Historische Wurzeln der Fürsorge für Behinderte
Die Wurzeln der Fürsorge für Behinderte sowie des Rehabilitationsgedankens reichen viele Jahrhunderte zurück. Die Kirchen hatten sich ursprünglich der Versorgung von Kranken angenommen. Das zunehmende soziale Elend infolge der Industrialisierung besonders in den Städten konnte die Armenpflege aber nicht auffangen.
Nach der Reichsgründung wurde 1883 eine Krankenversicherungspflicht, 1884 eine Unfallversicherung für gewerbliche Arbeiter mit einem geringen Lohn eingeführt. Behinderte waren davon nicht betroffen und somit weiterhin unversorgt. Eine Volkszählung von körperbehinderten Kindern bis zum 15. Lebensjahr am 10. Oktober 1906 ergab, das im deutschen Reich zirka 40 000 Kinder stationär zu behandeln wären, fast 10 000 Eltern wollten ihre Kinder in eine so genannte „Krüppelanstalt“ geben. Die hohe Zahl von Behinderung betroffener Menschen löste eine enorme Spendenbereit-schaft aus, die zur Gründung einer Viel-zahl von „Krüppelheimen“ führte, darunter auch heute noch existierenden Einrichtungen wie das Annastift in Hannover oder das Johanna-Helenen Heim in Volmarstein.
Das Wort Krüppel erscheint heute diskriminierend, damals jedoch waren Krüppelheime komplexe Rehabilitationseinrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche medizinisch behandelt, pädagogisch gefördert und später für einen Beruf vorbereitet wurden. Der Schwerpunkt lag auf der orthopädischen Behandlung. Geistig Behinderte waren von den Maßnahmen ausgeschlossen, da sie keinen wirtschaftlichen Wert erbrachten.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die orthopädischen Kliniken zu Reservelazaret-ten umgewandelt. Fürsorgestellen übernah-men die Betreuung der Kriegsinvaliden. Wie im Reichsversorgungsgesetz von 1925 festgelegt, sollten sie bei der Wahl eines geeigneten Berufes, bei der Berufsausübung und bei der Unterbringung im Erwerbsleben be-hilflich sein. Bereits 1919 wurde den Arbeitgebern aufgegeben 1 % der Arbeitsplätze mit Kriegsverletzten oder zivilen Schwerbehinderten zu besetzen.
Am 6. April 1920 wurde das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbehinderter verabschiedet, es wurde die Funktion eines Vertrauensmannes für Schwerbehinderte eingerichtet und der Kündigungsschutz ver-bessert. Das Preußische Krüppelfürsorge-gesetz vom 20. Mai 1920 sicherte allen Körperbehinderten bis zum 15. Lebensjahr unentgeltliche medizinische Behandlung, pädagogische Förderung, Beschulung und eine Berufsausbildung zu und ist noch heute als bahnbrechend zu bezeichnen.
Beide Gesetze wirken noch immer nach, die Grundstrukturen wurden in das Bundesversorgungsgesetz 1950 übernommen. Noch im SGB IX finden sich die Grundgedanken wieder.
Die zunehmende Wirtschaftskrise in den 30er Jahren führte zu Kosten-Nutzen-Rechnungen. Die Fürsorge sollte nicht „Minderwertigen“ gelten. Körperbehinderte dürften nicht mit „Geisteskranken“ verwechselt werden. Diese Argumentation wurde von den Nationalsozialisten übernommen. Die weiteren Folgen dieses Denkens sind bekannt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand erneut die soziale und berufliche Integration der Kriegsbeschädigten im Vordergrund der Bemühungen. Im März 1950 wurde das Gesetz zur Verbesserung an Leistungen an Kriegsopfer verabschiedet, im Oktober 1950 das Bundesversorgungsgesetz. Das Hauptziel aller sozialpolitischen Bemühungen bestand darin, die Kriegsbeschädigten wieder beruflich zu integrieren. Ein Berufswechsel sollte die Ausnahme sein, ein sozialer Abstieg vermieden werden. Die Kriegsbeschädigten wollten zeigen, dass Leistungen trotz der Behinderung erbracht werden konnten und setzten große Anstrengung daran, wieder in ihren Beruf zurückzukehren.
Lang anhaltende Diskussionen ergaben sich bei der Namensfindung. Mit der Verabschiedung des Körperbehindertengesetzes vom 28. Februar 1957 setzten sich dann die Gegner der diskriminierenden Bezeichnung „Krüppel“ durch.
Die weitere Entwicklung war geprägt von der Verwendung des im angelsächsischen weit verbreiteten Begriffes „Rehabili-tation“. Darunter wurde die Eingliederung aller Behinderten in Arbeit und Gesellschaft verstanden. Sie diente dem Ziel, Behinderte „ohne Begrenzung der Zeit und des Maßes aus der Achtung der Persönlichkeit“ bestmöglich zu fördern (Bohne 1956) und zielte auf soziale und gesellschaftliche Integration.
