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Digitalisierung der sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Betreuung

Ulf-Joachim Schappmann

Foto: privat

Ulf-Joachim Schappmann

BHI: Wie sehen Sie als Leiter des Fachbereichs Gefahrstoffe die Möglichkeiten der Digitalisierung innerhalb der sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Betreuung?

UJS: Die Möglichkeiten der Digitalisierung sind für mich in erster Linie nützliche Hilfsmittel, die die Betreuung von Unternehmen effizienter machen. Es ist inzwischen so viel einfacher, sich Informationen schnell und zielgerichtet zu beschaffen, zum Beispiel bei der Recherche für bestimmte Sachverhalte.

Für die betriebliche Betreuung kann man sich beispielsweise jederzeit und aktuell über Gefahrstoffe kundig machen. Man kann sich besser und gezielter darüber informieren, mit welchen Gegebenheiten vor Ort zu rechnen ist und welche Schutzmaßnahmen notwendig sind beziehungsweise welche Maßnahmen ausgebaut oder optimiert werden müssen.

Natürlich sind viele diese Informationen auch in analoger Form vorhanden, aber durch die Digitalisierung ist es so viel einfacher, sich notwendige Informationen, aber auch bei Bedarf wichtige Hilfestellungen (z. B. im Not- oder Schadensfall) schnell zu beschaffen und die gewonnene Zeit für die zeitnahe Übermittlung an oder die Aufbereitung für die Anwendenden zu nutzen.

BHI: Können Sie uns Beispiele für die Nutzung digitaler Tools für die Arbeit mit Gefahrstoffen nennen?

UJS: Das kann ich sehr gerne, aber ich möchte hier betonen, dass es sich wirklich nur um einen Auszug an Beispielen handelt. Inzwischen gibt es ja eine ganze Reihe digitaler Tools, die von unterschiedlichen Anbietern bereitgestellt werden.

Da wären zum Beispiel die GISBAU (das Gefahrstoff-Informationssystem der BG Bau), wo bereits seit mehr als 15 Jahren umfassende Informationen zusammengestellt sind, die insbesondere den Bereich der baulichen Tätigkeiten in Zusammenhang mit Gefahrstoffen betreffen.

Das Pendant für die chemischen Industrie und die Holz- und Metallbranche nennt sich GisChem. Auch hier handelt es sich um ein Gefahrstoffinformationssystem für Chemikalien, das von der BG RCI (Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie) und der BGHM (Berufsgenossenschaft Holz und Metall) betrieben wird. Neben allgemeinen und nützlichen Informationen gibt es hier auch interaktive Möglichkeiten sowie zum Beispiel einen Gemischrechner. Alles ist online und überall (mit Internetzugang) verfügbar (siehe „Weitere Infos“ am Ende des Beitrags).

Diese Beispiele stehen für eine Vielzahl an digitalen Möglichkeiten, sich im Bereich der betrieblichen Sicherheit und Gesundheit auf dem Laufenden zu halten. Viele dieser Informationen hat es auch vorher schon als digitale Medien auf CD gegeben – durch den Wechsel auf die onlinebasierten Medien können sie aber tagesaktuell von Fachleuten auf dem laufenden Stand gehalten werden.

Auch wenn ich Unternehmen berate, kann ich darauf hinweisen, wo man sich ganz einfach über beispielsweise chemische Gefahrstoffe informieren kann und notwendige Unterlagen hinterlegt sind, da die Informationen oft für alle zugänglich sind.

Die GESTIS-Stoffdatenbank der DGUV oder das Online-Portal „Gefahrstoffinformationssystem für den naturwissenschaftlich-technischen Unterricht der Gesetzlichen Unfallversicherung (DEGINTU)“ für (Chemie-)Lehrkräfte an Schulen sind ebenfalls digitale Tools, die im Alltag Anwendung finden und Hilfestellung für viele Bereiche darstellen. Es sind Werkzeuge, die letztendlich dem Endanwendenden dienen, aber auch für mich als Berater eine große Hilfestellung sind.

BHI: Wie können Sifa und Betriebsärztinnen und -ärzte diese Tools in ihrer Beratungstätigkeit nutzen?

