Das Radio-Symphonieorchester (RSO) Wien ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Kulturträger des österreichischen Rundfunks. Das RSO fühlt sich der Tradition des Wiener Orchesterspiels verbunden und ist bekannt für seine außergewöhnliche und mutige Programmgestaltung. Häufig wird das klassisch-romantische Repertoire in einen un-erwarteten Kontext gestellt, indem es mit zeitgenössischen Stücken und selten aufgeführten Werken anderer Epochen verknüpft wird. Das Programmspektrum reicht von der Vorklassik bis zur zeitgenössischen Musik. Derzeit musizieren 98 Künstler unter dem Dirigenten Cornelius Meister.
Ganzheitliches Wissen um die Belastung und die individuellen Beanspruchungen der Orchestermusikerinnen und -musiker sind die Grundlage arbeitsmedizinischen Handelns. Musikerarbeitsplätze werden grundsätzlich gemäß des österreichischen Arbeit-nehmerschutzgesetzes und der Verordnung Lärm und Vibrationen evaluiert. In vorangeführter Verordnung wurde die EU-Richtlinie 2003/10/EG in nationales Recht umgesetzt.
Verpflichtende Gehöruntersuchungen in Österreich
Gehöruntersuchungen, einschließlich Audio-metrien, sind vor Aufnahme der Tätigkeit ver-pflichtend durchzuführen, danach sind die Untersuchungen alle fünf Jahre vom Arbeitgeber durch einen ermächtigten Arzt anzubieten; die Teilnahme an Folgeuntersuchungen ist freiwillig. Erstaunlicherweise konnte ich in all den Jahren kaum gravierende Gehörschädigungen feststellen. Die Zahl der von mir beobachteten Hörstürze entsprach der Inzidenz der Allgemeinbevölkerung. In diesem Zusammenhang denke ich an die Studie von Strasser et al. aus dem Jahre 2004, in der die klassische Musik im Vergleich zu weißem Rauschen, Heavy Metal Musik und Industrielärm deutlich geringere Hörschwellenverschiebungen aufwies.
Der vorliegende Bericht beschränkt sich auf Beispielhaftes und verzichtet somit auf umfassende Themenerläuterungen.
Gefahren für das Musikergehör
Gefahren für das Musikergehör sind nicht nur im Konzertsaal zu erwarten. Akustische Unfälle durch Tonverstärker, Knalltraumen durch pyrotechnische Sätze und besondere szenische Darstellungen können gehörgefährdend sein.
Arbeitsmedizinische Empfehlungen müssen den Produktionsverantwortlichen gegenüber nachweislich und mit Hinweis auf juristische Aspekte bei eventuell eintretenden Gesundheitsschäden klar ausgesprochen und dokumentiert werden.
Da Bühnenflächen bzw. Orchestergräben unumstößliche räumliche Dimensionen aufweisen können, kommt hinsichtlich der Schallexposition der Sitzordnung und der Verwendung von Stellwänden eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Mikroperforierte Acrylmaterialien unterschiedlicher Breiten und Neigungen vor Blechbläsern und Schlagwerkern verdienen Beachtung. Diskussionen wegen schallverstärkender Reflexionen sind naturgemäß keine Seltenheit. Der zweifelsfrei sinnvolle Gehörschutz in Form von Otoplastiken führt zu einer Ver-stärkung der Knochenschallwahrnehmung und damit eventuell zur veränderten Wahrnehmung des eigenen Instrumentes. Bläser haben mir dies mehrfach berichtet.
Nicht nur gut sitzen – auch gut sehen
Ergonomisches Sitzen, altersgerechte Beleuchtungsstärken mit gleichmäßiger Aus-leuchtung des Notenblattes an den Notenpulten sowie gute Notenqualität sollten in der heutigen Zeit nicht mehr zu Problemen führen. Spiegelndes Notenpapier und spiegelnde Druckerschwärze sollten der Vergangenheit angehören. Stapelbarkeit von Musikerstühlen dürfen nicht zu Lasten des richtigen Sitzens führen.
Eine eventuell erforderliche Korrektur des binokularen Sehens beugt Doppelbil-dern ermüdeter Augen vor. Beachtung verdienen Bühnenscheinwerfer, die nach der EN 62471, photobiologische Sicherheit von Lampen und Lampensystemen, in Risikogruppe 3 eingestuft werden. UV-Gefährdung kann durch Scheinwerfer mit Glasbruchsicherung nahezu ausgeschlossen werden. HMI- und LED-Scheinwerfer, auch mit weißer Lichtfarbe, vermögen unter bestimmten Umständen photochemische Re-aktionen in der Retina auszulösen. Die Austrian Seibersdorf Laboratories haben daher eine Reihe von Halogen-, HMI- und LED-Bühnenscheinwerfern einer diesbezüglichen Evaluierung unterzogen. Die Erkenntnisse werden von der ORF-Lichtplanungsabteilung durch eigene Messungen ergänzt; ich stehe diesbezüglich in regelmäßigem Kontakt mit den hauseigenen Experten. Für eine praxisorientierten Beurteilung sollten die Herstellerangaben unter anderem Datenblätter nach PLASA (Professional Lighting And Sound Association) enthalten.
