Seit Mitte Dezember 2014 ist die Neuauflage (6. Auflage) der „DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen“ im Buchhandel erhältlich und sorgt zunehmend für Gesprächsstoff. Bereits im Jahr 2013 hatte die DGAUM sich u. a. auch mit dem VDBW dafür eingesetzt, dass diese Neuauflage entsprechend des aktuellen medizinischen und evidenzbasierten Wissensstands nicht nur einfach aktualisiert, sondern grundsätzlich überarbeitet werden möge. DGAUM und VDBW hatten in Gesprächen mit der DGUV zudem darauf hingewiesen, dass die „Grundsätze“ als Praxisempfehlungen hinsichtlich der arbeitsmedizinischen Vorsorge zwingend am geltenden Arbeitsschutzgesetz und der novellierten ArbMedVV orientiert sein müssten. Da die „DGUV Grundsätze“ ohnehin nur empfehlenden Charakter und keinen Weisungscharakter wie Gesetze oder Verordnungen haben können, stand bereits 2013 die sicherlich berechtigte Frage im Raum, ob man den Namen des Buches nicht abändern müsse, entweder in „DGUV Empfehlungen für die arbeitsmedizinische Vorsorge “oder „DGUV Informationen für die arbeitsmedizinische Vorsorge“.
Im Rahmen eines Gesprächs, das die DGAUM Mitte Januar mit den beiden neuen Vorstandsvorsitzenden der DGUV, Dr. Rainhardt v. Leoprechting und Manfred Wirsch, sowie dem stellvertretenden Hauptgeschäftsführer, Dr. Walter Eichendorf, führte, haben wir diese Themen nochmals angesprochen und angekündigt, dass in der Zeitschrift ASU unabhängig voneinander sowohl von der DGAUM als auch vom AfAMed kritische Stellungnahmen zu der 6. Auflage der „Grundsätze“ publiziert werden. Da wir allem voran an einer sachlichen und inhaltsbezogenen Fachdiskussion interessiert sind, haben wir auch andere Verbände und Organisationen eingeladen, ebenfalls eine Stellungnahme zu dieser DGUV-Publikation abzugeben. In dieser und der folgenden Ausgabe der ASU stellen wir der Öffentlichkeit diese Stellungnahmen zur weiteren Diskussion vor.
Dr. phil. Thomas Nesseler
Hauptgeschäftsführer DGAUM
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) zur Neuauflage der DGUV-Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen
Ende 2014 sind die DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen erschienen. Geändert hat sich zwar der Titel, da nicht mehr von der arbeitsmedizinischen Vorsorge gesprochen wird, aber bereits der Untertitel „6. vollständig neubearbeitete Auflage“ lässt, ebenso wie das Format und die Begrifflichkeit „Grundsätze“ erkennen, dass das Konzept der arbeitsmedizinischen Untersuchungen unverändert beibehalten worden ist. In der nun vorliegenden Auflage ist das Kapitel 1 „Erläuterungen zur Durchführung arbeitsmedizinischer Untersuchungen“ grundlegend überarbeitet worden. Außerdem sind drei neue Grundsätze aufgenommen worden: G 13 „Chlorplatinate“, G 17 „Künstliche optische Strahlung“ und G 28 „Sauerstoffreduzierte Atmosphäre“.
Bereits im Vorwort wird darauf verwiesen, dass die „6. Auflage im Ausschuss Arbeitsmedizin der Gesetzlichen Unfallversicherung in interdisziplinären Expertenteams aus Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern der betrieblichen Praxis und der Wissenschaft, Fachleuten diverser medizinischer und auch technischer Sachgebiete sowie Sachverständigen der Länder und der Unfallversicherungsträger erarbeitet“ worden sei. Leider werden diese Experten den einzelnen BG-Sätzen nicht zugeordnet oder überhaupt namentlich genannt, so dass die Autorinnen und Autoren der Empfehlungen anonym bleiben und Fragen und Kritik nicht direkt adressiert werden können.
Schon geraume Zeit vor der Neuauflage dieses Buches haben Vertreter der DGAUM darauf hingewiesen, dass die weitgehend unveränderte Übernahme des alten Konzepts der sog. G-Untersuchungen im Hinblick auf das geänderte Rollenverständnis des Arbeitsmediziners und der gesetzlichen Neuregelungen wenig sinnvoll erscheint.
