Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen und Hilfesuche
Psychische Erkrankungen sind unter arbeitslosen Personen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Arbeitslosigkeit hat langfristige negative Auswirkungen auf die soziale und ökonomische Situation der Betroffenen, ebenso wie auf ihr psychisches Wohlbefinden (Brand 2015). Arbeitslosigkeit kann psychische Erkrankungen verursachen; umgekehrt kann eine psychische Erkrankung zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. Unabhängig vom ursprünglichen Auslöser finden sich viele Betroffene jedoch später in einem Teufelskreis aus psychischer Erkrankung und Arbeitslosigkeit wieder. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die große Mehrheit psychisch erkrankter Arbeitsloser nicht in adäquater psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung ist und die Behandlungsteilnahme somit noch niedriger als bei berufstätigen Menschen mit psychischen Erkrankungen liegt (Bühler et al. 2013). Genaue Zahlen aus Deutschland dazu sind uns allerdings nicht bekannt. Trotz derzeit annähernder Vollbeschäftigung in Süddeutschland finden viele Menschen aus dem genannten Teufelskreis nicht oder erst nach sehr langer Zeit heraus – mit erheblichen negativen Folgen für die Betroffenen, Arbeitsvermittler und den Arbeitsmarkt (Schubert et al. 2013). Interventionen für diese Zielgruppe stoßen daher international (Moore et al. 2017) und in Deutschland (Reissner et al. 2016) auf zunehmendes Interesse.
Fragestellungen der AloHA-Studie
Vor diesem Hintergrund läuft seit 2015 mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die AloHA- (Arbeitslosigkeit und Hilfe-Aufsuchen-)Studie.
Die Studie möchte zwei Hauptfragestellungen beantworten:
- Welche Faktoren erleichtern oder erschweren Hilfesuche für psychische Erkrankungen und Arbeitsuche? Wir erwarten u. a., dass größere Furcht vor Stigmatisierung als „psychisch krank“ sowie geringeres Wissen über psychische Gesundheit und Behandlungsmöglichkeiten die Hilfesuche erschweren.
- Kann ein Gruppenprogramm, das die in Antwort auf Frage 1 identifizierten Faktoren einbezieht, für diese Zielgruppe die Hilfesuche und Arbeitsuche verbessern?
Abschnitte und Durchführung der AloHA-Studie
Zur Beantwortung der ersten Fragestellung verfolgt die Studie zwei Zugangswege. Erstens schilderten in einer qualitativen Studie 15 psychisch belastete Arbeitslose in ausführlichen Einzelinterviews ihre Sicht auf ihre Erkrankung, Behandlungsteilnahme und ihre soziale Situation (Staiger et al. 2017). Die darauffolgende quantitative Studie bestand aus drei Schritten: Screening, Baseline-Interview und erneuter Befragung nach sechs Monaten. Nach dem Screening nahmen 301 psychisch belastete Arbeitslose aus Bayern und Baden-Württemberg an der Baseline-Befragung teil, 90 % davon auch an einem zweiten Interview nach 6 Monaten.
In beiden Studien wurde die Rekrutierung der Studienteilnehmer unterstützt durch den Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit, die beiden Regionaldirektionen, das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg und das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, sowie vor Ort durch die Agenturen für Arbeit, Jobcenter und zugelassenen kommunalen Träger ermöglicht. Alle Teilnehmer der quantitativen Studie waren zwischen 18 und 64 Jahre alt, erhielten keine volle Erwerbsminderungsrente und waren aktuell ohne Arbeit (d. h. ohne bezahlte Tätigkeit oder mit einer Arbeit unter 15 Wochenstunden bzw. höchstens 450 Euro Monatslohn). Alle Teilnehmer erfüllten zusätzlich sowohl standardisierte Kriterien psychischer Symptombelastung als auch krankheitsbedingter Beeinträchtigung (für Details der Grenzwerte und Messinstrumente siehe Oexle et al. 2017). Tabelle 1 gibt einen Überblick zu Eigenschaften der Studienteilnehmer, deren aktuelle Arbeitslosigkeit durchschnittlich drei Jahre andauerte. Rund zwei Drittel bezogen Arbeitslosengeld II. Der durchschnittliche Beeinträchtigungsgrad nach dem Instrument der WHO war hoch ausgeprägt und lag über der 95. Perzentile in Bezug auf Menschen mit einer psychischen Erkrankung.
Ergebnisse der qualitativen Studie
Die befragten Arbeitslosen schilderten, dass sie von ihrem sozialen Umfeld ebenso wie von im Gesundheitssystem Tätigen als „anders“ behandelt wurden, was ihr Selbstwertgefühl minderte und die Aufnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe erschwerte (Staiger et al. 2017). Viele empfanden das Aufsuchen von Hilfe auch als Zeichen von Schwäche und vermieden es deshalb. Andere hatten Angst, von psychiatrischen Medikamenten abhängig zu werden. Hilfesuche wurde andererseits erleichtert durch soziale Unterstützung und durch den Entschluss, das eigene Leben zu verändern (Staiger et al. 2017). Es scheint also in den Bereichen Wissen (z. B. über Medikamente), Stigma (unfaire Behandlung) und Strukturen des Gesundheitssystems (auch im hausärztlichen Bereich) aus Sicht Betroffener Verbesserungspotenzial zu geben.