UJS: Wie eben bereits erwähnt, sind viele der digitalen Tools, insbesondere die digitalen Datenbanken, ein hilfreiches Werkzeug für den Alltag als Sifa und Betriebsärztin/-arzt. In der Beratungstätigkeit kann ich mich hier tagesaktuell über Sachstände informieren, aber eben auch schnell weitergeben, wo diese Informationen für die Beschäftigten und Führungskräfte online zur Verfügung stehen.

Stellen Sie sich doch einmal kurz vor, wie es noch vor einigen Jahren gewesen ist: Da gab es ein Sicherheitsdatenblatt, ausgedruckt auf Papier. Ohne entsprechendes Fachwissen war dies für die „normalen“ Anwendenden im Unternehmen kaum nutzbar. Die mögliche Konsequenz war in der Regel irgendetwas zwischen Überforderung und Resignation und resultierend daraus unter Umständen die Nichterfüllung rechtlicher Pflichten.

Durch das „zur Verfügung stellen“ der Informationen im Online-Bereich, haben natürlich nicht alle Beschäftigte oder Führungskräfte automatisch Fachwissen. Oft ist es aber schon hilfreich genug, wenn Beschäftigte den Hinweis erhalten, wo sie nach Informationen suchen können und diese auch verständlich aufbereitet bekommen.

Auch das ist also ein Weg, Arbeitsunfälle und Schadensfälle zu reduzieren und die Arbeit sicher und gesund zu gestalten.

BHI: Welche Vorteile und gegebenenfalls Nachteile ergeben sich daraus?

UJS: Der größte Vorteil, den ich sehe, ist die ortsunabhängige Nutzung von Inhalten und die Geschwindigkeit, in der Inhalte aktualisiert werden können. Bei speziellen Rückfragen kann spontan darauf zugegriffen werden. Kleine Bausteine können von den Betreibenden der Plattformen und Datenbanken schnell und jederzeit angepasst werden.

Zudem sind Informationen oft in verschiedenen Sprachen verfügbar; so können die Informationen allen Beschäftigten zur Verfügung gestellt werden.

Wie bei allem im Leben, gibt es trotz der vielen Vorteile auch Nachteile:

Ein wichtiger Punkt ist, dass die digitalen Inhalte oft allgemein gehalten werden müssen. Das heißt, für die Anwendung auf eine konkrete betriebliche Situation bedarf es dann doch weiterer interner Maßnahmen.

Zu den digitalen Tools zählen auch Online-Unterweisungen. Auch hier gibt es Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist zum Beispiel, die Gefährdung durch Virenübertragung auszuschließen, da sich nicht physisch begegnet wird, aber die weiteren Gefährdungen am Arbeitsplatz trotzdem im Blick sind und besprochen werden können.

Die Inhalte können online oft effizienter und bedarfsgerechter bereitgestellt werden. Allerdings ist es oft bereits bei einer analogen Unterweisung schwierig, die richtige „Pädagogik“ anzuwenden, um die Zuhörenden am Ball zu halten. Das ist online noch sehr viel schwieriger beziehungsweise es benötigt Zeit, sich hier mit interaktiven Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Zudem ist die Unterweisung im Online-Format aus rein rechtlicher Sicht nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber schreibt eine personenbezogene und mündliche Unterweisung vor.

Was aber tatsächlich schier unmöglich ist, ist online zu prüfen, ob die oder der Zuhörende die Anweisungen tatsächlich verstanden hat und auch das Gehörte umsetzen kann. Vor Ort, zum Beispiel in einer Lagerhalle, kann ich mir selbst ein Bild von der Wirksamkeit meiner vermittelten Inhalte machen.

Wir sollten hier immer bedenken: Tools sind Werkzeuge und Werkzeug bedeutet nicht „das ist es“ und „nimm mir die Arbeit ab“. Bestenfalls unterstützen uns Werkzeuge in unserem Alltag, um die Arbeit besser auszuführen.

Aber auch hier darf und sollte jederzeit reflektiert und überprüft werden: Ist das Tool, das ich nutze, das richtige? Bringt es den gewünschten Effekt?

BHI: Wird die Nutzung digitaler Tools die Wirksamkeit der Betreuung verändern und in welcher Hinsicht?

