Herr Dr. Krämer hatte die Patientin, Frau Loge, untersucht. Es war um die Feststellung der Arbeitsfähigkeit im Rahmen einer Krankentagegeldversicherung gegangen. Bei Frau Loge war vor ca. 5 Monaten ein gutartiger Hirntumor operiert worden. Es hatte sich um ein symptomfreies Falxmeningeom gehandelt, ein Zufallsfund bei einer Schädel-CT nach einer bei einem Fahrradunfall erlittenen Gehirnerschütterung.
Die Patientin hatte nunmehr einen Beschwerdebrief an die Privat-versicherung geschrieben. Darin stand, dass Herr Dr. Krämer die Unverschämtheit besessen habe, sie im Rahmen einer 2-stündigen Untersuchung ausgiebig über ihr privates und familiäres Umfeld auszufragen. Die eigentliche körperliche Untersuchung hätte nur 10 Minuten gedauert. Sie hätte sich nackt ausziehen müssen. Der Arzt hätte sie aufgefordert, die Beine zu spreizen. Sodann wären Umfang und Länge ihrer Beine akribisch mit Hilfe eines verschlissenen Schneidermaßbandes erfasst worden. Weiterhin hätte Herr Dr. Krämer auch noch Ihren Brustumfang in Höhe des Busens, ihren Taillenumfang und ihren Hüftumfang inkl. Po vermessen. Sie hätte sich befummelt und entwürdigt gefühlt. Die Untersuchung hätte in einem Gewölbekeller ohne Fenster auf einer schäbigen Pritsche mit einem schmuddeligen Handtuch stattgefunden. Der Arzt hätte sich vor der Untersuchung zudem nicht die Hände desinfiziert. Dass ihr eine mehr als fünfzigprozentige Arbeitsfähigkeit bescheinigt worden war, sei nicht nachvollziehbar. Sie könne in ihrem Job als Pharmareferentin nur hundert Prozent arbeiten oder gar nicht.
Die Zusendung des Beschwerdeschreibens an Dr. Krämer wurde von dem Case-Manager der Privatversicherung am Telefon aufgeregt kommentiert. „Wenn das meine Chefin zu lesen bekommt, dann gnade uns Gott. Sie kommt aus der Politik. Und ihre Orientierung im zwischen-menschlichen Bereich ist mir noch un-klar. Political Correctness existiert für sie nur in eine Richtung. Sie glaubt, alle Ärzte seien Schurken und Schweine.“
„Das ist das erste Mal in meiner jahrzehntelangen Laufbahn als Arzt und Gutachter, dass mir sexistische Grenzüberschreitungen vorgeworfen werden“, erwiderte Dr. Krämer. „Das Einzige, was ich da machen kann, ist eine Gegendarstellung.“
„Aber bitte schnell“, flehte der Sachbearbeiter, „es existiert bereits eine Vorstandsvorlage.“
Widerwillig setzte sich Dr. Krämer hin und formulierte seine Stellungnahme. Er schrieb, die umfassende Anamnese sei ein Kern-element einer sachgerechten ärztlichen Diagnostik und Begutachtung darstellen würde. Auch die gründliche körperliche Untersuchung sei essentiell. 70 bis 80 % aller Diagnosen könnten bereits mit Hilfe der klinisch-physikalischen Untersuchung erfasst werden. Frauen müssten sich bei ihm regelhaft nur bis auf BH und Unterhose entkleiden. Umfang- und Längenmaße der Gliedmaßen seien von ihm nicht ermittelt worden, da es sich bei Frau Loge nicht um eine orthopädische Erkrankung gehandelt habe. Deswegen würden auch entsprechende Angaben im Protokoll fehlen. Wenn eine Vermessung der Gliedmaßen durchgeführt worden wäre, dann hätten die 10 Minuten Gesamtuntersuchungszeit bei weitem nicht ausgereicht. Insbesondere wäre auch niemals die Aufforderung ergangen, die Beine zu spreizen. Es hätte sich schließlich nicht um eine gynäkologische Untersuchung gehandelt. Deswegen sei auch ein Ab-tasten der Mammae unterblieben. Körperberührungen würde er seit jeher auf das absolut notwendige Maß reduzieren. Der Untersuchungsraum und die Untersuchungsliege würden alle vorgeschriebenen baulichen, technischen und hygienischen Standards erfüllen. Es existiere ein Fenster mit Tageslicht. Benachbart befände sich ein Patienten-WC mit Waschgelegenheit. Das Handtuch würde täglich gewechselt werden, und er würde sich die Hände regelmäßig nach einer körperlichen Untersuchung desinfizieren und waschen. Meh-rere Tausend Patienten wären in diesen Räumlichkeiten untersucht worden. Keiner hätte sich bislang über angebliche Mängel beschwert. Seine sozialmedizinische Einschätzung einer mehr als 50 %igen Arbeitsfähigkeit würde er bestätigen. Im Übrigen behalte er sich Klage auf Unterlassung vor, wenn die Patientin bei ihren falschen, ehrabschneidenden und diffamieren Äußerungen bliebe oder diese an anderer Stelle wiederholen würde.
Dr. Krämer schickte diese seine schriftliche Stellungnahme noch am selben Tag an die Versicherung, in der voreiligen Gewissheit, dass damit die Sache aus der Welt geräumt sei. War sie auch. Von dieser Versicherung erhielt er fürderhin nie mehr einen Gutachtenauftrag.
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