Das System der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen nach G-Sätzen wurde seit 1971 kontinuierlich entwickelt und angewandt. Die ersten 30 Jahre musste ein Arzt von den Unfallversicherungsträgern ermächtigt werden, um diese Untersuchungen überhaupt durchführen zu dürfen. Zum Zeitpunkt, als das Konzept erarbeitet wurde, gab es noch kein Arbeitssicherheitsgesetz, keinen Facharzt für Arbeitsmedizin und keinen Arzt mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin. Daher hatten damals die Grundsätze als Orientierungshilfe für ärztliches Handeln ohne jeden Zweifel ihre hohe Berechtigung, weil nämlich ausreichend ar-beitsmedizinisches Wissen bei den beauf-tragten Ärzten damals gar nicht vorhanden sein konnte. Diese Situation hat sich jedoch zwischenzeitlich grundlegend verändert: In Deutschland arbeiten mittlerweile über 12 000 Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde. Der Facharzt für Arbeitsmedizin ist in seinem Fachgebiet ein Spezialist, wie jeder andere Facharzt auf seinem Fachgebiet auch. Die Indikationsstellung zu ärztlichen Maßnahmen liegt grundsätzlich beim Arzt, der auch die Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss. Die Arbeitsgemeinschaft medizinisch-wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) pflegt seit 20 Jahren die Erarbeitung von arbeitsmedizinischen Leitlinien. Die Leitlinien der AWMF sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichti-gen. Die Leitlinien sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haf-tungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.
Die DGUV Grundsätze erheben nun nicht mehr den Anspruch, Leitlinien zu sein, wie noch in der 5. Auflage postuliert, sondern sollen jetzt den allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin widerspiegeln, im Sinne von Best Practices, sowie den Be-triebsärztinnen und Betriebsärzten im Ein-zelfall den erforderlichen Spielraum lassen, wie im Vorwort der 6. Auflage zum Ausdruck gebracht. Allerdings suggeriert sowohl die inhaltliche Strukturierung der G-Sätze als auch die Aussage, dass „im Einzelfall“ von den DGUV Grundsätzen abgewichen werden kann, den Eindruck, dass in den letzten 40 Jahren sich an der Praxis der Anwendung der G-Sätze nichts geändert habe. Nach meiner Auffassung sollte dies allerdings kritisch hinterfragt werden, da sich nicht nur die rechtlichen Vorgaben, sondern auch das Rollenbild des Arztes entscheidend verändert haben.
Vor 40 Jahren prägte ein paternalistisches Verständnis das Verhältnis von Arzt zu Patient/Klient. In diesem Konzept trifft der Arzt die Entscheidungen zum Wohle seines Patienten/Klienten weitgehend autonom. Dieses Rollenverständnis betraf in der Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch noch alle Bereiche der Medizin, wie an vielen Beispielen der klinischen Medizin eindeutig belegt werden kann. So war es bis in die 80er Jahre hinein Usus, bei Kindern mit unbestimmtem Geschlecht, dem Arzt die Entscheidung zu überlassen, in welche Richtung operativ korrigiert werden soll. Ein Vorgehen, das heute kaum noch verstanden, geschweige denn akzeptiert wird. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein System, das mit die-ser geistigen Einstellung erarbeitet worden ist, kaum mehr im 21. Jahrhundert Bestand haben kann. In einem partizipativen Arzt-Patienten/Klienten-Verhältnis erläutert der Arzt, welche Maßnahme er warum empfiehlt und begründet die Indikation seiner Maßnahmen rational. Jeder Facharzt für Arbeitsmedizin und jeder Arzt mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin hat eine mindestens elfjährige Aus- und Weiterbildung hinter sich. Aus diesem Wissen heraus trifft er seine Entscheidungen und stellt die Indikation zu Untersuchungen. Während dieses Prozesses können Lehrbücher, Leitlinien und auch die hier vorliegenden „Grund-sätze“ sehr hilfreich sein, wenn diese als unverbindliche (sic!) Orientierungshilfen aufgefasst werden. Dabei wird der kritische Arzt stets hinterfragen müssen, wie berech-tigt die Empfehlungen in Büchern im Einzel-nen sind. Beispielsweise ist es nur schwer nachzuvollziehen, warum nach wie vor so häufig radiologische Untersuchungen in den G-Sätzen empfohlen werden, warum bei einer Bleiexposition die Leberwerte überwacht werden sollen oder bei einer Arsenexposition das C-reaktive Protein bestimmt werden soll. Diese wenigen Beispiele sollen nur verdeutlichen, dass der Facharzt für Arbeitsmedizin oder der Betriebsarzt die Inhalte der G-Sätze genauso kritisch überprüfen muss, wie die Inhalte jedes anderen Lehrbuches auch.
