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Endokrine Disruptoren — ein Arbeitsschutzproblem?

Dimension

Vor wenigen Jahren wurde abgeschätzt, für welche von über 350 Tätigkeiten der britischen Standardliste für Berufe mit einer Exposition gegen endokrine Disruptoren (ED) zu rechnen ist. Dabei wurden hormonell wirksame Pflanzeninhaltsstoffe („Phy-toöstrogene“) ausgenommen. Im Ergebnis konnte fast ein Drittel der Berufsbezeichnungen mit mindestens einer von zwölf Chemikaliengruppen endokrin schädigender Substanzen in Verbindung gebracht werden ( Abb. 1). Bei den als „nicht exponiert“ klassifizierten Tätigkeitsfeldern handelte es sich überwiegend um Führungs- und Verwaltungsaufgaben.

Benzophenone und Parabene werden in der Kosmetikindustrie als UV-Filter bzw. Konservierungsmittel eingesetzt, Bisphenol A ist Ausgangstoff für die Produktion von Kunststoffen und findet sich in Thermopapier, Kathetern oder Konservendosenbeschichtungen. Auch organische Lösungsmittel und Metalle sind allgegenwärtig. Wird die arbeitsmedizinische Prävention der Bedeutung dieses Themas gerecht? Welche Schutzmaßnahmen sollten beim beruflichen Umgang mit ED ergriffen werden?

Im Visier der EU

Die Europäische Union widmet ED seit bereits mehr als zwei Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit. Nach der „REACH-Verordnung“ 1907 / 2006 können Stoffe mit diesen Eigenschaften den „Substances of Very High Concern“ (SVHC) zugeordnet werden, die grundsätzlich zulassungspflichtig sind. Pflanzenschutzmittel und Biozide dürfen nur in wenigen Ausnahmefällen ED enthalten; die Kosmetikverordnung soll in diesem Sinn überprüft werden.

Im September 2017 hat die EU-Kommission eine „Delegierte Verordnung zur Festlegung wissenschaftlicher Kriterien für die Bestimmung endokrinschädigender Eigenschaften“ herausgebracht. Damit soll die Bewertung der Gefahren für Menschen und „Nichtzielorganismen“ vereinheitlicht werden, speziell durch Biozidprodukte. Quantitative Betrachtungen zur Höhe des Gesundheitsrisikos sind nicht Gegenstand des Dokuments; auf die „verzerrende Wirkung exzessiver Toxizität“ im Tierexperiment wird aber hingewiesen.

Einige ED, wie z. B. Tributylzinnoxid, Octabromdiphenylether oder Lindan, sind inzwischen in der EU ganz oder teilweise verboten, weil sie unter Gesichtspunkten der Umweltverträglichkeit Anlass zur Besorgnis geben.

Eigenschaften endokriner Disruptoren

In Anlehnung an die WHO hat sich die Europäische Kommission nach jahrelangen Auseinandersetzungen auf eine breite Definition geeinigt. Danach zeichnen sich ED durch drei kumulative Merkmale aus: eine endokrine Wirkungsweise, eine schädigende Wirkung und eine Kausalbeziehung zwischen beidem. Im Gegensatz zu Stoffen mit dem Etikett „krebserzeugend“ oder „sensibilisierend“ nach dem global harmonisierten System (GHS) werden sie also nicht durch ein mehr oder weniger klar umrissenes klinisches Schadbild charakterisiert, sondern durch den toxikologischen Wirkmechanismus. Ursachen einer Störung endokriner Regelkreise können die Bindung an Hormonrezeptoren mit agonistischen oder antagonistischen Effekten sein, aber auch eine Beeinflussung weiterer Schritte der Signaltransduktion oder des Metabolismus körpereigener Hormone ( Tabelle 1).

Wegen der Komplexität des endokrinen Systems kann dessen Beeinträchtigung auch eine große Fülle gesundheitlicher Folgen zeitigen. Epidemiologische Studien geben Hinweise auf Effekte auf Sexualorgane und Reproduktionsfähigkeit, Störungen des Wachstums (niedriges Geburtsgewicht) und bestimmter Stoffwechselfunktionen (Diabetes) sowie negative Einflüsse auf die kognitive Entwicklung (Lernschwäche, Aufmerksamkeitsdefizite). Auch die Entstehung von Tumoren wird mit ED assoziiert. Die weite Verbreitung hormonaktiver Substanzen in der Umwelt und Probleme bei der Abgrenzung von Subpopulationen mit unterschiedlicher Exposition bei möglichst ähnlichem Lebensstil erschweren aber das Design solcher Studien: Viele für die Zubereitung von Nahrungs- und Genussmitteln verwendete Pflanzenprodukte enthalten nämlich hormonaktive Substanzen. Beispiele sind die beachtlichen Mengen an Flavonoiden in Sojabohnen und Hopfenblüten oder Lignanen in Erdbeeren. Im englischen Bristol wurde bei Söhnen von Vegetarierinnen eine erhöhte Hypospadierate ermittelt und ein Zusammenhang mit Phytoöstrogenen diskutiert.