Ergebnisse der quantitativen Studie
Die Daten der quantitativen Studie werden derzeit ausgewertet. Rund 1/7 war nach sechs Monaten nicht mehr ohne Arbeit im Sinne der oben genannten Kriterien. Es deuten sich Befunde zum Zusammenhang besseren Wissens über psychische Gesundheit und Behandlungsmöglichkeiten (sog. Mental Health Literacy) sowie höherer Behandlungsteilnahme (Waldmann et al., in Vorbereitung) an. Ferner scheint die Chance, wieder Arbeit zu finden, nicht nur mit Aktivitäten der Arbeitsuche und dem Beeinträchtigungsgrad im Zusammenhang zu stehen, sondern auch mit der Einstellung zur Offenlegung eigener psychischer Belastung gegenüber künftigen Arbeitgebern (Rüsch et al., in Vorbereitung).
Interventionsstudie
In diesem Sinne war es das Ziel der Studie, zusätzlich zum Verständnis und zur Interpretation der oben skizzierten Zusammenhänge eine Intervention zu entwickeln und zu evaluieren, die Arbeitslose mit psychischen Belastungen unterstützt. Sie soll es den Teilnehmern ermöglichen, ihren Standpunkt und ihre persönlichen Werte zu reflektieren und auf dieser Basis wieder aktiv zu werden, u.a. im Hinblick auf Behandlungsteilnahme, Arbeitsuche und die Entscheidung über Offenlegung der eigenen Erkrankung. Auch Informationen zu Hilfs- und Beratungsangeboten sollen orientierend vermittelt werden. Zur Vorbereitung des Gruppenprogramms wurden mit Teilnehmern der quantitativen Studie zunächst vier Fokusgruppen durchgeführt, in denen sie nach ihrem Unterstützungsbedarf und für sie zentralen Themen gefragt wurden. Auf dieser Basis und in Rückgriff sowohl auf Konzepte der Acceptance and Commitment Therapy (ACT) nach Hayes als auch eines Programms zum Thema Offenlegung psychischer Erkrankungen („In Würde zu sich stehen“) wurde ein kompaktes Gruppenprogramm mit vier Sitzungen entwickelt. Die Sitzungen werden gemeinsam von einer Psychotherapeutin und einer Person mit eigener Erfahrung psychischer Erkrankung und Arbeitslosigkeit (sog. Peer) geleitet. Derzeit läuft eine randomisiert-kontrollierte Pilot-Studie in der Region Ulm/Neu-Ulm, um die Durchführbarkeit und Wirksamkeit des Programms zu evaluieren [ISRCTN38560825]. Ergebnisse werden für 2018 erwartet.
Literatur
Brand J: The far-reaching impact of job loss and unemployment. Annu Rev Sociol 2015; 41: 359–375.
Bühler B, Kocalevent R, Berger R, Mahler A, Preiss B, Liwowsky I, Carl P, Hegerl U: Versorgungssituation von Langzeitarbeitslosen mit psychischen Störungen. Nervenarzt 2013; 5: 603–607.
Moore T, Kapur N, Hawton K, Richards A, Metcalfe C, Gunnell D: Interventions to reduce the impact of unemployment and economic hardship on mental health in the general population: a systematic review. Psychol Med 2017; 6: 1062–1084.
Oexle N, Waldmann T, Staiger T, Xu Z, Rüsch N: Mental illness stigma and suicidality: the role of public and individual stigma. Epidemiol Psychiatr Sci 2017 (published online); doi: 10.1017/S2045796016000949
Reissner V, Scherbaum N, Wiltfang J, Kis B, Meiler B, Lieb B, Mikoteit T, Ehren G, Hebebrand J: Psychiatrische Interventionen für Arbeitslose. Nervenarzt 2016; 1: 74–81.
Schubert M, Parthier K, Kupka P, Krüger U, Holke J, Fuchs P: IAB Forschungsbericht – Menschen mit psychischen Störungen im SGB II. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, 2013.
Staiger T, Waldmann T, Rüsch N, Krumm S: Barriers and facilitators of help-seeking among unemployed persons with mental health problems: a qualitative study. BMC Health Serv Res 2017; 1: 39
Koautoren
Mitautoren des Beitrags sind Tobias Staiger, Tamara Waldmann und Thomas Becker, alle Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am BKH Günzburg
Für die Autoren
Prof. Dr. med. Nicolas Rüsch, MSt
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II
der Universität Ulm am BKH Günzburg
Sektion Public Mental Health
Parkstr. 11 – 89073 Ulm