Im Oktober 2013 sorgte die Änderungsverordnung zur Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbmedVV) für viel Diskussion innerhalb des Fachgebietes Arbeitsmedizin. Im Mittelpunkt der neuen ArbmedVV steht im Prinzip das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Autonomie des Arbeitnehmers. Insbesondere diese Autonomie wird in der Verordnung von den in Deutschland gültigen Ge-setzen abgeleitet. Sie entspricht jedoch dem oben erwähnten geänderten Arzt-Patienten/Klienten-Verhältnis mit einem eindeutig partizipativen Ansatz. Vor diesem Hintergrund ist alleine schon das in den „DGUV Grundsätzen“ vorgestellte Basis-Untersuchungsprogramm (BAPRO) kritisch zu über-denken. Das BAPRO ist kein arbeitsmedizinisches Instrument, sondern ein Instrument der allgemeinärztlichen Untersuchung. Wenn der Arbeitnehmer keine allgemeinärztliche Untersuchung wünscht, kann er auch nicht gezwungen werden, eine Ganzkörperuntersuchung bei sich vornehmen zu lassen. Selbstverständlich sind einzelne Or-ganbereiche für bestimmte Expositionen und Tätigkeiten von Bedeutung. Dies allerdings muss dem Arbeitnehmer explizit erklärt werden und dieser trifft selbst die Entschei-dung, welche Untersuchung er durchführen lassen will und welche nicht. Und: Der Arbeitnehmer ist auch autonom bei der Entscheidung über sein persönliches Gesundheitsrisiko, das für ihn aus einer bestimmten Tätigkeit resultieren könnte. Aus diesem Grunde ist die unveränderte Beibehaltung der Beurteilungskriterien problematisch. Im Prinzip müsste getrennt werden zwischen Empfehlungen, die der Arbeitnehmer selbst umsetzen soll und Maßnahmen, die nur der Arbeitgeber oder Vorgesetzte umsetzen kann. Die persönlichen Empfehlungen betreffen ausschließlich die Arzt-Klienten-Interaktion; bei Maßnahmen, wie sie in der Regel unter „keine gesundheitlichen Bedenken unter bestimmten Voraussetzungen“ aufgeführt werden, muss jedoch akribisch geprüft werden, was in der Handlungsoption des Arbeitnehmers liegt und wo der Arbeitgeber/Vorgesetzte erforderlich ist, um Abhilfe zu schaffen.
So wertvoll Handlungsanleitungen zur Durchführung von arbeitsmedizinischen Untersuchungen sind, ebenso gefährlich ist eine unkritische Übertragung alter Konzepte auf die Situation im 21. Jahrhundert. Zu schnell könnte ein Arbeitsmediziner oder Betriebsarzt verleitet werden, Untersuchungen durchzuführen und Maßnahmen einzuleiten, die eindeutig im Widerspruch zur Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge stehen. Darüber hinaus könnten Arbeitsmediziner und Betriebsärzte verführt werden, technische oder organisatorische Maßnahmen vorzuschlagen, damit der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz weiter-arbeiten kann, gleichzeitig aber die ärztliche Schweigepflicht brechen.