Systematische Sonderstellung

Die H-Sätze der 300er-Serie warnen vor gefahrstoffbezogenen Gesundheitsgefahren mit qualitativen („Kann bei Einatmen Allergie, asthmaartige Symptome oder Atembeschwerden verursachen“) oder quantitativen Aussagen („Giftig beim Einatmen“). Besondere Gefahrenhinweise für ED gibt es nicht.

Die BK-Liste der deutschen Berufskrankheiten-Verordnung nennt auslösende Noxen (z. B. BK-Nummer 1102) oder als Endpunkte bestimmte Krankheitsbilder (z. B. BK-Nr. 5101). Eine spezielle Analyse des Wirkungsmechanismus „Erkrankung aufgrund einer Störung des menschlichen Hormonsystems“ lag einer Festlegung einer Berufskrankheit bisher nicht zugrunde. Dies würde der Systematik des bisherigen BK-Rechts zuwiderlaufen. Folglich lässt sich aus dem dokumentierten Unfall- und Erkrankungsgeschehen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung nicht unmittelbar erkennen, ob Beschäftigte durch hormonaktive Substanzen geschädigt wurden.

Atypische Toxikologie?

In den letzten Jahren ist eine heftige Auseinandersetzung darüber entbrannt, ob für ED eine toxikologische Schwelle angegeben wird, deren Unterschreitung unerwünschte Wirkungen mit hinreichender Sicherheit ausschließt. Einige Fachleute stellen das „Paracelsus-Prinzip“ infrage, wonach sich die Reaktion des Organismus auf einen Schadstoff mit steigender Konzentration und Expositionsdauer verstärkt. Die Schlagworte lauten „Niedrigdosiseffekte“ und „nichtmonotone Dosis-Wirkungs-Beziehungen“.

Auch wenn hierzu noch kein wissenschaftlicher Konsens gefunden wurde, lässt sich doch feststellen, dass die diskutierten Phänomene nichts wirklich Neues und hinlänglich auch von anderen Arbeitsstoffen bekannt sind. Man denke nur an Cobalt: Eine Unterversorgung des essenziellen Spurenelements und Cobalamin-Zentralatoms führt zu Mangelerscheinungen wie Störungen der Erythropoiese. Eine zu hohe Belastung durch das Metall hingegen hat u. a. Kardiomyopathien zur Folge. Inhalative Exposition kann Fibrosen hervorrufen, bei Nagetieren entwickelten sich maligne Tumoren. Zudem kann Cobalt in relativ niedrigen Konzentrationen allergische Kontaktekzeme an der Haut auslösen.

Nichtmonotone Dosis-Wirkungs-Kurven können ihre (Teil-)Ursache darin haben, dass Sättigungseffekte auftreten, entgiftende Enzyme induziert oder andere Rückkopplungsmechanismen aktiviert werden, bei steigender Konzentration eine Rezeptor-Desensibilisierung oder Bindung an andere Rezeptoren stattfindet und antagonistische Wirkungen bzw. unterschiedliche toxikologische Endpunkte in den Vordergrund treten usw. Solche Mechanismen treten nicht exklusiv bei ED auf.

Langjährige pharmakologische Erfahrungen, etwa im Umgang mit oralen Kontrazeptiva oder Hormonpräparaten zur Bekämpfung der Osteoporose, belegen, dass auch für hormonaktive Substanzen die fundamentalen Regeln der Toxikologie gelten und für die Risikoabschätzung geeignete Tiermodelle zur Verfügung stehen. Die Annahme einer toxikologischen Wirkschwelle erscheint in Bezug auf endokrine Disruptoren plausibel, wenn sie auch – wie bei körpereigenen Hormonen – in Einzelfällen sehr niedrig liegen könnte.

