2000 ppm CO2 in der Raumluft den Arbeitgeber auf, Maßnahmen zur Verbesserung zu ergreifen.
Der menschliche Organismus reagiert auf CO2 sehr empfindlich. Neben dem Atemzentrum besteht eine indirekte Wirkung auf die Sauerstoffaufnahme des Blutes. Damit ergeben sich auch die Wirkungen auf die Lern- und Konzentrationsfähigkeit. Unzureichende Lüftung wird auch mit dem „Sick-building“-Syndrom in Verbindung gebracht. Dieser Effekt wird häufig unterschätzt.
Zur Verdeutlichung des Problems: In einem zuvor gut gelüfteten ca. 30 Quadratmeter großen Raum mit einer Deckenhöhe von 2,50 Metern bedeutet das, dass bei zehn sitzenden Menschen nach 60 min noch ungefähr 20,7 % Sauerstoff vorhanden sind, die CO2-Konzentration aber bereits 3000 ppm erreicht hat.
Freie Lüftung
Die ASR A 3.6 „Lüftung“ beschreibt zwei Systeme: einseitige Lüftung (z. B. Lüftung über ein Fenster) oder zweiseitige Lüftung („Durchzug“). In beiden Fällen werden Maßzahlen für die notwendigen Lüftungsquerschnitte der Stoßlüftung bzw. der kontinuierlichen Lüftung genannt. Die Betrachtung der Personen im Raum ist für die kontinuierliche Lüftung von Bedeutung, damit ein ausreichender Frischluftstrom sichergestellt ist. Bei der Stoßlüftung geht es um einen Luftaustausch in gesamten Raum, die Maßzahlen beziehen sich also auf die Grundfläche des Raumes. Die Wirkung einseitiger Lüftung ist in Abhängigkeit der Raumhöhe physikalisch auf maximal 10 m Raumtiefe begrenzt. Diesem Effekt trägt auch die ASR Rechnung.
Bei der Einrichtung von Räumen ist daher auf die Zugänglichkeit zum Fenster zu achten. Manchmal stehen auch Zimmerpflanzen so ungeschickt, dass eine Fensterlüftung nicht möglich ist.
Lüftungsfrequenzen
Die ASR enthält Hinweise, wie oft und wie lange „stoßgelüftet“ werden soll. Das erzeugt zunächst Kopfschütteln, wenn in einem Besprechungsraum alle 20 min für bis zu 10 min die Fenster aufgerissen werden sollen. Dennoch sind diese Werte realistisch, da insbesondere im Sommer bei Windstille und einseitiger Lüftung das treibende Gefälle für einen Luftaustausch fehlt, anderseits die veratmete Luft in einem gut gedämmten Gebäude für zuträgliche Bedingungen mittels Lüftung ausgetauscht werden soll. Ein Nebeneffekt frischer Luft ist eben auch eine höhere Konzentrationsfähigkeit und damit auch bessere Besprechungsergebnisse.
Raumlufttechnische Anlagen
Auslegung
Die DIN EN 1964-2 (zurückgezogen 2005) gibt als oberen CO2-Grenzwert 1500 ppm an. Ältere Anlagen sind also u. U. also für einen Zielwert ausgelegt, der nach aktuellem Verständnis bereits Handlungsbedarf auslöst. Auch die alten Arbeitsstättenrichtlinien sahen einen Luftverbrauch von 20–40 m3/h Atemluft bei überwiegend sitzender Tätigkeit vor. Eine Auslegung nach aktueller DIN EN 13779 kommt auf knapp über 40 m3/h, um die Pettenkoferzahl (Konzentration von 1000 ppm CO2) der aktuellen ASR A 3.6 zu erreichen.
Einer der Gründe, warum sich diese Parameter im Regelwerk verändert haben, ist, dass auch hier der verminderte Luftaustausch durch besser wärmeisolierte Fassaden – und hier vor allem Fenster – berücksichtigt werden muss. In einer Gefährdungsbeurteilung kann im Altbestand u. U. gezeigt werden, dass zuträgliche Atemluft auch ohne einen Lüftungsumbau bereitgestellt werden kann.
Zugluft
Darüber hinaus sind aktuell in der ASR A 3.6 „Lüftung“ etwas geringere akzeptierte Strömungsgeschwindigkeiten als im früheren Regelwerk genannt.
In der Lüftungstechnik gibt es keinen Grenzwert, ab wann Zugluft als störend empfunden wird. Es gibt nur Perzentile von Unzufriedenen für die Luftgeschwindigkeiten in Abhängigkeit der Lufttemperatur. Eine Verringerung der Lufttemperatur der zugeführten Luft erhöht deutlich die Zahl der Unzufriedenen. Es wird jedoch immer Personen geben, die auch geringe Strömungsgeschwindigkeiten als störend empfinden. Darüber hinaus sind Luftgeschwindigkeitsmessungen sehr fehleranfällig.