Aus Sicht der wissenschaftlichen Fach-gesellschaft, der DGAUM, ist daher zu hoffen, dass möglichst schnell eine Neukonzeption von Empfehlungen zu arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen erarbeitet wird, die sich von dem jahrzehntelang praktizierten Konzept löst und umfänglich rechtliche Vorgaben und die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts berücksichtigt. Viele Indikationen zu speziellen Untersuchungen müssen dabei kritisch auf ihre Wertigkeit hin überprüft werden, ganz im Sinne einer „evidence-based prevention“. Die Beurteilungskriterien müssen getrennt werden nach Information für den Arbeitnehmer und Information für den Arbeitgeber, wobei bei individuellen An-passungen der Arbeitnehmer dem natürlich zustimmen muss. Darüber hinaus sollten die Begrifflichkeiten sowie das generelle For-mat deutlich machen, dass diese Untersuchungen nicht mehr dem Konzept der alten G-Sätze entsprechen. Die Deutsche Gesell-schaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedi-zin (DGAUM) ist unter diesen Bedingungen gerne bereit, sich an einem ergebnisoffenen Prozess mit der vorliegenden Kompetenz zu beteiligen, um so sowohl dem Wohl der Patienten und Klienten zu dienen als auch den Alltag der arbeitsmedizinischen und betriebsärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzte zu erleichtern.
Prof. Dr. med. Hans Drexler
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) e. V.
DGUV Grundsätze für arbeits-medizinische Untersuchungen – mehr Verwirrung als Nutzen
Stellungnahme des Vorsitzenden des AfAMed zur 6. vollständig neu bearbeiteten Neuauflage
Im Oktober 2013 ist die Änderungsverordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) in Kraft getreten. Als übergeordnete Rechtsverordnung regelt diese die gesetzlichen Vorgaben zur arbeitsmedizini-schen Vorsorge. Ziel der ArbMedVV ist es, durch Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge arbeitsbedingte Erkrankungen ein-schließlich Berufskrankheiten frühzeitig zu erkennen und zu verhüten. Arbeitsmedizini-sche Vorsorge soll zugleich einen Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und zur Fortentwicklung des betrieblichen Gesundheitsschutzes leisten. Die ArbMedVV gilt für die arbeitsmedizinische Vorsorge im Geltungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes und lässt sonstige arbeitsmedizinische Präventionsmaßnahmen, insbesondere nach dem Arbeitsschutzgesetz und dem Arbeitssicherheitsgesetz, unberührt.
Die Novellierung der ArbMedVV hat zu wesentlichen Veränderungen und qualitativen Verbesserungen der arbeitsmedizinischen Vorsorge geführt. So wurde u. a. die Nomenklatur geändert. Nach langen und ausführlichen Diskussionen im Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) hat der Verordnungsgeber die arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung in arbeitsmedizinische Vorsorge umbenannt und damit auch die Pflichtuntersuchung in Pflichtvorsorge, Angebotsuntersuchung in Angebotsvorsorge, Wunschuntersuchung in Wunschvorsorge. Dies ist geschehen, um alle an der Vorsor-ge beteiligten Akteure darauf hinzuweisen, dass arbeitsmedizinische Vorsorge mehr ist als „nur“ eine Untersuchung, sondern zum Schwerpunkt der Vorsorge insbesondere die individuelle Beratung zu zählen ist. Gege-benenfalls ärztlicherseits sinnvolle bzw. zu empfehlende Untersuchungen dürfen nach ArbMedVV nicht gegen den Willen der Beschäftigten durchgeführt werden. Zudem wird in § 2 Abs. 1 Nummer 5 darauf hingewiesen, dass arbeitsmedizinische Vorsorge nach ArbMedVV nicht den Nachweis der gesundheitlichen Eignung für berufliche Anforderungen nach sonstigen Rechtsvorschriften oder individual- bzw. kollektivrechtlichen Vereinbarungen umfasst. Eine wei-tere Neuerung der novellierten ArbMedVV birgt die Regelung, dass – unter Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – dem Arbeitgeber nicht mehr die Ergebnisse der Untersuchung mitgeteilt werden, sondern eine Vorsorgebescheini-gung darüber erstellt wird, dass, wann und aus welchem Anlass ein arbeitsmedizini-scher Vorsorgetermin stattgefunden hat. Die Vorsorgebescheinigung enthält zudem die Angabe, wann eine weitere arbeitsmedizinische Vorsorge aus ärztlicher Sicht angezeigt ist. Statt auf das Ausstellen von Bescheinigungen über die gesundheitliche Bedenklichkeit bzw. Unbedenklichkeit, setzt die Arb-MedVV auf Verbesserung des Arbeitsschutzes, indem sie in § 6 Abs. 4 bzw. § 8 Abs. 1 fordert, dass eventuelle Erkenntnisse über Arbeitsschutzmängel dem Arbeitgeber mitzuteilen sind, damit die erforderlichen Ar-beitsschutzmaßnahmen getroffen werden. Die ärztliche Schweigepflicht ist selbstverständlich hierbei einzuhalten.