Das Aufgabengebiet erweiterte sich in nächsten Jahren von der reinen Fürsorge für Körperbehinderte auf Menschen mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Die Zielsetzung war eine ganzheitliche Rehabilitation und ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung. Am 1. Mai 1974 trat das „Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft“ in Kraft.
Aufgaben und Leistungen zur Teilhabe aus Sicht des Integrationsamtes
Das Integrationsamt (die ehemaligen Haupt-fürsorgestellen) ist als Behörde für Aufgaben nach dem Schwerbehindertenrecht zuständig. Die Leistungen stellen eine individuelle, auf die besonderen Anforderungen des Arbeitsplatzes bezogene Ergänzung zu den Leistungen der Rehabilitationsträger dar und dienen der Sicherung des Arbeits-platzes. Die Leistungen werden in Absprache mit den anderen Trägern der Leistungen zur Teilhabe (LTA) erbracht. Bei schwerbehinderten Beamten und Selbstständigen gibt es in der Regel keinen anderen vorrangigen Träger.
Welches Integrationsamt zuständig ist, ist abhängig von der Lage des Arbeitsplatzes. Die Beratung des Beschäftigten vor Ort übernehmen nach § 109 SGB IX die beauftragten Integrationsfachdienste.
Aufgaben des Integrationsamtes sind im SGB IX § 102 definiert:
- Begleitende Hilfen im Arbeitsleben, zum Beispiel finanzielle Hilfen an Arbeitgeber bei Minderleistung und an schwerbehin-derte Menschen
- Der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen
- Seminare und Öffentlichkeitsarbeit für das betriebliche Integrationsteam im Rah-men des betrieblichen Eingliederungsmanagements
- Die Erhebung und Verwendung der Aus-gleichsabgabe z. B. für die Finanzierung von Integrationsfachdiensten, Integra-tionsprojekten, Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), sowie Leistungen im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben entsprechend der Schwerbehindertenausgleichs-Abgabe-Verordnung (SchwbAV).
Bei der Durchführung von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden Integra-tionsfachdienste beteiligt. Diese haben sich entwickelt aus den bisherigen psychoso-zialen und berufsbegleitenden Diensten, welche die früheren Hauptfürsorgestellen nach dem bisherigen Schwerbehindertengesetz bei der Durchführung der psycho-sozialen Betreuung im Rahmen begleitender Hilfe im Arbeitsleben beteiligt hatten. Die Finanzierung erfolgt mittels Ausgleichs-abgabe der Arbeitgeber.
Integrationsprojekte sind rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Unternehmen oder unternehmensinterne Betriebe zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, deren Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf besondere Schwierigkeiten stößt. Es handelt sich hierbei um eine durch das SGB IX neu geregelte Form der Beschäftigung für schwerbehinderte Menschen, die eine Brücke zwischen den Werkstätten für schwerbehinderte Menschen (WfbM) und dem allgemeinen Arbeitsmarkt darstellt.
Zu den Aufgaben im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements zählen:
- Die Schaffung neuer Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen (Ersatzarbeitsplätze)
- Die behindertengerechte Einrichtung von Arbeitsplätzen
- Die Abmilderung außergewöhnlicher Belastungen durch das Gewähren von Leistungen zur personellen Unterstützung oder Minderleistungsausgleich
- Arbeitsassistenz
Der Zuschuss zu einem Hilfsmittel kann bei Mitbenutzung durch andere Beschäftige gekürzt werden. Die Förderhöhe kann auch von der Schwere der Behinderung oder der Anzahl schwerbehinderter oder gleichgestellter Mitarbeiter abhängig sein. Die Förderung muss sich immer auf die einzelne Behinderung beziehen. Vorrangig ist eine gute technische Ausstattung des Arbeitsplatzes. Wenn schwerbehinderte Menschen einen Unterstützungsbedarf bei der Verrichtung der Arbeit als außergewöhnliche Belastung beantragen, können bis zu 30 % des Sachgebietes auf eine andere Person übertragen werden. Bis zu 30 % Minderleistung können einem Arbeitgeber zugemutet werden.
Literatur
BIH. ABC Behinderung & Beruf. Handbuch für die betriebliche Praxis. Münster, Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Haupt-fürsorgestellen (BIH), 2005.
Diehl T, Groner A, Gebauer E. Kursbuch Sozial-medizin, Lehrbuch zum Curriculum der Bundesärztekammer. Köln, Deutscher Ärzteverlag, 2012.
Weitere Infos
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht, Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008
Behinderung und Ausweis, LWL-Integrationsamt Westfalen-Lippe, 24. Auflage
http://www.lwl.org/abt61-download/PDF/broschueren/Heft_5_Juli_2012.pdf
Für die Autorinnen
Dr. med. Monika Stichert
Arbeits- und reisemedizinische Praxis, Gelbfieberimpfstelle
Pestalozzi Str. 3
40699 Erkrath