Zugluft in einzelnen Büros kann in komplexeren Anlagen auch durch das Zukleben von Lüftungsschlitzen in einzelnen Büros, zugefallenen Brandschutzklappen in den Luftkanälen und dergleichen verstärkt werden. Daher sollte immer das ganze Lüftungssystem betrachtet werden und nicht nur einzelne Effekte.
Befeuchtung
Die Problematik ist hinreichend bekannt. Die maximale relative Luftfeuchte wird in der ASR in Abhängigkeit der Lufttemperatur beschrieben. Es gibt keinen unteren Wert im Regelwerk, d. h. insbesondere in Kälteperioden mit Temperaturen unter 0 °C wird sowohl bei Fensterlüftung als auch bei raumlufttechnischen Anlagen Außenluft mit einer geringen absoluten Luftfeuchte eingetragen, die sich beim Erwärmen in relativen Luftfeuchten von 20 % oder weniger bemerkbar macht. Dieses physikalische Grundproblem lässt sich nur in vollklimatisierten Gebäuden adäquat regeln, sonst wenig abmildern.
Alle in der Literatur vorgeschlagenen Lösungsansätze haben ihre spezifischen Nachteile, von der Grundproblematik der Schimmelbildung bei Kältebrücken, also insbesondere schlechter erwärmten Wandflächen hinter Möbeln, an Fenstern, Rollladenkästen oder schlecht gedämmten Außenwänden abgesehen. Pflanzen oder Zimmerbrunnen haben eine zu geringe Verdunstungsleistung und bergen außerdem ggf. die Gefahr der Verkeimung der Erde oder des Substrats. Raumluftbefeuchter müssen regelmäßig gewartet (um nicht zu Keimschleudern zu werden) und auch raumadäquat betrieben werden. Dennoch gibt es Zerstäuber, die im Einzelfall die Situation gerade in Räumen, in denen Beschäftigte viel reden müssen (Call-Center) verbessern können. Besonders empfindlichen Personen müssen u. U. arbeitsmedizinisch besonders beraten werden (z. B. hinsichtlich der Benutzung von Augentropfen)
Wartung
Schlecht gewartete raumlufttechnische Anlagen können wahre Keimschleudern sein, auch wenn keine Luftbefeuchtungsaggregate installiert sind. Neben dem regelmäßigen Austausch der Filter bei der Luftansaugung ist zu prüfen, wie die Umluft, die häufig aus Energiespargründen mit einem Frischluftanteil angereichert wieder in die Räume zurückgeblasen wird, gereinigt wird. Denn die aus den Räumen angezogene Luft enthält neben der verbrauchten Luft eben alle oben genannten Krankheitserreger, Staubanteile von Hautschuppen bis Papierfasern etc., die sich gern auch in den Leitungen absetzen, dort die Querschnitte vermindern und vor allem auch in der abgelagerten Form einen idealen Nährboden für Keime bilden.
Auch in den Zuluftleitungen können sich über Jahre hinweg, insbesondere bei nicht angemessener Filterauswahl, Staubablagerungen und damit unhygienische Zonen bilden. Nach der VDI-Richtlinie 6022 sind alle raumlufttechnischen Anlagen mindestens alle 3 Jahre einer Hygieneinspektion zu unterziehen, bei Anlagen mit Luftbefeuchtung beträgt das Intervall sogar nur 2 Jahre.
Die ASR A 3.6 „Lüftung“ fordert, dass der Arbeitgeber über die aktuellen Unterlagen der RLT-Anlagen verfügen oder dazu Zugang haben muss, da aus ihnen die Ergebnisse der Prüfung bei Inbetriebnahme und insbesondere von Wartung sowie regelmäßigen Prüfungen hervorgehen. Dies bedeutet, dass ggf. eine Abstimmung mit dem Gebäudeeigentümer oder Gebäudebetreiber erfolgen muss und eine konkrete Kontrolle durch den Arbeitgeber möglich ist. Sinnvoll ist dies allemal.
Fazit
Gute Raumluft sichert die Konzentrationsfähigkeit und das Lernvermögen der Mitarbeiter. Unzureichende Lüftung kann eine Vielzahl von Symptomen auslösen, die zunächst nicht der Lüftung zugeordnet werden. In Gebäuden mit „dichter“ Fassade müssen althergebrachte Verhaltensmuster zum Lüftungsverhalten überprüft werden. Technische Lüftungssysteme müssen den sich verändernden Anforderungen von Gebäudenutzern und Gebäudehülle angepasst sowie regelmäßig fachgerecht gewartet werden.
Weitere Infos
Arbeitsstättenregel ASR A 3.6 Lüftung
www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/Arbeitsstaetten/ASR/ASR-A3-6.html
DGUV Regel 109-002
www.bgbau-medien.de/html/pdf/109_002.pdf
DGUV Information 215-520
Autor
Dipl.-Ing. Tilman Teuscher
Leitende Sicherheitsfachkraft Stuttgart
Mitglied im Ausschuss fürArbeitsstätten