Es überrascht, dass die DGUV nun Ende 2014, also über ein Jahr nach dem Inkraft-treten der novellierten ArbMedVV eine voll-ständig neubearbeitete Auflage der DGUV Grundsätze im Gentner Verlag veröffentlicht, die in vielen Bereichen nicht der geltenden Rechtsverordnung entspricht. Bereits zu Beginn des Vorworts wird darauf hingewiesen, dass die neuen DGUV Grundsätze die arbeitsmedizinischen Untersuchungen von der ArbMedVV und anderen Rechtsgrundlagen für Untersuchungsanlässe entkoppeln und sich nunmehr am Arbeitssicherheitsgesetz und am SGBVII orientieren will. Die Folge dieses Anspruches ist nun u. a., dass einzelne Untersuchungsanlässe – beispiels-weise zur Vorsorge bzw. Eignung – vermischt werden und die Systematik von der geltenden Rechtsverordnung abweicht. Auch von der Nomenklatur und den Inhalten bleibt man in den DGUV Grundsätzen sehr stark an den Untersuchungen orientiert, die Wei-terentwicklung der Arbeitsmedizin zu einem integrativen ärztlichen Handel (nicht nur untersuchen, sondern beraten!), wie dies u. a. in der ArbMedVV verankert ist, findet – zumindest in der Nomenklatur und weitgehend auch inhaltlich – keinen Eingang in diese Neuauflage der DGUV Grundsätze. Warum man sich in der DGUV nicht am gel-tenden Recht und der Weiterentwicklung des Faches orientiert, das überrascht und wird dem praktisch tätigen Arbeitsmediziner nur bedingt zu vermitteln sein.
Trotz mehrfacher Gespräche und Empfehlungen von Vertretern der deutschen Arbeitsmedizin hat die DGUV auch den Haupttitel des Buches „DGUV Grundsätze“ nicht geändert. Die DGUV unterscheidet in ihrem Regelwerk zwischen Vorschriften, Regeln, Informationen und Grundsätzen. Grundsätze werden dabei wie folgt definiert: „Grundsätze sind Maßstäbe für bestimmte Verfahrensfragen, z. B. hinsichtlich der Durchführung von Prüfungen.“ (www.dguv.de/de/Prävention/Vorschriften-Regeln-und-Informationen/Grundsätze/index.jsp). Welche Verfahrensfragen hier bei den DGUV Grundsätzen geprüft werden sollen, bleibt für den aufmerksamen Leser unbeantwortet. Warum man in diesem Kon-text nicht Begrifflichkeiten wie „Informatio-nen“ oder „Empfehlungen“ wählen wollte, bleibt unverständlich. Insbesondere nachdem die DGUV ihre Grundsätze vollständig neubearbeitet hat, wäre es sinnvoll gewesen, das Buch als „DGUV Informationen“ oder „DGUV Empfehlungen“ zu bezeichnen, denn genau darum handelt es sich. Nach dem Vorwort der DGUV stellen die Grundsätze ohnehin nur „Empfehlungen“ nach dem allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin dar und besitzen eben keine Rechtsverbindlichkeit. Zum Glück hat man nun in der Neuauflage zumindest eingesehen, dass der im Vorwort der 5. Auflage aufgeführte Satz „Die DGUV Grundsätze stellen gleichzeitig eine verbindliche Grundlage für das Handeln der im arbeitsmedizinischen Bereich und der Aufsicht tätigen Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen dar“ nicht dem geltenden Recht entsprach und gestrichen werden musste.