In der allgemeinmedizinischen Beratung dominieren Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparats. Akute Überlastungsverletzungen und Schmerzsyndrome, die länger als 14 Tage andauern, erfordern unterschiedliche therapeutische Strategien. Allgemeine und instrumentenspezifische Dehnungs- und Kräftigungsübungen sollten Allgemeingut sein. So manches Diabetes-regime, manche Asthmatherapie und weitere internistische Aspekte sind Inhalte arbeitsmedizinischer Sprechstunden. Musikerspezi-fische Erkrankungen, wie fokale Dystonien, werden zur fachärztlichen Betreuung weiter geleitet. In arbeitsmedizinischen Konsulta-tionen sollten meines Erachtens die Eigen-verantwortung zur Erhaltung der Gesundheit und Aspekte zur Förderung der persönlichen Ressourcen zum Inhalt haben.
Auswärts verordnete Medikamente mit ototoxischem Potenzial sind keine Selten-heit; gleiches trifft auch auf ausführliche Konsultationen über Angsterkrankungen und die Einnahme von Betablockern zu. Hier gilt es, der Selbstmedikation von Beta-blockern vorzubeugen und auch über deren Nebenwirkungen zu informieren.
Psychosoziale Belastungen
Die Novelle 2013 des Arbeitnehmerschutzgesetzes hat alle Arbeitgeber zur Evaluierung der psychosozialen Belastungen am Arbeitsplatz verpflichtet. Im November 2013 habe ich diese Evaluierung im gesamten ORF-Konzern und somit auch im Orchester durchgeführt. Zum Einsatz kam hierbei der COPSOQ- (Copenhagen Psychosocial Questionnaire) Fragebogen, der mir zur Erfassung der psychischen Belastungen und Beanspruchungen als besonders geeignetes Screening-Instrument erschien.
Im Rahmen wissenschaftlicher Studien arbeitete der arbeitsmedizinische Dienst des ORF in der Vergangenheit mehrfach mit der medizinischen Universität Wien zusammen. Zuletzt führten wir eine Studie zur Stressbelastung und Erforschung cortisol-unabhängiger Stressmarker durch. Untersucht wurden die Stressreaktionen bei 47 Musikern und dem Dirigenten des RSO bei der Generalprobe und am folgenden Premierentag im Wiener Musikverein. Neben den biochemischen und emotionalen Faktoren wurde auch der Faktor „generelle Arbeitsfähigkeit“ anhand des sog. Arbeitsfähigkeitsindexes (Work Ability Index des WAI-Netzwerks Deutschland) mit Fragen zur Arbeitssituation, der Gesundheit, zu früheren Erkrankungen und zur Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit untersucht. Es zeigte sich, dass die Arbeitsfähigkeit in Bezug auf die beobachteten stressinduzierten Effekte keine Rolle spielte. Die Studie wurde im Journal Brain, Behavior und Immunity publiziert (Pilger et al. 2014).
Musiker auf Reisen
Tourneebegleitungen nach China und Japan vertieften den Kontakt zu den Musiker. Hilfe in medizinischen Nöten, der gemeinsame Tempelbesuch und verlässliche, aktuelle Informationen wie zuletzt bei der Tournee nach der Katastrophe in Fukushima schufen zusätzliches Vertrauen. Ich konnte die Musiker täglich durch eigene Messungen über die momentane Ortsdosisleistung (Gamma-strahlung) und die aufgenommene Dosis informieren.
Raumklimatische Messungen einschließ-lich der Kohlendioxidkonzentration, Organisation von Seminaren über Alexander-Technik und Optimierung der akustischen Bedingungen in den Proberäumen seien noch erwähnt.
Ausblick
In Planung ist zurzeit ein Projekt zur Früh-erkennung von Defiziten der Stützapparatmuskulatur. Nach Anfertigung von Röntgenbildern der HWS, BWS und LWS sowie des Beckens im Stehen und orthopädischer Untersuchung erfolgt eine standardisierte Messung der Muskelkraft von Agonisten und Antagonisten der Stützapparatmuskulatur. Daran schließt sich eine individuelle Trainingsphase an, die nach 12 respektive 24 Trainingseinheiten mit Kontrollmessungen begleitet wird.
Literatur
Pilger A, Haslacher H, Ponocny-Seliger E et al.: Affective and inflammatory responses among orchestra musicians in performance situation. Brain, Behavior, and Immunity 2014; 37: 23–29
Beispiel
Im Jahre 1997 konzertierte das RSO im Rahmen einer Theateraufführung im Wiener Messepalast. Der Regisseur sah in einer Szene eine Schussabgabe durch 45 Komparsen vor. Das RSO musizierte zwischen Bühne und Publikum. Ich habe damals während der Proben Lärmmessungen durchgeführt und die Verantwortlichen danach auf die Notwendigkeit einer Musizierpause hingewiesen. In dieser Pause sollten alle Musiker Gehörschutz tragen.
Info
Die Österreichische Gesellschaft für Musik und Medizin lädt ein zu Jahrestagung vom 19.–21. März 2015 in der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Thema: Fit on Stage – Rock, Pop, Jazz, ... Xundheit. Ein Symposium zum Umgang mit mentalen und körperlichen Belastungen von MusikerInnen im Bereich der Popular-musik
Weitere Infos
Homepage der Österreichischen Gesellschaft für Musik und Medizin (ÖGfMM)
Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSPQ)
http://www.copsoq.de/assets/pdf/COPSOQ-Standard-Fragebogen-2014.pdf
Autor
Dr. med. Karl Böhm
Arbeitsmedizinischer Dienst des österreichischen Rundfunks (ORF)
1136 Wien – Würzburggasse 30
Österreich