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“Mich wundert, dass ich fröhlich bin“

Vor 14 Jahren erschien in dieser Zeitschrift ein Beitrag aus dem Kreis der Gewerbeärzte (Weinssen et al. 1991)1 mit dem Titel „Gewerbearzt – quo vadis“. Schaut man sich heute in den Gewerbeärztlichen Dienststellen in Deutschland um, so muss man es schon drastischer ausdrücken: „Wohin wirst du gestoßen?“

Allein die Zahlen demonstrieren einige Dramatik: Schaut man in den letzten greifbaren Bericht der Bundesregierung über Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (SuGA) von 2011, so beträgt die Zahl der Gewerbeärzte 90. Zehn Jahre zuvor waren es noch 147 (SuGA 2001). Goch u. Peters (1986)2 zählen in der „alten“ Bundesrepublik 1985 noch 92 Planstellen, Thürauf (1994)3 für die Jahre 1992/93 im wiedervereinigten Deutschland 155 Stellen. Der Absturz in Zahlen wäre noch schlimmer, würden da nicht die Bayern, bei denen inzwischen ein Viertel aller gewerbeärztlichen Stellen in Deutschland zu finden ist, das Fähnlein noch hochhalten. Dort ist die Zahl der Stellen „nur“ um fünf (entspricht –18 %) auf 23 gesunken. In drei Bundesländern sind mehr als die Hälfte der Stellen den diversen Verwaltungsreformen zum Opfer gefallen, in Sachsen-Anhalt 70 %. Die Entwicklung scheint noch nicht an ihrem Tiefpunkt angekommen zu sein.

Gewiss, im gleichen Zeitraum ist auch das Personal im Arbeitsschutz in Deutschland insgesamt von 4000 auf 3000 Stellen geschrumpft. Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer kleinen Anfrage der „Grünen“ Anfang Juli 2012 diese Entwicklung entsprechend gewürdigt. Sie stellt fest, dass „das im SuGA dargestellte Personal der Aufsichtsbehörden der Länder eine Vielzahl von Aufgaben ergänzend zum Arbeitsschutz bzw. außerhalb des Arbeitsschutzes wahrnimmt. … Die Personalressourcen, die in den Ländern ausschließlich für den Arbeitsschutz zur Verfügung stehen, dürften damit niedriger liegen als im SuGA dargestellt.“ Und im weiteren Text heißt es „Gleichwohl beobachtet die Bundesregierung den Personalabbau bei der Arbeitsschutzaufsicht der Länder nicht ohne Sorge.“ Die Bundesregierung kann sich diese milden Worte der Kritik leisten; sie besitzt keine Zuständigkeit für die Durchführung des Arbeitsschutzes.

Die Stellendynamik ist jedoch nur ein äußerlich sichtbares Zeichen einer Entwicklung. Insgesamt verändert sich die Stellung der Gewerbeärzte im staatlichen Arbeitsschutz seit längerer Zeit:

  • Die Einbindung in die technisch orientierten Arbeitsschutz-Aufsichtsbehörden unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. Sie reicht von fester struktureller Einbindung in die Arbeitsschutzbehörde über eine eigenständige Dienststelle im gleichen Ressort bis zur gänzlichen Ausgliederung und Zuordnung beispielsweise zum Öffentlichen Gesundheitsdienst. Der Grad der Einbindung bestimmt jedoch langfristig die Zusammenarbeit. Je weiter der institutionelle Abstand ist, desto schneller gerät der Gewerbeärztliche Dienst in der Arbeitsschutzbehörde in Vergessenheit. Dabei ist die Beratung der Arbeitsschutzbehörde eigentlich die erste und immer eine zentrale Aufgabe der Gewerbeärzte gewesen. Trotz eines stark aufgefächerten Arbeitsschutzrechtes in die Breite und Tiefe mit hunderten von Gesetzen, Verordnungen und Technischen Regeln gibt es viele Gelegenheiten, sich des arbeitsmedizinischen Sachverstandes der Gewerbeärzte zu bedienen. Das setzt aber persönliches Kennen und Vertrauen voraus. Der Stellenabbau erfordert die Zentralisierung der Kräfte. Damit besteht die Gefahr, dass der Abstand zur technischen Aufsicht wächst.
  • Die Gewerbeärzte haben seit 1937 als die „für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle“ besondere Aufgaben im Berufskrankheiten-Verfahren. Diese haben über Jahrzehnte die Tätigkeit der Gewerbeärzte bestimmt. Gewerbeärzte haben BK-Patienten untersucht und begutachtet oder später zumindest selbst Gutachten in Auftrag gegeben, bewertet und den Unfallversicherungen Empfehlungen zur Bescheid-erteilung gegeben. Die Unfallversicherungen als Herren des BK-Verfahrens haben die Leistungen gern in Anspruch genommen. Mit zunehmender Spezialisierung im Begutachtungswesen, der immens gestiegenen fachlichen und technischen Voraussetzungen für die begutachtenden Stellen und der Verpflichtung von Beratungsärzten bei den Unfallversicherungen ist dieses frühere „Monopol“ der Gewerbeärzte längst Vergangenheit. In vielen Gewerbeärztlichen Diensten wird lediglich noch ein Bruchteil der BK-Fälle ärztlich bewertet; echte Zusammenhangsgutachten mit Untersuchung von Patienten, Funktionstests etc. finden kaum noch statt. Der Gewerbearzt ist zu einer Art Revisionsinstanz bei beabsichtigter Ablehnung eines BK-Falls durch die Unfallversicherung geworden. Ein Teil der BK-Anzeigen erreicht den Gewerbearzt gar nicht mehr, trotz gesetzlicher Regelung.
  • Die Gewerbeärzte spüren besonders die demografische Entwicklung. Die Tätigkeit als Gewerbearzt oder -ärztin ist angesichts des Mangels an Arbeitsmedizinern und des Angebots an arbeitsmedizinischen Stellen in der freien Wirtschaft finanziell wenig attraktiv. Die Vergütung orientiert sich nicht einmal an den Tarifen für Ärzte im Krankenhaus. Die Möglichkeiten zur Weiterbildung zur Gebietsbezeichnung Arbeitsmedizin – früher ein wichtiges Argument für die Bereitschaft zur Anstellung – sind heute wegen der Erfüllung eines differenzierten Weiterbildungskatalogs nicht mehr so einfach erfüllbar. Wenn Weiterbildung doch noch stattfindet, so locken anschließend gut bezahlte Stellen außerhalb der Behörde. Hinzu kommt noch der in den meisten Ländern verordnete Stellenabbau im öffentlichen Dienst. Das kann faktisch für viele Jahre heißen: Jede frei werdende Stelle wird aus dem Stellenplan gestrichen. Neueinstellungen sind damit in einigen Ländern grundsätzlich nicht mehr möglich.

Diese Fakten könnten resignieren lassen. Sie können umgekehrt auch zu Überlegungen führen, wie man sich den Gegebenheiten anpasst und neue Wege beschreitet, die die gewerbeärztlichen Aufgaben wieder attraktiver machen.

Das Arbeitsschutzgesetz hat 1996 das Feld des Arbeitsschutzes neu abgesteckt. Der Arbeitsschutz beschränkt sich nicht mehr auf den Schutz von Leben und Gesundheit der arbeitenden Menschen, sondern bezieht die menschengerechte Gestaltung der Arbeit ein. Das betrifft besonders die psychischen Belastungen bei der Arbeit, deren Folgen gegenwärtig zu einer anhaltend steigenden Zahl von Arbeitsunfähigkeiten und Frühberentungen führen. Die technisch orientierte staatliche Arbeitsschutzaufsicht benötigt arbeitspsychologischen Sachverstand für die Beratung der Arbeitgeber, für die Bewertung der betrieblichen Maßnahmen und für die Übersicht, wie die Betriebe das Problem angehen. Wegen der fachlichen Nähe zur Arbeitspsychologie bietet sich der Staatliche Gewerbearzt als Heimat für diese Thematik an. Das bedeutet allerdings Integration nichtärztlicher akademischer Fachleute. In einigen Bundesländern ist dies schon geschehen.