Mit welchem Recht man nun aber behauptet, dass diese DGUV Grundsätze den allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin wiedergeben, mag um so mehr überraschen, als nahezu alle in der Arbeitsmedizin engagierten ärztlichen Organisationen, so u. a. der Berufsverband der Deutschen Betriebs- und Werksärzte (VDBW), die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) als wissenschaftliche Fachgesellschaft, der Berufsverband selbstständiger Arbeitsmediziner und freiberuflicher Betriebsärzte (BsAfB), die Bundesärztekammer mit ihrer ständigen Konferenz Arbeitsmedizin und eine Vielzahl staatlicher Gewerbeärzte sowie weitere Or-ganisationen wie der Ausschuss für Arbeits-medizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (AfAMed), Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, sowohl in Einzelgesprächen und mittels Kongressbeiträgen als auch in weiteren schriftlichen und mündlichen Kommunikationsformen darauf hingewiesen haben, dass die Grundsätze nicht mehr dem Stand der Arbeitsmedizin entsprechen und man daher dringend von einer Veröffentlichung absehen sollte. Um so mehr bleibt vor diesem Hintergrund die Behauptung erklärungsbedürftig, dass es sich bei den in diesem Buch publizierten Inhalten um den allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin handle.
Darüber hinaus ist die Beibehaltung der Bewertungskriterien – jetzt nur für den Arzt bzw. die Ärztin und nicht mehr für den Arbeitgeber bestimmt – nur bedingt nachvollziehbar und führt zu einer Verunsicherung der Ärztinnen und Ärzte.
Die ArbMedVV wird durch Arbeitsme-dizinische Regeln (AMR) präzisiert. Die AMR geben den Stand der Arbeitsmedizin und sonstige gesicherte arbeitsmedizinische Erkenntnisse wieder. Diese werden vom AfAMed – dort sind ebenfalls Vertreter der DGUV Mitglied – erarbeitet oder bei Be-darf angepasst und dann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Gemeinsamen Ministerialblatt (GMBl.) bekannt gegeben. Bei Einhaltung der AMR kann der Arbeitgeber und selbstverständlich auch der jeweils verantwortliche Betriebsarzt davon ausgehen, dass die in der AMR konkretisierten Anforderungen der Verord-nung zur ArbMedVV erfüllt sind (Vermu-tungswirkung, § 3 Absatz 1 Satz 3 ArbMedVV). Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz für die Beschäftigten erreichen. Selbstverständlich unterliegen auch die AMR einer kontinuierlichen Weiterentwicklung, sie werden im AfAMed fachlich diskutiert und dann verabschiedet.
Warum die DGUV den Betriebsärzten hier z. T. unklare bzw. vom aktuellen staatlichen Regelwerk abweichende Informationen, insbesondere zu Untersuchungsfristen, gibt, ist ebenfalls nicht nachvollziehbar. Dies soll an folgenden drei Beispielen näher ausgeführt werden:
- In der AMR 2.1 „Fristen für die Veranlassung / das Angebot von arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen“ wird für Hartholzstaub für die Pflicht- und Angebotsvorsorge zwischen Personen 40 Jahren und > 40 Jahren unterschieden. Der DGUV Grundsatz 44 weicht hiervon ab und unterteilt die betroffenen Personengruppen in die Altersklassen 45 Jahren und > 45 Jahren. Einleitend wird – wie bei jedem der DGUV Grundsätze – hierzu zwar aufgeführt „Bei der Festlegung der Fristen zu den Untersuchungsintervallen sind je nach Rechtsgrundlage des Untersuchungsanlasses die für diesen Anlass gültigen staatlichen Vorschriften und Regeln zu beachten. Wenn es für den konkreten Untersuchungsanlass keine staatlichen Vorgaben gibt, können ersatzweise die Empfehlungen … zu Anwendung kommen.“ Warum man sich hier nicht an die rechtlich kodifizierten staatlichen Vorgaben hält, wird nicht begründet.
- Ein weiteres Beispiel unvollständiger Angaben in den DGUV Grundsätzen be-trifft die Angebotsuntersuchungen bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden und erbgutverändernden Gefahrstoffen (allgemein). In dem entsprechenden DGUV Grundsatz 40 werden Nachuntersu-chungen nach 24 bis 60 Monaten (je nach Art und Umfang der Exposition) empfohlen. Der Verordnungsgeber gibt in der AMR 2.1 zunächst ebenfalls dieses Zeitfenster an, verweist dann aber da-rauf, dass – soweit ein anerkanntes Verfahren des Biomonitorings existiert – bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden und erbgutverändernden Stoffen oder Zubereitungen der Kategorie 1 und 2 im Sinne der Gefahrstoffverordnung Angebotsuntersuchungen in einem Zeitfenster von 6 bis 48 Monaten zu erfolgen haben. Es ist sehr bedauerlich, dass diese wichtigen Informationen den Betriebsärzten in den DGUV Grundsätzen nicht vorgestellt werden.