Vielfach wird auch davor gewarnt, dass Organismen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich empfindlich auf Hormone und ihre Analoge reagieren. Doch auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal: Säuglinge sind bekanntlich besonders anfällig für eine Nitrit-Vergiftung, weil sie die detoxifizierende Methämoglobinreduktase noch nicht in ausreichendem Maß bilden.

Folgerungen für den Arbeitsschutz

Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die EU-Kommission bei der Begriffsbestimmung verständigt hat, liefert eine schlichte Ja-oder-nein-Antwort auf die Frage, ob eine Substanz unabhängig von der dazu in den menschlichen Organismus aufzunehmenden Menge als ED wirken kann. Bei der Ableitung toxikologisch-arbeitsmedizinisch begründeter Grenzwerte und der damit verbundenen Expositionskontrolle am Arbeitsplatz stehen quantitative Aspekte im Vordergrund. Man versucht, den „kritischen Effekt“ zu vermeiden, also den adversen Gesundheitseffekt, der bei der niedrigsten Konzentration auftritt. Dieser muss nicht notwendigerweise durch eine Störung des Hormonsystems hervorgerufen werden. Dadurch, dass solche Berechnungen ihren Ausgangspunkt beim empfindlichsten Gesundheitseffekt nehmen, soll aber gewährleistet werden, dass die Einhaltung von Grenzwerten auch vor endokrinen Wirkungen schützt – immer vorausgesetzt, dass dafür eine Wirkschwelle ermittelt werden kann.

Der Schutz vor ED am Arbeitsplatz sollte auf Grundlage der klassischen Gefährdungsbeurteilung unter Beachtung der branchenüblichen Schutzmaßnahmen erfolgen. Stoffspezifische Einstufungen können besondere Anforderungen bedingen. Dabei ist es unerheblich, ob im konkreten Einzelfall eine Einstufung nach der überkommenen Systematik, z. B. als reproduktionstoxisch oder krebserzeugend, eine Folge endokrin wirksamer Eigenschaften ist oder andere mechanistische Ursachen hat.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Autrup H et al.: Principles of pharmacology and toxicology also govern effects of chemicals on the endocrine system. Toxicol Sci 2015; 146: 1–5.

Brouwers MM et al.: Occupational exposure to potential endocrine disruptors: further development of a job exposure matrix. Occup Environ Med 2009; 66: 607–614.

Europäische Kommission: Delegierte Verordnung (EU) 2017/2100 der Kommission vom 4. September 2017 zur Festlegung wissenschaftlicher Kriterien für die Bestimmung endokrinschädigender Eigenschaften gemäß der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates. ABl EU 2017; L 301/1-5.

Nies E et al.: Endokrine Disruptoren – Informationen für eine betriebliche Gefährdungsermittlung. Gefahrstoffe – Reinhalt Luft 2017; 77: 351–362.

North K, Golding J: A maternal vegetarian diet in pregnancy is associated with hypospadias. BJU Int 2000; 85: 107–113.

    Info

    • Endokrine Disruptoren (ED) sind charakterisiert durch– eine endokrine Wirkungsweise,– eine schädigende Wirkung und– eine Kausalbeziehung zwischen beidem.
    • Mit „endokriner Disruption“ wird ein toxikologischer Wirkmechanismus beschrieben, kein Krankheitsbild.
    • Die Anwendbarkeit toxikologischer Grundprinzipien kann auch für ED vorausgesetzt werden.
    • Die wissenschaftliche Bewertung von Stoffen mit hormoneller Aktivität sollte auch quantitative Aspekte (Wirkstärke) einschließen.
    • Auf mögliche Effekte bei sehr niedrigen Dosen ist besonders zu achten.
    • Maßnahmen zum Schutz gegen ED am Arbeitsplatz können auf Basis der klassischen Gefährdungsbeurteilung und der Stoffeinstufung nach CLP-Verordnung erfolgen.

    Weitere Infos

    Study on enhancing the Endocrine Disrupter priority list with a focus on low production volume chemicals (May 2007)

    ec.europa.eu/environment/chemicals/endocrine/pdf/final_report_2007.pdf

    Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Endokrine Disruptoren

    https://www.bfr.bund.de/de/a-z_index/endokrine_disruptoren-32448.html#fragment-2

    Für die Autoren

    Dr. rer. nat. Johannes Gerding

    Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)

    Bonner Straße 337

    50968 Köln

    Johannes.Gerding@bgw-online.de

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