UJS: Die Nutzung digitaler Tools wird immer mehr zunehmen; fast jede BG bietet inzwischen digitale Lernplattformen an. Inhalte werden zukünftig immer schneller und einfacher zugänglich gemacht werden.

YouTube ist zum Beispiel eine Plattform, auf der Erklärfilme gefunden und genutzt werden können. Aber es kommt doch letzten Endes darauf an: Wie mache es für die Endanwendenden verständlich? Nur weil ein digitales Tool genutzt wird, heißt es nicht, dass es per se verständlich ist.

Ein Werkzeug muss einfach zu nutzen sein, sonst nutzt es keiner. Das dürfen wir nicht vergessen.

Werden also die digitalen Tools gut und sinnvoll eingesetzt, wird dies die Betreuung und die Wirksamkeit innerhalb des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin positiv beeinflussen.

BHI: Sehen Sie noch andere Chancen oder vielleicht auch Nachteile einer zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt?

UJS: Viele Dinge die man bisher nur als Science-Fiction kennt, werden sicherlich Realität werden.

Ein Beispiel: Die Star Trek/Enterprise-Reihe im Fernsehen – man konnte es sich nicht vorstellen, dass die Personen ortsunabhängig miteinander kommunizieren und nun tragen wir tagtäglich Smartphones und Smartwatches mit uns herum, die praktisch und für vieles auch hilfreich und sinnvoll sind.

Die Frage, die man sich regelmäßig stellen sollte, ist: Ist es immer noch gut oder ist es auch irgendwann zu viel? Welche Vor- und Nachteile es gibt, bestimmt immer noch die Person, die die digitalen Hilfsmittel nutzt? Wo sind die für einen selbst gezogenen Grenzen?

Wir müssen uns immer bewusst sein – auch wenn es zum Beispiel um künstliche Intelligenz geht: Immer gibt der Mensch vor, wie sich Dinge weiterentwickeln und diese werden immer nur Hilfsmittel sein.

BHI: Wie sollten die Verbände, zum Beispiel VDSI und DGAUM ihre Mitglieder bei der Umsetzung der Digitalisierung in der Arbeitswelt unterstützen?

UJS: Wir als Verbände sollten darauf hinweisen, dass die digitalen Tools nur als eine Unterstützung zu betrachten sind. Kritisches Hinterfragen bedeutet nicht automatisch, dass man Entwicklungen ausbremsen möchte, sondern mögliche Grenzen der Nutzbarkeit müssen erkannt und benannt werden.

Was passiert, wenn man etwas „laufen“ lässt, ist aktuell an vielen Stellen zu beobachten. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es oft kaum mehr möglich, noch zu handeln. So ist zum Beispiel das Thema „Hass im Netz“ inzwischen nur noch schwierig einzufangen. Wenn die Grundsätze nicht von Beginn an geklärt sind, ist es sehr schwer, wieder zurückzurudern.

Unsere Verpflichtung als Fachverband muss es sein, auf so etwas hinzuweisen und darüber im Gespräch zu bleiben. Am Ende muss immer stehen: Es geht um die Beschäftigten bei der Tätigkeit und wir liefern nur die Information, um die Tätigkeit sicher und gesund zu verrichten. Die Mischung aus dem Vorantreiben der Digitalisierung und dem kritischen Hinterfragen, welche Werkzeuge uns wirklich dienen, bleibt in Verbänden, die sich als Netzwerk verstehen, eine der großen Aufgaben der Zukunft.

ASU: Vielen Dank an Herrn Schappmann und Frau Hillesheimer für das interessante Gespräch und die Inspiration für die Zukunft der Arbeitswelt.

doi:10.17147/asu-1-211435

Weitere Infos

GISBAU – Gefahrstoff-Informationssystem der BG BAU
https://www.gisbau.de

GisChem – Gefahrstoffinforma­tionssystem Chemikalien
https://www.gischem.de

GESTIS-Stoffdatenbank – Gefahrstoffinformationssystemder Deutschen GesetzlichenUnfallversicherung
https://dguv.de/ifa/gestis/gestis-stoffdatenbank/index.jsp

DEGINTU – Gefahrstoffinformationssystem für den naturwissenschaftlich-technischen Unterricht der Gesetzlichen Unfallversicherung
https://degintu.dguv.de

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

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