In engem Zusammenhang mit der Arbeitspsychologie steht das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) und die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF). Hier gibt es zwar keine gesetzlichen Vorgaben für die Arbeitsschutzaufsicht, wenn man von der Überprüfung des Arbeitsschutzmanagements absieht. In Anbetracht des zunehmenden Mangels an jungen Arbeitskräften, der Alterung der Belegschaften, der Leistungsanforderungen an den Arbeitsplätzen und des Wandels der Arbeit weg von körperlicher Tätigkeit zu Sitzberufen sollten im staatlichen Arbeitsschutz auch für dieses Thema Fachleute zur neutralen Beratung von Betrieben zu finden sein.

Beratung und Überwachung der Betriebe sind die Aufgaben des staatlichen Arbeitsschutzes (§ 21 ArbSchG). Beratung und Information sind deshalb weiterhin starke Begriffe für das Selbstverständnis der Gewerbeärzte. Sie richten sich einerseits an die Arbeitsschutzaufsicht, andere Behörden, Ministerien, stehen andererseits auch Arbeitsschutzverantwortlichen in den Betrieben, vor allem Betriebsärzten, zur Verfügung. Netzwerke innerhalb und außerhalb des Internets sind eine wichtige Hilfe für alle, die im Arbeitsschutz tätig sind. Sie ersetzen aber nicht die individuelle fachliche arbeitsmedizinische Beratung, die der Staatliche Gewerbearzt als neutrale Institution bietet. Das wird von vielen Nachfragenden so wahrgenommen. Gerade in kleinen Betrieben sind manchmal elementare Grundlagen des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit nicht präsent. Auch mit einem Angebot von Fortbildungen kann der Gewerbearzt in einer arbeitsmedizinischen Fortbildungslandschaft punkten.

Das Berufskrankheitenverfahren wird in der gewerbeärztliche Arbeit auch zukünftig eine Rolle spielen. Der Gewerbearzt findet sich heute – in den meisten Bundesländern – eher in der Rolle des Prüfers bei einzelnen Verfahren mit der Möglichkeit zum Nachbessern. Neben dieser unverzichtbaren (!) Funktion wäre auch ein epidemiologischer Ansatz denkbar, wobei beispielsweise betriebs- oder tätigkeitsbezogen Daten ausgewertet und gegebenenfalls in Projekten die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsschutzmanagement genauer zu untersucht werden (Systemkontrolle).

Bei diesen Herausforderungen stellt sich für den Gewerbearzt die Frage der existentiellen Notwendigkeit eigentlich nicht. Notwendig ist vielmehr, dass der Arbeitsschutz insgesamt wieder ein größeres Gewicht bekommt und politisch nicht nur als bürokratische Last wahrgenommen wird. Davon würden auch die Staatlichen Gewerbeärzte profitieren. Anzeichen eines Umdenkens sind erkennbar. Damit wächst die Hoffnung, dass der Weg wieder aufwärts weist. Der dem Magister Martinus von Biberach zugeschriebene Spruch „Ich leb und waiß nit wie lang / ich stirb und waiß nit wann / ich far und waiß nit wahin / mich wundert das ich frölich bin“ lässt sich auch auf das Dasein der Gewerbeärzte anwenden. Man muss sich diese Fröhlichkeit angesichts der Ungewissheiten der Zukunft bewahren.

Dr. med. Peter Michael Bittighofer

Staatlicher Gewerbearzt

Fußnoten

 1 Weinssen U, Bolm-Audorff U, Kayser T, Slupinski H: Gewerbearzt quo vadis? Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 1999; 34: 124–127

 2 Goch S, Peters T: Der Staatliche Gewerbearzt als Repräsentant des medizinischen Arbeitsschutzes. Arbeitsmed Sozialmed Präventivmed 1986; 21: 109–111.

 3 Thürauf JR: Gewerbeärztlicher Dienst – Bedarfsgerecht strukturiert? Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 1994; 29: 479–481.

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