- Auch beim DGUV Grundsatz 46 „Belastungen des Muskel- und Skelettsys-tems einschließlich Vibrationen“ stim-men die Untersuchungsfristen (nach 60 Monaten, ab 40 Jahren nach 36 Monaten) nicht mit den staatlichen Re-gelungen der AMR 2.1 – z. B. für Vibrationen – überein. Dort werden unter Berücksichtigung der entsprechenden Krankheitsbilder deutlich kürzere Untersuchungsfristen vorgeben (wenn die Expositionsgrenzwerte A(8) = 5 m/s2 für Tätigkeiten mit Hand-Arm-Vibratio-nen erreicht oder überschritten werden: 1. Nachuntersuchung: 6–12 Monate, jede weitere Nachuntersuchung 12 bis 24 Monate; wenn die Expositionsgrenzwerte A(8) = 1,15 m/s2 in X- und Y- Richtung und A(8) = 0,8 m/s2 in Z-Richtung für Tätigkeiten mit Ganzkorper-Vibrationen erreicht oder überschritten werden: 1. Nachuntersuchung: 12 Monate, jede weitere Nachuntersuchung 60 Monate).
Insgesamt zeigt sich, dass die DGUV Grund-sätze nur bedingt dem arbeitsmedizinischen Erkenntnisstand und dem geltenden staat-lichen Regelwerken entsprechen. Der prak-tisch tätige Betriebsarzt muss letztendlich selbst entscheiden, ob ihm für seine arbeits-medizinische Tätigkeit mit einem Kompen-dium der DGUV wirklich gedient ist, das er zunächst einmal mit den gesetzlichen Vorgaben abgleichen muss, um zu erken-nen, ob er sich bei Anwendung der DGUV Grundsätze rechtskonform verhält. Der im Vorwort gemachte Hinweis, dass die neuen DGUV Grundsätze die arbeitsmedizinischen Untersuchungen von der ArbMedVV und an-deren Rechtsgrundlagen für Untersuchungs-anlässe entkoppeln und sich nunmehr am Arbeitssicherheitsgesetz und am SGBVII orientierten, hilft keinem Betriebsarzt bzw. keiner Betriebsärztin in der täglichen Praxis weiter. Zudem werden die DGUV Grundsätze auch dem selbst vorgegebenen Anspruch nur bedingt gerecht. Nach SGBVII zählt es zu den Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung, mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Wie dies mit den DGUV Grundsätzen gelingen soll, bleibt unklar, zumindest dann, wenn man den hieran im Bereich der Vorsorge maßgeblich beteiligten Betriebsärzten und Betriebsärztinnen vom Stand der Arbeitsmedizin und dem staat-lichen Regelwerk abweichende Informationen an die Hand gibt.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es für praktisch tätige Betriebsärzte und Betriebsärztinnen hilfreich sein kann, wenn sie ihr eigenverantwortliches ärztliches Handeln mit arbeitsmedizinischen Empfehlungen abgleichen können. Es gibt aber auch Kolleginnen und Kollegen, die der Meinung sind, dass bei Facharztstandard – wie dieser in Deutschland in der gesamten Medizin besteht – entsprechende Empfehlungen nicht erforderlich sind. Will man jedoch auf entsprechende Empfehlungen zurückgreifen, müssen diese in Kooperation mit der Arbeitsmedizin in einem für alle offenen und transparenten Verfahren erarbeitet und an das geltende Recht angepasst werden. Bestehende Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) könnten hierfür eine gute Grundlage sein. Dass diese wie z. B. im Anhang 3 „Biomonitoring“ der DGUV Grundsätze nicht einmal zitiert werden, kann die Qualität der DGUV Grundsätze nur weiter in Frage stellen.
Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Stephan Letzel
Vorsitzender des AfAMed